Vierteljährlich sucht The Market die wichtigsten Börsen nach Titeln mit hohem Momentum ab. Das dominierende Narrativ ist das Eintreten einer Stagflation.
Die Siebzigerjahre sind zurück, und das ganz offiziell. Inzwischen warnt auch die Weltbank vor einer globalen Stagflation. Die Kombination aus schwachem Wachstum und hoher Inflation sorgte vor einem halben Jahrhundert für ein verlorenes Jahrzehnt an den Aktien- und den Anleihenmärkten und setzt die Börsen auch heuer unter Druck.
Unter der Oberfläche der marktbreiten Indizes gab es damals aber durchaus Gewinner, vor allem aus dem Rohstoffbereich, die mit stattlichen Kursavancen glänzen konnten. So ist es auch jetzt wieder, wie die Rangliste der stärksten Aktien der Welt zeigt, die The Market vierteljährlich erhebt.
The Market rangiert die rund 1300 Titel, die im amerikanischen S&P 500, im europäischen Stoxx Europe 600 und im heimischen SPI vertreten sind, nach der Kursveränderung über sechs und zwölf Monate. Dies, weil diverse akademische Studien gezeigt haben, dass Valoren, die über diese Perioden gut abgeschnitten haben, auch in den darauffolgenden Monaten die Nase vorn haben. Beide Komponenten erhalten das gleiche Gewicht. Gewinner ist die Aktie mit der im Durchschnitt besten Kursentwicklung.
Die Top 25 sind gespickt mit Öl-, Dünger- und Rüstungsunternehmen (vgl. Tabelle), was angesichts des Ukrainekrieges nicht erstaunt. Nach dem Einmarsch der russischen Truppen ist der Ölpreis kurzzeitig um 40% in die Höhe geschossen. Dünger wird wegen der Sanktionen gegen Russland und Belarus knapp, und weltweit wird kräftig aufgerüstet.
Nur zwei der 25 stärksten Titel stammen nicht aus dem Rohstoff- und dem Rüstungsbereich. Es sind dies der US-Medikamentendistributor McKesson und der Schweizer Haustechniker Meier Tobler, der vom Bauboom profitiert. Dazu kommt, dass Unternehmen mit Fokus auf den Schweizer Markt angesichts der weltweiten Unsicherheiten derzeit gefragt sind.
Auf Rang 26 folgt U-Blox. Das Halbleiterunternehmen vom Zürichsee hat nach Jahren, in denen es immer wieder enttäuscht hatte, jüngst mit einer Anhebung seiner Umsatz- und Margenprognose aufhorchen lassen. Das war allerdings letztes Jahr schon so, worauf prompt die nächste Enttäuschung folgte.
Wegen des daraus resultierenden Vertrauensverlusts sei U-Blox keine Buy-and-Hold-Aktie, «die man immer im Depot halten sollte», schreiben die Analysten von Helvetische Bank. «Diesen Status müsste man sich zuerst wieder erarbeiten – mit einem soliden Track Record über einige Jahre.»
Überhaupt sind Valoren mit hohem Momentum nicht zwingend ein gutes Investment. Vorsicht ist angebracht, wenn sich der Kursauftrieb nach langer Hausse beschleunigt. Identifizieren lassen sich solche Trendakzelerationen mit Bollinger-Bändern (vgl. Erklärung am Ende des Artikels). In einer Beschleunigung – egal, ob auf- oder abwärts – laufen das obere und das untere Band auseinander, es bildet sich eine Blase.
Nach den Verwerfungen der letzten Monate finden sich keine Blasenkandidaten mehr. Ehemalige Highflyer wie ASML oder Alphabet haben korrigiert, und die neuen Börsenlieblinge haben meist noch keinen langen Aufwärtstrend hinter sich, sondern sind im Gegenteil oft Nachzügler, die seit Jahren nicht vom Fleck kommen und deshalb durchaus weiteres Potenzial haben, solange sich der Kurs über seinem steigenden gleitenden Durchschnitt bewegt.
