Analyse

Decentralized Finance: Disruption der Finanzwelt oder Schall und Rauch?

Krypto-Enthusiasten träumen von einem dezentralen Finanzsystem, welches das traditionelle Finanzwesen einst ablösen könnte. Während die Idee durchaus ernst genommen wird, ist der Weg dorthin noch weit.

Henning Hölder
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«Decentralized Finance könnte das derzeitige Finanzsystem auf den Kopf stellen – so wie das Internet das Zeitungswesen, Ridesharing-Unternehmen die Taxibranche oder E-Commerce den Detailhandel disruptiert hat.» Das sagt nicht irgendein Krypto-Bulle, der mit Krypto-Projekten Geld verdienen will, sondern Jim Bianco, einer der profiliertesten Marktstrategen der USA.

Unter dem Schlagwort Decentralized Finance, kurz DeFi, wird in Krypto-Kreisen seit vielen Jahren das Konzept eines alternativen dezentralen Finanzsystems diskutiert, das im Idealfall ohne Intermediäre wie Banken oder Versicherer auskommt. Zu Beginn noch ein exklusives Thema für Krypto-Enthusiasten und Tech-Nerds, interessieren sich mittlerweile auch zunehmend Akteure der traditionellen Finanzwelt für das Thema.

Die Idee von DeFi geht bis 2008 zurück, als im Zug der globalen Finanzkrise ein unbekannter Autor (oder ein Autorenkollektiv), genannt Satoshi Nakamoto, die erste Kryptowährung Bitcoin ins Leben gerufen hat. Vereinfacht gesagt macht die Bitcoin-Blockchain nichts anderes, als Zahlen- und Buchstabenkombinationen von A nach B zu schicken. «Dieser Softwarecode zeigte erstmals, dass man alle Probleme im Zahlungsverkehr ohne einen Intermediär lösen kann», sagt Guido Zimmermann, Krypto-Experte und Senior Economist bei der Landesbank Baden-Württemberg LBBW.

Bitcoin wenig geeignet für dezentrale Finanztransaktionen

Zwar hat sich Bitcoin in den letzten Jahren zu einem digitalen Wertspeicher entwickelt (Stichwort: digitales Gold). An ein vollumfängliches Zahlungssystem ist bei Bitcoin allerdings kaum zu denken. Denn die Blockchain, die hinter dem «Krypto-Urgestein» steht, hat ein Problem: Sie ist langsam und extrem ineffizient. Ihr Konsensverfahren beruht auf dem so genannten Proof-of-Work-Mechanismus (mehr dazu hier). Dabei wird, vereinfacht gesagt, durch das Lösen von komplizierten Rechenaufgaben die Blockchain aufgebaut und am Laufen gehalten. Das kostet nicht nur Zeit, sondern auch viel Energie.

Zudem hat die Bitcoin-Blockchain noch einen weiteren Nachteil, der sie als dezentrale Basis eines neuen alternativen Finanzwesens ungeeignet macht: Es lassen sich auf ihr keine automatisierten Verträge abschliessen – zumindest nicht in ausreichend hoher Geschwindigkeit. «Bitcoin ist grundsätzlich eine geniale Innovation, doch es ist wie damals bei der Erfindung des ersten Autos: Es ist langsam, technisch unausgereift und es fehlen einige Funktionen», beschreibt Zimmermann die Problematik.

Ethereum als Basis für DeFi

Die Bitcoin-Defizite hat der kanadisch-russische Softwareentwickler Vitalik Buterin erkannt und Ende 2013 mit seinem Whitepaper «Ethereum: A Next Generation Smart Contract & Decentralized Application Platform» die Basis für ein Netzwerk gelegt, das sich, Stand jetzt, als führende Infrastruktur für DeFi-Anwendungen durchgesetzt hat. Die Ethereum-Blockchain, die 2015 online ging, haben Buterin und sein Team von Beginn an für die Nutzung von sogenannten Smart Contracts optimiert.

Bei Smart Contracts handelt es sich um «intelligente» digitale Verträge, deren Abschluss Mittelsmänner in Form einer Bank oder eines Notars obsolet macht. Die Vertragsbedingungen zwischen den Parteien werden bei diesen selbstausführenden Verträgen direkt in Codezeilen geschrieben. Werden die im Vornherein festgelegten Vertragsbedingungen erfüllt, veranlasst der Algorithmus automatisch eine Transaktion.

Solche intelligenten Verträge gelten als eine der attraktivsten Komponenten der Blockchain-Technologie, weil sie komplexe Abläufe bei Finanzdienstleistungen wie etwa im Banken-, Immobilien- oder Versicherungsgeschäft deutlich beschleunigen können. Sie übernehmen dabei die Rolle als Vermittler, die sonst Banken, Clearing-Stellen, Notare oder Treuhänder übernehmen, und gewährleisten, dass Transaktionen sicher und vor allem transparent ausgeführt werden.

Die führende Position von Ethereum als Blockchain für dezentrale Finanzanwendungen spiegelt sich auch in der Wertentwicklung der dem Netzwerk zugrundeliegenden Kryptowährung Ether. Mit einer Marktkapitalisierung von knapp 200 Mrd. $ ist sie nach Bitcoin die zweitgrösste Cyberwährung.

