Analyse

Eine Aktienstrategie für das kommende Jahr

Kaum eine Börse konnte sich in diesem Jahr dem Abwärtssog entziehen. Wie stehen die Aussichten für 2023 – und wie sollen sich die Anleger positionieren?

Sandro Rosa
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Es ist wahrlich keine Kunst, jetzt pessimistisch zu sein: Ob Aktien, Anleihen, Bitcoin oder Edelmetalle, nahezu alle Vermögenswerte haben den Anlegern heuer schmerzhafte Verluste beschert. Der Hauptgrund dafür ist die geldpolitische Straffung der US-Notenbank Fed, die die aus dem Ruder gelaufene Inflation wieder unter Kontrolle bringen muss.

Allein in diesem Jahr hat sie die Leitzinsen sechs Mal angehoben, zuletzt vier Mal in Folge um jeweils happige 75 Basispunkte. Das Zielband beläuft sich nun auf 3,75 bis 4%, zum Jahresanfang bewegte es sich noch zwischen 0 und 0,25%. Zudem hat das Fed damit begonnen, seine Bilanz monatlich um 60 Mrd. $ an US-Staatsanleihen sowie um 35 Mrd. an verbrieften Hypotheken zu reduzieren. Diese restriktivere Geldpolitik drückt auf die Vermögenswerte. Die Schweizerische Nationalbank, die Europäische Zentralbank und die Bank of England haben ihre Geldpolitik ebenfalls verschärft.

Bilanz des Federal Reserve

In Mrd. $
Staatsanleihen
Verbriefte Hypotheken
Andere Wertschriften
Prognose (ab Nov. 2022)

US-Leitzinsen: Higher for Longer?

Dennoch bleibt der Inflationsdruck ungemütlich hoch. In den USA verharrt die Konsumentenpreisinflation auf 8,2%, in der Eurozone hat sie im Oktober mit 10,7% den höchsten Stand seit der Einführung des Euros erreicht. Auch unter Ausklammerung der besonders stark schwankenden Energie- und Nahrungsmittelpreise (Kerninflation) bleibt der Teuerungsdruck akut. Kein Wunder, meinte Fed-Chef Jerome Powell an der Medienkonferenz anlässlich des letzten Zinsschritts am 2. November, die US-Notenbank habe bei der Wiederherstellung der Preisstabilität «noch einiges zu erledigen».

«Es ist leicht, eine Kehrtwende zu vollziehen, wenn die Arbeitslosigkeit 8% und die Inflation 3% beträgt. Viel schwieriger ist es, umzuschwenken, wenn die Inflation bei 8% und die Arbeitslosigkeit bei 3% liegt», hat Michael Hartnett, Chefstratege von Bank of America, den Entscheid trocken kommentiert.

Derweil mehren sich die Rezessionssignale rund um den Globus. Die Zinskurven in den USA sind invers, die Konsumentenstimmung dies- und jenseits des Atlantiks ist gedrückt, und diverse konjunkturelle Frühindikatoren wie die Einkaufsmanagerindizes (Purchasing Manager Indices, PMI) signalisieren einen deutlichen Wachstumsrückgang.

Wenig Optimismus

Die aggressiven Schritte des Fed und die Erwartung, dass sich der Zinsvorteil zugunsten der USA im Vergleich zum Rest der Welt ausweitet, haben zudem den Dollar in den vergangenen Monaten zu einem Höhenflug ansetzen lassen. Laut den Strategen vom Analysehaus BCA Research hat der reale handelsgewichtete Dollar seit Jahresbeginn um 10% und seit Januar 2021 um 18% zugelegt. Mittlerweile ist er markant überbewertet und bringt diverse Schwellenländer in Bedrängnis, deren Dollarschulden unerschwinglich teuer werden. Der harte Greenback ist mitverantwortlich dafür, dass Schwellenländeraktien hinter den Valoren aus den Industrienationen zurückbleiben.