Dazu zählen die Ölförderer, deren wichtigster Treiber der Ölpreis ist. «Nach dem Ausreisser im März setzt sich der Trend im Rohöl-Futures relativ gemächlich fort», sagt der langjährige Marktbeobachter Alfons Cortés (in der Grafik ist der Ausreisser rot markiert). Wendesignale seien keine vorhanden, der Anstieg dürfte sich also fortsetzen.
«Der Energiesektor muss jetzt am 20-Wochen-Bollinger-Band verfolgt werden. Solange dieser Trend intakt ist, sollten Anleger dabeibleiben», empfiehlt Cortés. Die entsprechenden Bänder sind in der Grafik rot hervorgehoben:
Neben den Ölwerten gewinnen auch wenig konjunkturabhängige Bereiche wie Gesundheit an Stärke, was sich mit den Wachstumssorgen der Anleger erklären lässt. Eli Lilly, AstraZeneca, GlaxoSmithKline, Bristol-Myers, Sanofi und Novartis stechen unter den grossen Pharmawerten heraus. Roche ist nach der Enttäuschung wegen der fehlenden Wirksamkeit der Krebstherapie Tiragolumab auf Rang 347 abgerutscht.
Wie die Ölförderer treten allerdings auch viele Pharmaaktien seit Jahren auf der Stelle. So notieren Novartis heute unter dem Stand von 2015. Der Seitwärtstrend lässt sich am 40-Wochen-Bollinger-Band ablesen, das seit Ende 2020 zwischen 85 und 88 Fr. verläuft. Zugreifen könne man, wenn der Kurs das obere Band überwinde, sagt Cortés.
Weil die Notenbanken in einer Stagflation trotz schwächerem Wachstum die Zinsen erhöhen müssen, um den Teuerungsdruck zu bekämpfen, profitieren neben Rohstoff- und defensiven Titeln auch Finanzwerte, weil die Zinsmarge anzieht. Es überrascht deshalb nicht, dass europäische Banken wieder vermehrt Stärke zeigen, hat sich doch nun endlich auch die Europäische Zentralbank zu Zinserhöhungen durchgerungen.
Allerdings verdanken die Bankaktien ihren Aufstieg im Ranking primär dem schwachen Gesamtmarkt, während sie seitwärts bis moderat aufwärts tendieren. Zu den stärksten Namen zählen Banco de Sabadell, Bankinter und CaixaBank aus Spanien, HSBC und Standard Chartered aus Grossbritannien sowie UBS. Kein Thema ist weiterhin Credit Suisse, die auf Rang 1172 von insgesamt 1321 Titeln platziert ist.
Von der Zinsfantasie profitieren auch die Versicherer. Mit Zurich Insurance, Baloise, Swiss Life und Helvetia überzeugen viele heimische Branchenvertreter. «Versicherer sind aber auch in den USA recht gut unterwegs», gibt Cortés zu bedenken. Die Branche werde in der derzeit zu beobachtenden divergenten Marktphase – will heissen: einige Aktien steigen, andere fallen oder tendieren seitwärts, was bei den marktbreiten Indizes für einen richtungslosen Handel sorgt – zu den Gewinnern zählen.
Aus der Bestenliste verschwunden ist der Technologiesektor, was sich auch am Nasdaq 100 ablesen lässt, der nach jahrelanger Dominanz nun den zweitletzten Platz unter den wichtigsten Börsenbarometern belegt. Einzig der Schwellenländerindex von MSCI schneidet noch schlechter ab. Die unter dem Akronym FANGMAN bekannt gewordenen Tech- und Internetgiganten, die die Hausse seit der Finanzkrise angeführt hatten, finden sich nun irgendwo zwischen Rang 360 (Apple) und 1315 (Netflix).
