Seit einer Dekade laufen amerikanische Aktien ihren europäischen Pendants den Rang ab. Mit der konjunkturellen Erholung auf dem Alten Kontinent dürfte es zur Stabsübergabe kommen.
«Sogar die Europäer hassen Europa», sagte der Marktstratege Gerard Minack vor zwei Monaten im Interview mit The Market. Auch jetzt ist unter den Investoren noch wenig Euphorie für europäische Aktien auszumachen – allerdings scheint sich die Stimmung langsam zum Besseren zu wenden.
Endlich ist nämlich der breite Stoxx 600 Europe – er umfasst die 600 grössten Aktien aus Europa, inklusive des Vereinigten Königreichs und der Schweiz – nach einer langen Seitwärtsphase nach oben ausgebrochen. Die Hürde von 400 Punkten, die sich seit dem Jahr 2000 wiederholt als zu hoch herausgestellt hatte, ist überwunden.
War das nun der Startschuss zur Aufholjagd gegenüber dem US-Leitindex S&P 500? Denn die Lücke zwischen den beiden Indizes ist mittlerweile riesig: Inklusive Dividenden und umgerechnet in Dollar hat der Stoxx Europe 600 seit 2010 eine Rendite von lediglich knapp 120% erzielt, während der S&P 500 einen Zuwachs von 380% verzeichnet hat.
Natürlich sprudelten die Gewinne auf der anderen Seite des Atlantiks in dieser Zeit üppiger, und auch das grössere Gewicht an Technologie- und anderen Wachstumsaktien hat dem US-Index Rückenwind verliehen. Das kann das bessere Abschneiden aber nicht vollends erklären.
Ein guter Teil der besseren Performance ist darauf zurückzuführen, dass der US-Markt einfach teurer geworden ist (im Jargon spricht man von einer Bewertungsexpansion). Das zeigt etwa das Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es vergleicht den aktuellen Preis einer Aktie oder eines Index mit den durchschnittlichen, inflationsbereinigten Gewinnen der vergangenen zehn Jahre. Damit werden die jährlichen Gewinnschwankungen normalisiert, was zu einem stabileren und verlässlicheren langfristigen Bewertungsmass führt.
Aktuell handelt der US-Markt zu einem Aufschlag von etwas über 50% zu seinem langjährigen Mittelwert seit 1998. Das ist deutlich mehr als beim europäischen Pendant, das nicht ganz 15% über dem Schnitt handelt und somit im Vergleich zur eigenen Historie deutlich günstiger ist.
Auch auf Basis des für die nächsten zwölf Monate geschätzten Kurs-Gewinn-Verhältnisses, korrigiert um die unterschiedliche Sektorzusammensetzung der Indizes, schneidet Europa besser ab:
Nicht nur hat sich die Bewertungsschere geöffnet, die Aussichten für Europa haben sich ebenfalls aufgehellt. Für Optimismus sorgt etwa die Beschleunigung in den Covid-Impfprogrammen, die nach einem harzigen Start auch auf dem Alten Kontinent endlich an Fahrt gewinnen.
«Die Viruszahlen selbst sind ebenfalls nicht so schlecht wie weithin angenommen, wobei sowohl die Positivitätsraten als auch die Todesfälle trotz selektiver Wiedereröffnung ziemlich stabil sind», meint der Stratege Peter Oppenheimer von Goldman Sachs. Hinkte Europa (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs) lange den USA hinterher, scheint sich der Rückstand allmählich zu verringern.
«Während es in Europa drei Monate dauerte, 20% der Bevölkerung zu impfen, dauerte es nur einen Monat, den Anteil der Geimpften auf fast 40% zu erhöhen», bemerkt Mathieu Savary von BCA Research. Damit rückt auch der Zeitpunkt einer Öffnung der Wirtschaft näher, was der Konjunktur und somit auch den Börsen zugutekommt.
Noch aber sind die Erwartungen gedämpft. «In den USA scheinen viele gute Wirtschaftsnachrichten bereits eingepreist zu sein, in der Eurozone dagegen weniger», schreibt Franziska Palmas vom Londoner Analysehaus Capital Economics in einem Marktbericht.
Während die Analysten beispielsweise erwarten, dass der Gewinn pro Aktie des Eurozoneindex bis zum Ende dieses Jahres lediglich auf das Niveau von Ende 2018 zurückkehren wird, sind sie für die USA deutlich zuversichtlicher. «Sie rechnen damit, dass die Gewinne der US-Unternehmen Ende 2021 bereits rund 20% über dem Niveau von Ende 2018 liegen werden», meint Palmas.
Mögliche Gefahren für die Unternehmensgewinne werden in den USA derweil ausgeblendet. So stehen Vorschläge vonseiten der Biden-Regierung im Raum, die Gewinnsteuern in den Vereinigten Staaten von 21 auf 28% anzuheben, um das 2,3 Bio. $ schwere Infrastrukturprogramm zu finanzieren. Zudem steht die Politik den Technologiekonzernen, die massgeblich für das Gewinnwachstum der vergangenen Jahre verantwortlich waren, weniger wohlwollend gegenüber als auch schon; der regulatorische Druck auf die Branche nimmt zu. Die Folge dürften geringere Margen sein.
