Analyse

Die Aktienmärkte im Zeichen des Regimewechsels

Die Hausse, die die Börsen seit dem Ende der Finanzkrise vor 13 Jahren geprägt hat, steht in der Spätphase. Was kommt danach, und wie läuft ein Regimewechsel ab? Die Historie liefert Anschauungsunterricht.

Mark Dittli
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Das Umfeld an den Finanzmärkten ist turbulent geworden. Seit Beginn des Jahres herrscht an den Börsen erhöhte Nervosität. Die Pandemie klingt allmählich ab – zumindest dominiert sie die Schlagzeilen und damit die Gemüter der Marktteilnehmer weniger.

Vom aktuellen «Lärm» um die Ukraine-Krise abgesehen beherrscht ein Thema die weitere Entwicklung an den Finanzmärkten: die Rückkehr der Inflation sowie die geldpolitische Antwort darauf.

Damit beginnt eine heikle Phase für die Börsen. Ein langer Zyklus mit stetig sinkenden Zinsen geht zu Ende. Die Zentralbanken beginnen, den Märkten Liquidität zu entziehen. Das Regime, das die 13 Jahre seit dem Ende der Finanzkrise geprägt und mit Ausnahme des kurzen Corona-Crashs im März 2020 für eine überdurchschnittlich lange Börsenhausse gesorgt hat, könnte kippen: Jeremy Grantham, Mitgründer des Bostoner Asset Managers GMO, erregte Ende Januar Aufsehen, als er warnte, die Börsen befänden sich in einer «Superblase», die bald platzen könnte.

Es ist unmöglich, zu prognostizieren, wann eine Hausse endet. Aber es gibt gute Argumente für die These, dass der seit März 2009 dauernde Bullenmarkt in seiner Endphase steht. «Die Aktienmärkte haben endogen die Voraussetzungen geschaffen, um von exogenen Faktoren in einen Bärenmarkt gestürzt zu werden», urteilt der Marktbeobachter Alfons Cortés.

Was kommt danach? Und wie läuft ein Regimewechsel ab? Die Geschichte wiederholt sich nie eins zu eins, aber ein Blick auf frühere Episoden bietet Anschauungsunterricht und zeigt wiederkehrende Muster. The Market beleuchtet sie anhand von drei historischen Preisblasen: Der «Nifty Fifty»-Ära der frühen Siebziger, der japanischen Blase von 1989 und dem Dotcom-Boom der späten Neunzigerjahre.

Die Macht des Narrativs

Jeder Bullenmarkt wird von einem Leitnarrativ getragen; einer – durchaus rationalen – Argumentationslinie, die den Boom nährt. Wie Charles Kindleberger im Standardwerk «Manias, Panics and Crashes» beschreibt, führt dieses Narrativ zu einem positiven Feedback-Loop: Es zieht Anlagegeld an, worauf die entsprechenden Sektoren und Aktien steigen, wodurch das Narrativ bestätigt wird und wiederum weiteres Investorengeld anzieht.

Zur Zeit der Nifty Fifty liess sich das Narrativ beispielsweise mit «Wachstum und Qualität» beschreiben. In einem von sinkendem Wirtschaftswachstum und allmählich steigender Inflation geprägten Umfeld waren Aktien von qualitativ hochwertigen Unternehmen gesucht, die in der Lage waren, hohes Umsatzwachstum zu erreichen und höhere Preise ihren Kunden weiterzugeben – etwa IBM, Disney, Xerox oder Polaroid.

In den Achtzigerjahren lautete das Narrativ «Japan as Number One»: Nippon war mit seiner dynamischen Wirtschaft und überragenden Organisations- und Produktionsmethoden prädestiniert, die USA vom Thron zu stossen. Und die Neunzigerjahre standen unter dem Banner der «New Economy», die mit der Verbreitung des Internet alle bisherigen Gesetze der Wirtschaft über den Haufen warf.

Und das Narrativ des jüngsten Bullenmarktes? Das gesamtwirtschaftliche Umfeld im Nachgang der Finanzkrise war von schwachem Wachstum, sinkenden Zinsen und einer historisch einzigartig expansiven Geldpolitik geprägt. Dazu gesellte sich das Narrativ der «digitalen Disruption». «Im Grunde haben wir es mit einer Mischung aus dem Nifty-Fifty- und dem Dotcom-Narrativ zu tun», sagt der US-Fondsmanager Rajiv Jain. Die Bannerträger des aktuellen Bullenmarktes waren qualitativ hochwertige Wachstumsunternehmen sowie der Technologiesektor, symbolisiert durch den Aufstieg der «FANMAG»-Aktien wie Apple, Microsoft oder Alphabet (Google).

