Der Versicherer handelt mit einem zu hohen Abschlag zum Buchwert, sind sich etliche von The Market befragte Investoren einig. Die Titel sind ein Kauf.
Die Aktien von Schweizer Erstversicherungen kommen seit dem Coronaschock nicht mehr vom Fleck. Während sich die Titel vieler Unternehmen aus anderen Branchen zügig vom Ausverkauf Mitte März erholt haben, dümpeln die Valoren der hiesigen Assekuranz unter dem Vorkrisenniveau vor sich hin, sowohl was den Kurs als auch die Bewertung anbelangt.
Dass die Investoren gegenwärtig einen Bogen um die Werte machen, hat gute Gründe. So lässt sich schwer abschätzen, welche Schadenzahlungen wegen der Coronakrise noch auf die Versicherer zukommen werden und wie sich das Prämienvolumen angesichts der konjunkturellen Herausforderungen entwickelt. Auch Verluste auf der Anlageseite werden befürchtet.
Dennoch gibt es innerhalb der Branche markante Bewertungsunterschiede. Besonders stark getroffen hat es die Aktien von Helvetia 📈. Mit einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von 0,7 handeln sie zu einem Diskont von 35% zum Fünfjahresdurchschnitt und sind damit günstiger als Vaudoise, Baloise, Swiss Life oder Zurich Insurance, Letztere weisen gar eine Prämie auf. Die Dividendenrendite von Helvetia basierend auf der Schätzung für 2020 beträgt 6,6%. Die meisten anderen Schweizer Werte rentieren weniger.
Sind die Valoren von Helvetia also ein Schnäppchen, oder ist die Aversion der Anleger berechtigt und Helvetia damit eine Value-Falle?
Zur Beantwortung der Frage lohnt sich zunächst der Blick auf das Geschäftsprofil des Unternehmens.
Helvetia erzielte im ersten Halbjahr 2020 mehr als 56% ihres Geschäftsvolumens – bestehend aus Bruttoprämien plus Depoteinlagen im Lebengeschäft – von 5,7 Mrd. Fr. in der Schweiz. Der Rest stammt aus Europa und da vor allem aus Spanien, Italien, Österreich und Deutschland. Ende 2019 war die Aufteilung in etwa ähnlich. Damals belief sich das Geschäftsvolumen auf 9,4 Mrd. Fr.
Der hiesige Markt für Versicherungen ist zwar weitgehend gesättigt. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass er in den nächsten Jahren erodiert. Eine Herausforderung sind digitale Angebote. Helvetia mischt in dieser Nische mit ihrem Online-Versicherer Smile jedoch selbst mit. Ausserdem gelten Schweizer Kunden im Vergleich zu europäischen als äusserst treu.
Im Rest von Europa ist weiterhin mit einem strukturellen Wachstumstrend zu rechnen, auch wenn Covid-19 allenfalls einen temporären Effekt auf das Prämienvolumen haben wird.
Helvetia bewegt sich also insgesamt in stabilen Märkten – mit Ausnahme von Spanien und Italien, wo die Wirtschaft schon lange angeschlagen ist. Spaniens Anteil am Geschäftsvolumen dürfte im zweiten Halbjahr zudem deutlich zunehmen, weil Helvetia Anfang Jahr für 866 Mio. Fr. den spanischen Versicherer Caser akquiriert hat. Er hat im ersten Halbjahr ungefähr 660 Mio. € Umsatz erzielt.
Helvetia hat zudem die Kosten im Griff, was auf eine gute Marktposition schliessen lässt. So weist sie im Nicht-Leben-Bereich mit 92% eine bessere durchschnittliche Schaden-Kosten-Quote auf als die Konkurrenz (vgl. Grafik). Die Kennzahl setzt Aufwendungen für Schäden, Kundenakquise und Verwaltung in Relation zu den verdienten Prämien.
Caser wird die vorteilhafte Kostenstruktur voraussichtlich nicht schwächen, im Gegenteil: Die Spanier erzielten im ersten Halbjahr eine noch tiefere Quote von 90,3%. Auch um im Zusammenhang mit Covid-19 freiwillig geleistete Schadenzahlungen bereinigt liegt die Quote von Helvetia bei vergleichsweise tiefen 91,5%.
Eine weitere Kennzahl, die auf eine gute Positionierung im Markt hindeutet, ist die Rendite auf das investierte Kapital. Weil jeder Versicherer die Ratio etwas anders berechnet, ist der Vergleich mit der Konkurrenz schwierig. Doch Helvetia ist es gelungen, die Rentabilität in den letzten fünf Jahren um 3,2 Prozentpunkte auf 9,3% zu steigern. Auch diese Ampel steht also auf Grün.
