Analyse

Börsen im Bewertungstest: Wo es noch günstige Aktien gibt

Russlands Krieg, die hohe Inflation und die entschlossene US-Notenbank sorgen für Verunsicherung. Derweil schwächt sich die Konjunktur ab. Anlass genug, einen frischen Blick auf die Bewertungen der wichtigsten Aktienindizes zu werfen.

Sandro Rosa
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Die Marktteilnehmer müssen sich definitiv vom Goldilock-Szenario verabschieden. Es beschreibt eine Weltwirtschaft mit einem Wachstum, das gerade richtig ist – weder zu hoch noch zu niedrig –, und einer gedämpften Inflation, die es den Notenbanken erlaubt, die Zinsen niedrig zu halten.

Schon seit einigen Monaten macht sowohl den Konsumenten als auch den Unternehmen eine hartnäckig hohe Inflation zu schaffen, die durch den russischen Krieg noch verschärft wurde. Denn die blockierten Lieferwege und die Wirtschaftssanktionen haben die Rohstoffpreise zusätzlich befeuert. In den USA sind die Konsumentenpreise im Februar im Jahresvergleich zuletzt um heftige 7,9% gestiegen (heute Dienstag werden die Inflationszahlen für den März veröffentlicht), in Europa um 7,5%. Auch in der Schweiz haben sie um 2,4% zugelegt.

Weniger Wachstum, mehr Inflation

Gleichzeitig schwächt sich die Konjunktur ab. Die OECD schätzt, dass der Krieg vor allem aufgrund höherer Rohstoffpreise und wegen Lieferkettenunterbrechungen das weltweite Wachstum in diesem Jahr um 1,1 Prozentpunkte auf 3,4% schmälern könnte, wobei die Eurozone besonders betroffen sein wird. Gleichzeitig dürfte die Inflation global 2,5 Prozentpunkte höher ausfallen als zuvor erwartet.

Vor diesem Hintergrund können die Währungshüter – allen voran die US-Notenbank Fed – mit einer geldpolitischen Straffung nicht mehr länger zuwarten. Selbstredend helfen höhere Zinsen nicht, das knappe Angebot auszuweiten oder gestörte Lieferketten zu reparieren. Das Ziel ist vielmehr, die Nachfrage zu dämpfen, um zu vermeiden, dass die Inflationserwartungen der Konsumenten aus dem Ruder laufen und eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt. Diverse Fed-Notenbankgouverneure haben sich dahingehend geäussert, dass es das vorrangige Ziel sei, die Inflation zu bekämpfen. Sogar die als «Taube» bekannte Lael Brainard, die stellvertretende Vorsitzende des Fed, hat zuletzt ausgesprochen «hawkishe» Töne von sich gegeben.

Die Nachricht ist am Bondmarkt angekommen. An den Futures-Märkten ist nun eingepreist, dass das Fed die Leitzinsen in diesem Jahr auf 2,5 bis 2,75% erhöhen wird. 2023 sollen die Zinsen, wenn die Ökonomen von Citigroup recht behalten, 3,75% erreichen. Das ist ein ambitiöser Erhöhungszyklus.

Nicht nur das: Wie das am Mittwoch veröffentlichte Fed-Protokoll belegt, steht schon bald auch die quantitative Straffung (Quantitative Tightening) auf dem Programm, also der Abbau der auf mittlerweile fast 9 Bio. $ angeschwollenen Notenbankbilanz. Damit dürften sich die Finanzierungsbedingungen nochmals deutlich verschlechtern. Wie es aussieht, nehmen die US-Währungshüter für den Kampf gegen die Inflation auch eine Rezession in Kauf.