Schliesslich belastet die Zero-Covid-Strategie in China das globale Wachstum, was sich jüngst in einem deutlichen Rückgang in gewissen Rohstoffpreisen gespiegelt hat. Kurzum: Das Umfeld ist überaus anspruchsvoll.

Doch Anleger sollten vor lauter Pessimismus nicht in Schockstarre verfallen und nicht einfach die Entwicklung der vergangenen Monate fortschreiben. Um den begnadeten ehemaligen Eishockeyspieler Wayne Gretzky zu zitieren: «Ein guter Eishockeyspieler spielt dort, wo der Puck ist. Ein grossartiger Eishockeyspieler spielt dort, wo der Puck sein wird.» Wo stehen wir heute – und wo könnte der Puck in einigen Monaten liegen?

Bewertungen sind deutlich zurückgekommen

Die gute Nachricht vorweg: Die Börsen – primär ausserhalb der USA – preisen schon einiges an negativen Nachrichten in ihren Kursen ein, wie ein Blick auf einen von The Market kreierten Bewertungsindikator zeigt. Berücksichtigt man die Dividendenrendite, das Kurs-Buchwert-, das Kurs-Umsatz- sowie das Shiller- und das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis und vergleicht es mit der jeweiligen Historie des entsprechenden Marktes, zeigt sich, dass es mittlerweile eine grosse Zahl günstig bewerteter Aktienmärkte gibt.

Der Indikator ist so konstruiert, dass er Werte zwischen 0 und 100 annimmt. Je niedriger die Lesung, desto attraktiver ist die Bewertung, 50 entspricht dem langfristigen Median. Nur noch wenige Länder sind demnach teuer – etwa die Niederlande, die USA und Indien. Ebenfalls leicht überbewertet sind Schweizer Aktien.

Doch die grosse Mehrheit der Börsen schneidet erfreulich ab. Besonders attraktiv sind Papiere aus Schwellenländern: Zu den günstigsten zählen die Aktienmärkte in Polen, Hongkong, China, Chile und Südafrika. Unter den Industrieländern vermögen Israel, Deutschland und Spanien zu punkten. Aber auch Italien, Japan und das Vereinigte Königreich müssen sich nicht verstecken. Diverse Aktienmärkte haben also eine augenfällige Bewertungskontraktion durchgemacht.

Jonathan Stubbs, Aktienstratege bei Berenberg, kommt zu einem ähnlichen Befund. Er hat untersucht, was die Aktienmärkte bereits einpreisen. «Unsere Modelle deuten darauf hin, dass die Aktien in Japan, Europa und den Schwellenländern bereits einen zweistelligen Gewinnrückgang einpreisen. Die höhere Bewertung in den USA bedeutet, dass der Markt anfälliger für erhebliche Gewinnenttäuschungen ist», schreibt er in seiner Analyse.

Beträchtlicher Pessimismus

Dass es um die Anlegerstimmung nicht zum Besten steht, ist wohlbekannt. So verharrt das The Market Risk Barometer seit Wochen auf einem ungemein niedrigen Niveau. Umfragen unter professionellen Anlegern zeigen das gleiche Bild: Das Gros der Marktteilnehmer ist wenig zuversichtlich, was die weitere Entwicklung an den Märkten anbelangt.

Besonders gross ist die Skepsis gegenüber kontinentaleuropäischen Valoren und Aktien aus dem Vereinigten Königreich. Das belegt einerseits die monatliche Umfrage von Bank of America (BofA) unter Fondsmanagern. Rein geografisch sind die Fondsmanager überall untergewichtet, wobei die Zurückhaltung gegenüber japanischen Titeln sowie gegenüber Valoren aus Schwellenländern und den USA weniger ausgeprägt ist. Besonders deutlich zum Ausdruck kommt der Pessimismus gegenüber Aktien aus der Eurozone und dem Vereinigten Königreich.