Das letzte Hurra

Ein typisches Merkmal jedes Bullenmarktes, wenn er genügend lange dauert, ist eine von spekulativem Exzess getriebene Schlussphase: die Blasenbildung. Dieser «Blow-off» ist die intensivste, einträglichste – und gefährlichste Phase der Hausse. Sie konzentriert sich immer enger auf die Sektoren und Aktien, die im Zentrum des vorherrschenden Narrativs stehen, während alles andere zunehmend ignoriert wird.

In dieser Phase steigen die Bewertungen in absurde Höhen, und die Marktteilnehmer kreieren neue Argumente, um die Bewertungen zu rechtfertigen. «This time is different» – dieses Mal sollen die alten Regeln nicht mehr gelten.

Oft geht der Euphorie-Phase eine kurze Krise voraus, die von den «Superstar»-Aktien bravourös gemeistert wird, was wiederum das Narrativ ihrer Einzigartigkeit stärkt und dem Argument Nahrung gibt, dass ihre hohe Bewertung gerechtfertigt ist.

Die Nifty Fifty etwa überstanden den Markteinbruch von 1968 bis 1970 weitgehend unbeschadet, worauf sich immer mehr Investoren in die fünfzig besten Aktien Amerikas drängten und ihre Bewertungen in der «Blow-off»-Phase bis Anfang 1973 in astronomische Höhen trieben. Polaroid erreichte 1973 etwa ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 95, Disney und McDonald's wurden mit einem KGV von 71 bewertet.

In Tokio begann das letzte Hurra 1986, als die Bank of Japan (BoJ) die Leitzinsen auf 3% halbierte, um einer übermässigen Aufwertung des Yen entgegenzutreten und die heimische Wirtschaft zu entlasten. Der Wallstreet-Crash von Oktober 1987 führte im Nikkei zu einem kurzen Einbruch, danach setzte sogleich der Aufstieg wieder ein.

In der Dotcom-Blase startete die Euphorie im Herbst 1998, als das Fed nach dem Untergang des Hedge Funds LTCM sowie anschliessend aus Furcht vor dem «Y2K»-Problem der Jahrtausendwende – als die Ungewissheit herrschte, die Umstellung der Jahreszahlen könnte ein weltweites Chaos in den Computersystemen auslösen – das Finanzsystem mit Liquidität flutete.

Im aktuellen Bullenmarkt war es der Corona-Crash von 2020, der die Zentralbanken veranlasste, die geldpolitischen Schleusen weit aufzureissen. Wieder waren es danach die Gewinner des bereits vor der Pandemie herrschenden Narrativs, die zu einem euphorischen Höhenflug ansetzten: Die FANMAG, die Anführer der digitalen Disruption, die Wachstumsaktien, deren Bewertung in einem Umfeld, in dem die Zinsen offenbar für immer tief bleiben («this time is different»), keine Grenzen mehr kannte. Das gilt umso mehr, als viele dieser Namen zu den Pandemiegewinnern zählten, da bereits zuvor bestehende Trends wie Onlineshopping noch beschleunigt wurden.

Wenn der Schwung nachlässt

In der populären Wahrnehmung endet eine Hausse stets mit einem Knall. Das Gegenteil ist der Fall. Das Ende tritt unspektakulär ein, unbemerkt, aus heiterem Himmel.

Die Wende benötigt keinen Auslöser, aber oft tritt sie durch eine Verknappung der Geldpolitik und steigende Zinsen ein. «Wie ein Kind auf einem Fahrrad braucht die letzte Phase des Bullenmarktes Schwung, um weiter zu steigen. Sonst beginnt sie zu schlingern. Die Kurse können nur noch weiter steigen oder fallen. Es gibt kein Plateau», schreibt Kindleberger.

Ein Signal, dass die Phase des Schlingerns begonnen hat, ist eine Abnahme der Marktbreite. Immer mehr Aktien in einem Markt brechen weg, so dass der Leitindex – je nach Fall der S&P 500, der Nikkei 225, der Nasdaq 100 – von immer weniger Aktien getragen wird. Diese Abnahme der Marktbreite findet kaum sichtbar unter der Oberfläche statt, weil die «Superstars» mit der schwersten Marktkapitalisierung den Index noch lange in der Luft zu halten vermögen.