Das ist ein delikates Umfeld für risikobehaftete Vermögenswerte wie Aktien. Zumal die Gewinnerwartungen nach wie vor sportlich sind. Der Analystenkonsens rechnet für den Weltaktienindex von MSCI (MXWD) für 2022 mit einem Gewinnwachstum von 9%. Angesichts des oben skizzierten Umfelds scheint das Enttäuschungspotenzial – insbesondere für teure Aktienmärkte – beträchtlich. Anleger tun womöglich gut daran, in günstigere Börsen umzuschichten. Ein idealer Anlass also, wieder einmal die globalen Aktienbewertungen unter die Lupe zu nehmen, um die attraktiv bewerteten Märkte zu eruieren.

Was die Bewertungskennzahlen zeigen

Zu diesem Zweck hat The Market knapp dreissig Industrie- und Schwellenländer einem Bewertungstest unterzogen. Da ein direkter Vergleich der Länder wegen der teilweise beträchtlichen Unterschiede in der Sektorzusammensetzung in der Regel wenig sinnvoll ist, wurde die aktuelle Bewertung für jeden Markt mit seiner eigenen Historie verglichen und der sogenannte Perzentilrang ermittelt.

Das klingt komplizierter, als es ist: Um den Perzentilrang zu bestimmen, ordnet man alle Bewertungskennzahlen der Reihe nach und schaut, an welcher Stelle sich der heutige Wert befindet.

Ein Beispiel: Für den MSCI Switzerland bewegte sich das über den Konjunkturzyklus geglättete Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV, siehe Erklärung am Ende des Artikels) in der Vergangenheit zwischen 8,5 und 57,8. Ordnet man nun alle seit 1982 monatlich verfügbaren Bewertungszahlen aufsteigend an, kommt der aktuelle Wert von knapp etwas über 29 auf Rang 387 von 483 zu liegen. Mit anderen Worten: In 386 Monaten, oder in 80% der Fälle (386/483 = 80%), war die Bewertung niedriger als heute, in bloss 20% war sie höher. Damit ist der hiesige Markt auf Basis dieser Kennzahl sportlich bewertet. Das Ganze wird für die dreissig wichtigsten Aktienindizes und für verschiedene Bewertungsmasse gemacht.

USA und Niederlande sind stolz bewertet

Wie sieht das Resultat aus? Auf Basis des Shiller-KGV ist beispielsweise Taiwan der teuerste Markt, das Shiller-KGV erreicht das 91. Perzentil. Dicht dahinter folgen die Handelsplätze in den USA und in den Niederlanden sowie in Indien und der Schweiz, wo das Bewertungsmass ebenfalls deutlich erhöht ist.

Durch eine attraktive Bewertung bestechen die Börsenbarometer in China (10. Perzentil), Japan (12. Perzentil), Polen (14. Perzentil) und in der Türkei (15. Perzentil), die klar unter ihrem Durchschnitt liegen (vgl. die blauen Balken in der Grafik oben).

Das gleiche Vorgehen wurde auf vier weitere Bewertungskennzahlen angewendet: auf das vorwärtsgerichtete KGV, das Kurs-Umsatz-Verhältnis, das Kurs-Buchwert-Verhältnis sowie die Dividendenrendite (siehe Erklärung am Ende des Artikels). Bei allen gilt: Je höher der entsprechende Perzentilrang – er bewegt sich zwischen 0 und 100 –, desto unattraktiver ist die Bewertung.

Brasilien lockt mit üppigen Dividendenausschüttungen

Wie bereits im Januar enttäuschen bei den Dividenden wiederum die Niederlande und die USA mit einer mageren Ausschüttung (violette Balken). Die historische Dividendenrendite für den MSCI USA ist zwar etwas gestiegen, erreicht aber dennoch bloss mickrige 1,37%. Nach dem kräftigen Anstieg seit Jahresbeginn werfen zehnjährige Staatsanleihen (2,75%) eine merklich höhere Rendite ab. Der Vergleich mit den Renditen auf inflationsgeschützte Anleihen fällt allerdings immer noch vorteilhaft aus: Sie liegen aktuell bei –0,12%.

Die für 2022 geschätzte US-Dividendenrendite fällt mit 1,4% ebenfalls nicht besonders üppig aus. Auch der niederländische Index bietet einen wenig berauschenden Ertrag von 1,6%.