Überhaupt macht sich in den meisten Regionen bereits ein gewisser Margendruck bemerkbar – ausser in Europa. «Europa ist die einzige Region, in der die Gewinnrevisionen immer noch höher sind als die Umsatzrevisionen», schreibt der Analyst Ross MacDonald von Morgan Stanley. Das heisst, die Analysten erhöhen ihre Gewinnschätzungen stärker als ihre Prognosen für das Umsatzwachstum. Vor allem die Unternehmen aus dem Vereinigten Königreich stechen positiv hervor.
Eine Bestätigung dafür, dass Europa von den Marktteilnehmern womöglich unterschätzt wird, liefern auch die Economic-Surprise-Indizes von Citigroup. Sie zeigen die Abweichung der tatsächlichen Konjunkturdaten von den prognostizierten Zahlen. Anders als in der Eurozone hat der Überraschungseffekt für die USA zuletzt merklich abgenommen, die Daten vermögen kaum noch positiv zu überraschen (blaue Kurve). In Europa jedoch haben die Wirtschaftsdaten die Erwartungen in den vergangenen Wochen klar übertroffen (gelbe Kurve).
Auch die grosszügigere Fiskalpolitik – finanziert durch den NextGenerationEU-Fonds – wird das Wachstum unterstützen. Das neue Budget in Italien sieht für die kommenden sechs Jahre zusätzliche Ausgaben von 250 Mrd. € vor, in Spanien sind gemäss Mathieu Savary von BCA Research rund 170 Mrd. € an Mehrausgaben geplant.
Deutschlands Regierung hat die Schuldenbremse für 2020 und dieses Jahr ausgesetzt, und es ist wahrscheinlich, dass auch Frankreich seine Ausgaben hochfahren wird. In Kombination mit den während des Lockdown «aufgestauten» Konsumausgaben wird das Wachstum ab der zweiten Jahreshälfte auch in Europa kräftig anziehen.
Die globale Wachstumsbeschleunigung begünstigt die Verschiebung von Growth- zu Value-Aktien und von defensiven zu zyklischen Titeln. Wächst nämlich die Wirtschaft, werden vermehrt Rohstoffe nachgefragt, der Verbrauch von Erdöl steigt, und die Kreditvergabe nimmt zu. Gleichzeitig büssen die krisensicheren Werte aus den Branchen Technologie, Basiskonsum und Gesundheit tendenziell an Attraktivität ein.
Value-Titel sind in Europa überdurchschnittlich stark vertreten, wie eine Auswertung der Grossbank HSBC illustriert. So dominieren die lange zurückgebliebenen Sektoren wie Finanz, Energie und Grundstoffe an allen wichtigen Börsen Europas. Einzig im technologielastigen niederländischen Index findet sich eine klare Mehrheit an Wachstumswerten (fast 80%).
Steigende Zinsen begünstigen ebenfalls eine Rotation. Der Grund? Bei Growth-Titeln fällt im Vergleich zu Value-Aktien ein grösserer Anteil des Cashflows – und damit des Unternehmenswerts – in ferner Zukunft an. Ihr heutiger Wert nimmt bei steigenden Zinsen deshalb stärker ab, als das bei Value der Fall ist. Das gilt besonders für den IT-Sektor, der im S&P 500 rund ein Viertel der Kapitalisierung ausmacht, im Stoxx Europe 600 hingegen bloss 8%. Das geringe Gewicht an Technologiewerten könnte sich für Europa künftig als Vorteil erweisen. Das ist mit ein Grund, weshalb The Market Asset Allocation die europäischen Märkte übergewichtet.
Interessant ist auch ein Blick auf die Sektorzusammensetzung der wichtigsten Länderindizes. Der Swiss Market Index gehört beispielsweise zu den defensivsten überhaupt: Basiskonsum (Nestlé) und Gesundheit (Novartis und Roche) machen 60% des Barometers aus. In einem Umfeld mit besserem Wachstum und höheren Zinsen dürfte der SMI im Vergleich zur Konkurrenz daher zurückbleiben. Das grosse Gewicht von Technologie und Basiskonsum dürfte auch im niederländischen AEX für Gegenwind sorgen.
Besonders zyklisch sind hingegen der Dax (Deutschland), der Cac 40 (Frankreich) und der FTSE Mib (Italien), dahinter folgen der FTSE 100 (UK) und der Ibex (Spanien). Kriegt Europa die Pandemie in den Griff und schreitet die globale Konjunkturbelebung voran, dürften diese Börsen in den kommenden Monaten zu den Zugpferden gehören.
Anleger können beispielsweise über ETF wie den iShares Stoxx Europe 600 UCITS ETF (ISIN: DE0002635307) in den europäischen Markt investieren. Er ist an der SIX kotiert und bildet den Stoxx Europe 600 vollständig physisch ab. Für Anleger, die die Dividenden umgehend reinvestieren möchten und deshalb einen thesaurierenden ETF bevorzugen, bietet sich der Invesco STOXX Europe 600 UCITS ETF (ISIN: IE00B60SWW18) an. Allerdings bildet er den Index über Derivate ab.