Anwendungsfälle von DeFi

Das Spektrum, in dem DeFi und Smart Contracts sinnvoll angewendet werden und die Prozesse erleichtern können, ist gross. So kann jeder Mensch, egal wie reich er ist oder wo er wohnt, unkompliziert Geld leihen oder verleihen, ohne dafür über ein Bankkonto zu verfügen. Versicherungen könnten komplexe Prämienmodelle automatisieren, in Hotels könnten Computerprogramme das Schloss einer Zimmertür automatisch freischalten, sobald ein Gast die Kosten für die Übernachtung überwiesen hat – und zwar ohne ein dazwischengeschaltetes Geldhaus.

Schon heute existieren zahlreiche dezentrale Finanzanwendungen – auch dezentrale Applikationen, oder kurz dApps genannt. Sie liegen als Gefüge von Smart Contracts auf Blockchains, meist auf dem Ethereum-Netzwerk, und sind nach Belieben programmierbar. Das heisst, deren verschiedene Elemente lassen sich wie ein Baukasten je nach Bedarf zusammensetzen. Einmal auf der Blockchain implementiert, laufen dApps dezentral und unabhängig.

Die gängigsten der heutigen DeFi-Anwendungen umfassen Dienstleistungen wie das Verleihen und Ausleihen von Kryptowährungen (Lending & Borrowing), den Handel von digitalen Vermögenswerten auf dezentralen Börsen – wie zum Beispiel auf der Ethereum-basierten Börse Uniswap – oder Staking.

Bei Letzterem stellen Krypto-Investoren ihre Kryptowährungen für die Validierung neuer Datenblöcke auf einer Blockchain zur Verfügung, und erhalten im Gegenzug eine Belohnung. Allerdings: Vieles spielt sich derzeit noch weitestgehend im unregulierten Rahmen und teilweise in Wild-West-Manier ab und ist in vielen Fällen nicht 100% dezentral.

DeFi als Konkurrenz zum traditionellen Finanzwesen?

Für Zimmermann bietet die Grundidee von DeFi dennoch zwei grundlegende Vorteile. Erstens senke es die Kosten der Verifizierung von Daten massiv. Das wird in der traditionellen Finanzwelt noch von Intermediären erledigt. Zweitens sinken die Kosten der Netzwerkbildung. «In einer globalen Welt ist eine öffentlich zugängliche Datenbank sinnvoll, auf die jeder zugreifen kann und auf der der Datenaustausch von Computerprogrammen übernommen wird.» Dabei könnte in Zukunft jeder Vermögenswert digital auf einer Blockchain gespeichert werden, Stichwort Tokenisierung.

Doch kann daraus einst tatsächlich ein Finanzsystem erwachsen, das dem traditionellen Finanzwesen Konkurrenz macht? Potenzial für Verbesserungen ist jedenfalls vorhanden. «Das zentrale Bankensystem leidet unter einem IT-Chaos», sagt Zimmermann. «Wir haben unterschiedliche Systeme, die kaum miteinander kompatibel sind.» Will heissen, das Bankensystem ist ein Wildwuchs an unterschiedlichen IT-Silos, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Das Ethereum-Netzwerk könnte hier de facto als weltweite Bankenplattform mit wenigen einfachen Standards fungieren.

Noch hat der DeFi-Sektor jedoch nur eine geringe Relevanz für die Finanzwirtschaft. Die Summen, die mithilfe von DeFi verwaltet werden, sind zuletzt sogar deutlich gesunken. Der sogenannte Total Value Locked (TVL) – dieser beschreibt den Gesamtwert aller eingeschlossenen Werte in einem DeFi-Protokoll – beläuft sich Ende August gemäss dem Statistikanbieter DefiLlama auf rund 38 Mrd. $ – mehr als die Hälfte davon (22 Mrd. $) befindet sich in DeFi-Projekten, die auf dem Ethereum-Netzwerk laufen.

Das ist weit weniger als während des «Krypto-Sommers» 2021, als der TVL auf bis zu 175 Mrd. $ in die Höhe geschnellt war, aber noch immer deutlich mehr im Vergleich zur Vorpandemiezeit. Bevor die Notenbanken den Markt zur Bekämpfung der Folgen des Coronavirus mit billigem Geld fluteten und niedrige Zinsen die Spekulationen in Risk Assets anheizten, waren nicht einmal 1 Mrd. $ an Vermögenswerten in DeFi-Protokollen eingeschlossen.

Von einer Ablösung der traditionellen Kernbankensysteme durch DeFi, die sich viele Krypto-Enthusiasten in einer «idealen Welt» wünschen, kann also noch lange nicht die Rede sein. Das ist für Zimmermann aber auch weder ein realistisches noch ein wünschenswertes Szenario. Vielmehr gehe es um die Frage, wie der Finanzsektor an die neue DeFi-Welt andocken könne. «Ich rechne damit, dass der traditionelle Finanzsektor nützliche Konzepte aus der DeFi-Welt aufnehmen wird.»

Statt einer umfassenden Disruption des Finanzwesen sei es wahrscheinlich, dass beide Finanzwelten zunehmend miteinander kooperieren – allerdings in einem klar definierten regulatorischen Rahmen. Letzteres dürfte nötig sein, um das grosse institutionelle Geld anzulocken.