Die Abneigung gegen den Alten Kontinent spiegelt sich auch im Investorenverhalten: Gemäss BofA haben Anleger während 38 Wochen in Folge Gelder aus Aktien der Eurozone abgezogen – das sei die längste Durststrecke seit 2016. Vor diesem Hintergrund braucht es wohl wenig, um eine Trendwende einzuleiten.

Inflationsdruck dürfte schon bald nachlassen

Auch wenn es aus heutiger Sicht nicht danach aussieht, könnte ein solcher Auslöser ein Nachlassen des Inflationsdrucks sein. Bei den Rohstoffpreisen liess sich nämlich bereits eine deutliche Entspannung beobachten. Sie sind im Laufe des Sommers erheblich zurückgegangen, und zwar sowohl die Notierungen für Metalle und Soft Commodities als auch die Energiepreise, die rund 20 bis 40% gesunken sind.

Der europäische Erdgaspreis hat den Anstieg des Sommers fast vollständig korrigiert und ist gegenüber den Höchstständen im August rasant gefallen. Zuletzt hat sich auch die Lage bei den Güterpreisen merklich entspannt. Für die Experten der US-Grossbank JPMorgan ist es deshalb nur eine Frage der Zeit, bis sich auch bei den Dienstleistungen eine Besserung abzeichnet. Viele Unternehmen haben in letzter Zeit negative Prognosen abgegeben, meist unter Berufung auf eine geringere Nachfrage oder ein schwächeres makroökonomisches Umfeld. Auch diverse Technologiekonzerne – darunter Twitter und Meta (Facebook) – haben zuletzt kommuniziert, dass sie Stellen abbauen werden. Als Konsequenz dürften die Löhne wieder langsamer steigen.

Die Ökonomen von JPMorgan erwarten, dass der Anstieg des Konsumentenpreisindex in den USA bis zum Ende des ersten Quartals 2023 von derzeit 8,2 auf 5,7% fallen und sich die Kerninflation von 6,6 auf 5,3% abschwächen wird. In den folgenden Monaten dürfte sich der Rückgang fortsetzen. Auch Caroline Miller, Marktstrategin von Alpine Macro, ist der Ansicht, die Inflation werde sich im kommenden Jahr normalisieren, nicht zuletzt weil sich bei den Lieferketten eine Entspannung zeige, wie sie im Interview mit The Market gesagt hat. Dadurch werde die Dringlichkeit weiterer Zinserhöhung durch das Fed entschärft und ein Szenario geschaffen, in dem die Bondrenditen wieder sinken – was wiederum die Aktienmärkte unterstützen dürfte.

Auch die Schweizer Privatbank Pictet ist der Ansicht, dass sich die Anzeichen eines stärkeren Inflationsrückgangs mehren. So zeigen die entsprechenden Indizes der Distriktnotenbanken von New York und Philadelphia, dass der Preisdruck nachlässt. «Wir gehen davon aus, dass die Kerninflation in den USA Ende nächsten Jahres zwischen 3 und 3,5% liegen wird. Auch in den europäischen Ländern wird die Inflation im nächsten Jahr rückläufig sein», schreiben die Pictet-Ökonomen.

Höchst bei der US-Kerninflation bereits erreicht

Höhepunkt im Dollar?

Auch wenn der Offenmarktausschuss des Fed wohl noch für einige Zeit eine restriktive Haltung beibehalten wird, nähert sich die Notenbank demnach dem Ende ihres Straffungszyklus. Das dürfte Auswirkungen auf den Dollar haben. So schreibt Ökonom Jonas Goltermann vom Londoner Researchanbieter Capital Economics: «Wir sehen nur begrenzten Spielraum für eine weitere Ausweitung der erwarteten Zinsdifferenzen zugunsten des Greenbacks.»