Ist ihre Zeit damit abgelaufen? «Das glaube ich nicht», sagt Cortés. «Ich denke, dass es beim globalen Technologieindex von MSCI etwa 10 bis 12% unter dem aktuellen Niveau zu einer Bodenbildung kommt.» Beim Nasdaq 100 sei das Abwärtsrisiko noch etwas geringer. Die Unterstützungszonen leitet er aus den Bollinger-Bändern über verschiedene Perioden ab, die den Abschwung auffangen sollten.
So verläuft das untere tägliche, wöchentliche und monatliche 20-Perioden-Bollinger-Band beim Nasdaq 100 zwischen 11’600 und 12’000 (vgl. Grafik, sie zeigt das tägliche Band in Orange). In diesen Bereich ist das Barometer nach dem jüngsten Ausverkauf gefallen. Ob Technologiewerte nach erfolgreicher Bodenbildung erneut die Führung übernehmen, muss sich indes erst noch weisen.
Das Konzept geht auf den US-Markttechniker John Bollinger zurück. Die Bänder werden um einen gleitenden Durchschnitt gelegt und erfassen die Volatilität eines Trends. Im Normalfall werden der gleitende Durchschnitt und die Standardabweichung, das statistische Mass für Kursschwankungen, über zwanzig Perioden – seien es Tage, Wochen oder Monate – errechnet.
Das obere Band liegt zwei Standardabweichungen über, das untere zwei Standardabweichungen unter dem gleitenden Durchschnitt. Damit umfassen die Bänder rund 95% aller während der beobachteten Periode bezahlten Kurse. Bollinger-Bänder sind in vielen Chart-Angeboten vorhanden – so zum Beispiel bei finance.yahoo.com.
Diese Angebote ermöglichen ferner, den Kursverlauf als japanischen Kerzen-Chart darzustellen. Im Gegensatz zu einem Linien-Chart, der nur die Schlusskurse miteinander verbindet, zeigen japanische Kerzen Eröffnungs- und Schlusskurs – sie bilden den Körper der Kerze – sowie Höchst- und Tiefstkurs, den Schatten (siehe Grafik weiter unten). Weiss oder grün ist die Kerze, wenn der Schluss- über dem Eröffnungskurs liegt. Schwarz oder je nach Anbieter auch blau oder rot ist sie, wenn der Schluss- unter dem Eröffnungskurs liegt.
Kerzen enthalten wertvolle Informationen zum Momentum eines Titels. Grosse weisse Kerzen ohne Schatten stehen für einen stabilen Aufwärtstrend. Eine Kerze fast ohne Körper, aber mit langem Schatten kann nach einer Hausse auf eine Ermüdung hinweisen.
Besonders spannend ist die Kombination aus Kerzen-Charts und Bollinger-Bändern, wenn Letztere nach längerer Konsolidierung eng beisammen sind und eine grosse grüne oder weisse Kerze den Ausbruch nach oben signalisiert – wie das beim Aktienkurs von Zehnder der Fall war, der im Dezember 2020 seinen rund achtjährigen Seitwärtstrend nach oben verlassen hat.
Um den Tageslärm auszublenden, setzt Alfons Cortés auf Monats- und Wochendaten. Damit bestimmt er den lang- und den mittelfristigen Trend. Tagesdaten benutzt er einzig zum Timing des Ein- und des Ausstiegs.
Die Anzahl Perioden ergibt sich aus der Historie eines Titels. Zur Beantwortung spezifischer Fragen verwendet Cortés den gleitenden Durchschnitt über zehn Monate zusammen mit Bollinger-Bändern, die 1,9 Standardabweichungen um den Schnitt gelegt werden, sowie 40-Monats-Bänder. So hilft ihm der Zehnmonatsschnitt bei der Bestimmung des Abwärtsrisikos für Aktien, die nach einer Blasenbildung konsolidieren. Der Vierzigmonatsschnitt kommt bei einer aus dem Nichts aufgetretenen Korrektur zum Einsatz, um nicht überstürzt zu handeln und im dümmsten Zeitpunkt verkaufen zu müssen.
Mehr zur Verwendung der Bollinger-Bänder erfahren Sie hier.