Wer ansprechende Ausschüttungen sucht, muss sich in Schwellenländern umsehen. Noch immer lockt die brasilianische Börse mit einer üppigen Rendite von mehr als 7,5% – und das, obwohl der Markt entgegen dem globalen Trend seit Jahresbeginn kräftig zugelegt hat. Im historischen Vergleich ebenfalls generöse Ausschüttungen versprechen der mexikanische und der türkische Markt. Doch aufgepasst: Eine hohe Dividendenrendite kann trügerisch sein. Im Januar gehörten russische Aktien mit einer Rendite von fast 6% zu den Dividendenkönigen. Seit der Westen als Antwort auf den Angriffskrieg Sanktionen beschlossen hat, sind sie jedoch nicht mehr handelbar.

Wer aus Risikoüberlegungen deshalb lieber in Industrieländern investiert, mag einen Blick auf die Indizes in Australien, dem Vereinigten Königreich und in Italien werfen, die positiv hervorstechen. Schwedische und spanische Valoren werfen ebenfalls eine respektable Rendite von über 3% ab.

Türkische Aktien bleiben günstig

Angesichts der vielen Bewertungskennzahlen kann indes rasch die Übersicht verloren gehen. Abhilfe schafft die Aggregation in ein Gesamtmass. Dabei zeigt sich, dass die Aktienmärkte der Niederlande, der USA und Indiens im internationalen Vergleich wie bereits im Januar am schlechtesten abschneiden – ihre Gesamtbewertung bewegt sich um das hohe 90. Perzentil (das grosse Gewicht der USA im Weltaktien- und im Industrieländerindex von 60 resp. fast 70% beeinflusst deren Bewertung massgeblich).

Etwas weniger teuer, aber ebenfalls unattraktiv bewertet sind Aktien aus Singapur und der Schweiz, die im oberen Drittel der Bewertungsrangliste notieren. Beide liegen im 78. Perzentil.

Schwellenländer vermögen zu überzeugen

Immerhin dreizehn Börsen weisen eine Bewertung auf, die unter dem Median (dem 50. Perzentilrang) liegt und somit günstig ist. Darunter finden sich überdurchschnittlich viele Schwellenländer. Im Vergleich zu ihrer eigenen Historie schneiden insbesondere die Türkei, Polen, China und Südafrika erfreulich ab.

Kein Wunder, nach dem russischen Angriffskrieg und Chinas regulatorischen Massnahmen gegen Internet- und Immobilienkonzerne sowie angesichts der gescheiterten Null-Covid-Strategie Pekings haben sich viele Marktteilnehmer enttäuscht aus Schwellenländern verabschiedet. Das lässt sich schön an den Positionierungsdaten der US-Aufsichtsbehörde Commodity Futures Trading Commission ablesen: Gemäss den aktuellen Zahlen sind Hedge Funds so pessimistisch für den MSCI Emerging Markets wie nie seit mindestens 2011.

Der mit Abstand günstigste Handelsplatz bleibt die Türkei mit einem Gesamtwert von 14. Anfang Januar lag der Score bei 19 – der Markt ist also nochmals günstiger geworden, obwohl türkische Valoren zu den wenigen zählen, die heuer im Plus notieren. In Franken hat der MSCI Turkey 2022 rund 19% zugelegt, in Lira resultiert ein Plus von nicht ganz 30%.

Noch besser ist es Schweizer Anlegern ergangen, die in brasilianische Titel investiert haben. In Lokalwährung haben sie 13% und in Franken sogar 37% zugelegt. Nach diesem Spurt hat sich die Bewertung allerdings normalisiert, der Gesamtscore des MSCI Brazil von 49 liegt mittlerweile ziemlich genau auf dem Medianwert. Das heisst, rund die Hälfte der in der Vergangenheit beobachteten Bewertungen liegt über dem heutigen Wert, die andere darunter.