Die Wertschriften, mit denen Versicherer einen Teil ihres Ertrags erwirtschaften, sind zwar teilweise im riskanteren Bereich angelegt. Wegen der Caser-Akquisition ist Spanien noch vor der Schweiz zur grössten Gegenpartei geworden. Der Anteil an Bonds mit einem Rating von BBB und tiefer macht 30% des Anleihenbestands aus. Die Quote liegt jedoch immer noch im tolerierbaren Rahmen bzw. schlägt im Konkurrenzvergleich nicht nach oben aus. ZKB-Analyst Georg Marti, der die Aktien seit Dienstag zum Kauf empfiehlt, rechnet zudem trotz der Covid-19-Krise nicht mit massgeblichen Bond-Ausfällen.
Angst vor Kapitalmassnahmen wegen zu geringer Eigenkapitalreserven müssen Investoren ebenfalls nicht haben. Zum Halbjahr lag die nach dem Swiss Solvency Test berechnete Quote von Helvetia nach Aussage des Managements bei ungefähr 180%. Helvetia hat also 80% mehr Eigenmittel, als die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht Finma vorschreibt. Für ZKB-Analyst Marti ist sie damit gut aufgestellt.
Unter dem Strich lässt sich also festhalten, dass Caser zwar gewisse Risiken mit sich bringt, die Substanz von Helvetia alles in allem aber dennoch grundsätzlich solid ist.
Eine Value-Falle sind die Aktien der Versicherung also nicht. Doch was drückt dann auf die Stimmung der Anleger?
The Market hat mit verschiedenen institutionellen Investoren gesprochen, die nicht namentlich erwähnt werden möchten. Zwei von ihnen vermuten, dass die tiefe Bewertung mit der jüngst verhaltenen Leistung und der mangelhaften Transparenz des Managements um CEO und Helvetia-Urgestein Philipp Gmür zusammenhängt, der seit 1993 für die Gesellschaft arbeitet und seit 2016 ihre Geschäfte führt.
So hat Helvetia im ersten Semester dieses Jahres ein IT-Projekt im Backend-Bereich gestoppt, was zu einem Abschreiber von 40 Mio. Fr. geführt hat. In der letzten Etappe des Projekts war deutlich geworden, dass Aufwand und Risiken markant grösser sind als ursprünglich angenommen. Das Entwicklungsprogramm wurde deshalb beendet. Die zwei gegenüber Helvetia eher kritisch eingestellten Investoren sprechen von einem Managementfehler.
Ebenfalls für Stirnrunzeln sorgte zudem der Entscheid, das Portfolio nach den starken Kursverlusten an den Aktienmärkten im März mit Absicherungsinstrumenten gegen weitere Rückschläge zu schützen. Das Timing erwies sich rückblickend als miserabel. Wegen der Absicherung hat Helvetia am steilen Anstieg nur bedingt partizipiert.
Der dritte Punkt, den einer der beiden kritisch eingestellten Investoren anführt, ist die mangelhafte Transparenz bezüglich der jährlichen Bargeldzahlungen der Tochtergesellschaften an die Holding (Cash remittance), die letztlich für die Dividendenausschüttung an die Aktionäre entscheidend sind. Helvetia zeigt sich verschlossen, während die anderen Schweizer Versicherungen sehr auskunftsfreudig sind.
Viertens rief die Vorgehensweise punkto Finanzierung der Übernahme von Caser Kritik hervor. So zahlte Helvetia Ende April eine Dividende von 250 Mio. Fr. aus und führte dann anschliessend eine Kapitalerhöhung in ähnlichem Umfang durch. In den Augen eines Gesprächspartners ist dies wegen der Kosten, die für eine Kapitalerhöhung anfallen, irrational. Helvetia rechtfertigte die Dividendenzahlung an der Generalversammlung im April mit den vielen Pensionskassen und Kleinanlegern, die zu ihrem Aktionariat zählen und mit einer Dividende rechnen.
Dennoch sind sich fast alle befragten Investoren einig: Helvetia ist kein schlechtes Unternehmen. Sie habe wegen der mangelhaften Transparenz und der Vorkommnisse im letzten Halbjahr einfach Vertrauen verspielt. Das Management sei zudem offenbar nicht bereit, offensichtliche Fehler einzugestehen. Das müsse sich ändern. Letztlich biete die günstige Bewertung aber trotz allem Gewinnpotenzial. Auch The Market ist dieser Ansicht, weshalb die Aktie seit der letzten Bestandesaufnahme am 25. September im Best Ideas Portfolio als Risikoposition geführt wird.