Das heisst nun nicht zwingend, dass der Dollar sogleich fallen wird. Angesichts der weltwirtschaftlichen Abkühlung und der grossen Unsicherheit profitiert er vorderhand noch von der anhaltenden Nachfrage nach «sicheren Häfen». Doch nachdem er ein Zwanzigjahreshoch erklommen hat und zunehmend überbewertet ist, wird die Luft dünn. Setzt sich am Markt die Erkenntnis durch, dass die Zinsdifferenz das Maximum erreicht hat, sollte sich die US-Währung abschwächen.

«In unserem Basisszenario gehen wir davon aus, dass der Dollar im nächsten Jahr aufgrund des nachlassenden Inflationsdrucks in den USA, der es dem Fed ermöglicht, seine aggressive Rhetorik abzuschwächen, und des stärkeren Wachstums im Ausland schwächer wird», schätzt Peter Berezin von BCA Research. Tritt dieses Szenario ein, könnte das kommende Jahr den Aktienanlegern durchaus wieder Freude bereiten – besonders dann, wenn China langsam aus der Zero-Covid-Politik findet.

2023: weniger USA, mehr EmMa, Japan und Europa

Wie können sich Anlegerinnen und Anleger für dieses Szenario positionieren – und auf welche Märkte sollen sie setzen? Die erste Wahl dürften Schwellenländeraktien sein. Der Straffungszyklus ist in vielen der aufstrebenden Märkte weit fortgeschritten, und der Inflationsdruck scheint abzunehmen. Das jedenfalls lässt der Inflationsüberraschungsindex von Citi, der die Abweichungen der tatsächlichen von der erwarteten Inflation misst, erkennen (rote Linie).

Das bedeutet, dass Spielraum für einen schnelleren Wechsel zu einer lockeren Geldpolitik vorhanden ist. Vom dadurch zu erwartenden Rückgang der Realrenditen sollten risikobehaftete Anlagen profitieren. Zusätzliche Unterstützung könnte vom schwächeren Dollar kommen. Wie obige Bewertungsübersicht illustriert, bestechen die Vermögenswerte in den Schwellenländern zudem durch eine attraktive Bewertung.

Eine Rückkehr des Risikoappetits sollte auch den konjunktursensitiveren Märkten wie Japan und Europa Rückenwind verleihen. Zwar ist die geo- und energiepolitische Situation auf dem Alten Kontinent weiterhin verworren, doch die Bewertungen nehmen ein ziemlich düsteres Szenario vorweg. Schliesslich spricht die Sektorgewichtung für Europa: In einer Welt mit strukturell höherer Inflation als in den vergangenen vierzig Jahren sind Aktien und «harte Vermögenswerte» der Old Economy plötzlich wieder gefragt. Dazu gehören Unternehmen aus dem Industriesektor sowie Energie- und Grundstoffkonzerne, die von den erhöhten Investitionen in Infrastruktur und in die Energiewende besonders profitieren.

USA: unvorteilhafte Sektorzusammensetzung

Die Leader der bisherigen Hausse, die Technologie- und Internetgiganten, werden den neuen Zyklus wohl nicht anführen – zumindest wenn sich die Geschichte reimt. Deshalb dürfte die erfolgsverwöhnte US-Börse im kommenden Jahr zurückbleiben. Der Sektormix, der plötzlich unvorteilhaft anmutet, die sehr hohe Bewertung und ein sich potenziell abschwächender Dollar lassen andere Märkte attraktiver erscheinen.

Kurzum: Auch wenn es derzeit nicht danach aussieht, wird es sich wohl lohnen, schon bald stärker auf die Nachzügler zu setzen. Vorerst dürfte das Geschehen an den Aktienmärkten indes holprig bleiben und von den Spekulationen um die US-Notenbank und um Chinas Covid-Politik getrieben sein. Beim Umschichten ist deshalb keine Eile angesagt.

Eine entsprechende Länderstrategie kann mit den folgenden an der Schweizer Börse kotierten ETF umgesetzt werden.