Unter den Industrieländern sticht insbesondere Japan hervor, dahinter folgen Hongkong, Italien und Spanien, die ebenfalls mit einer vergleichsweise ansprechenden Bewertung aufwarten.


Die Bewertungskennzahlen kurz erklärt:

Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
Die wohl populärste Bewertungskennzahl ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es setzt den Aktienkurs ins Verhältnis zum Gewinn eines Unternehmens. Handelt eine Aktie an der Börse beispielsweise zu einem Preis von 115.50 Fr., und der Gewinn pro Titel beläuft sich auf 7 Fr., resultiert ein KGV von 16,5.

Typischerweise unterscheidet man zwischen dem historischen und dem vorwärtsgerichteten KGV: Beim historischen wird der zuletzt erwirtschaftete Unternehmenserlös verwendet, beim vorwärtsgerichteten fliesst der (üblicherweise von Analysten) geschätzte Gewinn in die Berechnung ein.

Vereinfacht gesagt gilt, je höher das KGV, desto unattraktiver ist die Bewertung. Allerdings funktioniert das KGV schlecht, wenn der Gewinn sehr rasch wächst. Auch sagt die Kennzahl nichts darüber aus, wie gross das Risiko eines Gewinneinbruchs ist.

Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV)
Anders als das klassische KGV vergleicht das Shiller-KGV den aktuellen Preis einer Aktie oder eines Index mit den durchschnittlichen, inflationsbereinigten Gewinnen der vergangenen Dekade. Damit werden die Gewinnschwankungen der einzelnen Jahre normalisiert, was zu einem stabileren und verlässlicheren Bewertungsmass führt. Wie für das traditionelle KGV gilt auch für das Shiller-KGV: Je niedriger es ist, desto günstiger ist eine Aktie und desto grösser typischerweise das Kurspotenzial für die kommenden Jahre.

Dividendenrendite
Die Dividendenrendite zeigt die ausgeschüttete Dividende im Verhältnis zum Aktienkurs. Je höher die Dividendenrendite, desto attraktiver scheint eine Aktie. Vielen Anlegern ist eine hohe Ausschüttung wichtig, da sie für einen stetigen Liquiditätsfluss sorgt. Allerdings kann eine allzu hohe Rendite auch signalisieren, dass eine Firma in Schieflage geraten ist, da die Rendite automatisch steigt, wenn der Aktienkurs einbricht. Dann steht oft eine Kürzung bevor. Wichtiger als ihre absolute Höhe ist deshalb oftmals, dass die Ausschüttung stetig steigt. Da nicht alle Unternehmen eine Dividende entrichten, funktioniert dieser Indikator nicht immer.

Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Ein klassisches Bewertungskriterium ist das KBV, das auf Benjamin Graham, den Übervater der Value-Anleger, zurückgeht. Hierbei wird der Aktienkurs mit dem bilanzierten Eigenkapital verglichen. Je höher das KBV, desto unattraktiver die Bewertung. Da der Buchwert in der Regel positiv ist, kann das Mass auch dann verwendet werden, wenn ein Unternehmen keinen Gewinn schreibt. Allerdings ist der Buchwert nicht immer ein verlässliches Abbild des «wahren» Unternehmenswerts, da er immaterielle Werte wie Patente oder Know-how nur unzulänglich erfasst (speziell bei IT- und Pharmagesellschaften).

Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV)
Das KUV setzt die aktuelle Marktkapitalisierung eines Unternehmens ins Verhältnis zum Umsatz des letzten (Geschäfts-)Jahres. Obschon es sich um ein krudes Mass handelt – es ignoriert zum Beispiel die Profitabilität –, hat es seine Daseinsberechtigung. So ist der Umsatz deutlich weniger anfällig für Manipulationen als Gewinn und Buchwert. Wie das KBV lässt sich die Bewertungskennzahl auch für Gesellschaften berechnen, die Verlust schreiben. Ein Unternehmen, das ohne Rücksicht auf die Kosten einen möglichst hohen Umsatz anstrebt, kann allerdings auf Basis des KUV zu günstig aussehen.