1973 brach einer der Nifty Fifty nach dem anderen ohne spezifischen Grund ein, bis schliesslich auch der S&P 500 in die Baisse sackte. Im Dezember 1989 leitete der neue Gouverneur der BoJ, Yasushi Mieno, eine Straffung der Geldpolitik ein, um den Immobilien- und Aktienmarkt zu zügeln – womit er das Ende der Blase besiegelte. Und 1999, vor allem jedoch nach der überstandenen Y2K-Jahreswende, erhöhte Fed-Chef Alan Greenspan die Leitzinsen. Ab März 2000 war es um die Dotcom-Blase geschehen, wobei sich die Aktien der schwersten Unternehmen – die damals als «Four Horsemen» bekannten Riesen Cisco Systems, Dell, Microsoft und Intel – zum Teil länger halten konnten und erst im Herbst 2000 einbrachen.

Auch im gegenwärtigen Umfeld ist seit Sommer 2021 eine Abnahme der Marktbreite zu beobachten. Immer mehr der vormals gehypten Aktien – Beispiele sind Shopify, Zoom oder der ARK Innovation ETF – brechen weg, und die Indizes werden noch von Giganten wie Apple, Microsoft und Alphabet gehalten.

Die Revolte gegen das alte Regime

«Game Over» heisst es erst, wenn auch die Grossen einbrechen und die Bannerträger des alten Regimes fallen. Das ist jeweils das Signal, dass das bisherige Leitnarrativ diskreditiert und die zahlreichen «This time is different»-Argumente entlarvt sind.

Weil die Bannerträger des alten Regimes nach einem jahrelangen Aufstieg mit ihrem Gewicht die breiten Indizes dominieren, geht eine derartige Revolte in aller Regel mit einem sichtbaren Crash einher.

Selbstredend ist das kein linearer Prozess. Der Absturz in die Baisse wird von Gegenbewegungen unterbrochen, wenn die Marktteilnehmer die Gelegenheit nutzen, um zu vermeintlich günstigeren Preisen Aktien der gefallenen Stars zu kaufen. Diese Gegenbewegungen entpuppen sich jedoch wiederholt als Bullenfallen, weil wenig später der Abwärtssog wieder einsetzt. Zu Ende ist der Sinkflug erst, wenn die Marktteilnehmer kapitulieren, sich voller Abscheu von ihren Positionen trennen und vom alten Narrativ nichts mehr wissen wollen.

Neues entsteht

Während des Prozesses einer Revolte gegen das Leitnarrativ ist es üblich, dass sich Anleger an den zuvor erreichten Höchstkursen der bisherigen Stars orientieren: Entweder, weil sie hoffen, in ihrem Portfolio nochmals die alten Höchstwerte zu erreichen, oder weil sie denken, sie könnten zu günstigeren Kursen wieder einsteigen.

Diese Perspektive führt meist in die Irre, denn die alten, gefallenen Stars werden nicht zu den Bannerträgern des neuen Regimes. In der Regel blüht ihnen ein zäher, mehrjähriger Prozess der Bewertungskontraktion. Wer etwa im Januar 1973 die Aktien von Disney kaufte, musste sich bis 1986 gedulden, bis der Einstandspreis wieder erreicht war. Im Fall von Xerox dauerte es gar bis 1996:

Der japanische Aktienmarkt hat sein Höchst von 1989 bis heute nicht mehr erreicht. Cisco und Intel, qualitativ hervorragende Unternehmen, die ihre Gewinne auch nach dem Dotcom-Crash stetig steigerten, haben ihr Niveau von Anfang 2000 ebenfalls nicht mehr erreicht, im Fall von Microsoft dauerte die Durststrecke 16 Jahre:

Statt sich in der Frühphase der Baisse auf die fallenden Stars zu fokussieren, ist es für Anleger daher sinnvoller, sich nach dem nächsten Leitnarrativ und nach den Bannerträgern des nächsten Regimes umzusehen. Denn meist ist es in der hektischen Phase des Crashs, in der sich diese herausbilden.

Nach dem Absturz der Nifty Fifty 1973 und 1974 begann beispielsweise ein mehrjähriges Rohstoff- und Gold-Regime. Nach dem Platzen der japanischen Blase verlagerte sich der Fokus der Investoren zurück in die USA, wo alsbald das Technologie-Regime entstand. Als dieses schliesslich im März 2000 fiel, begann ein neues Narrativ, das um unterbewertete Value-Aktien wie Berkshire Hathaway sowie um Emerging Markets («BRICS») und Rohstoffe kreiste.

Noch ist es freilich zu früh, das Ende des Narrativs der digitalen Disruption, der Wachstumsaktien und der FANMAG zu verkünden. Aber die Signale leuchten. Das Rad verliert an Schwung, es beginnt zu schlingern.

Ein neues Narrativ, die Rückkehr der Inflation, zeichnet sich bereits ab. Die Bannerträger des nächsten Regimes – Energie? Rohstoffe? Emerging Markets? – bringen sich in Stellung.