Analyse

Konflikt der Narrative: Wie China die Welt sieht

Die Kommunistische Partei Chinas zementiert unter ihrem Generalsekretär Xi Jinping ein Weltbild, das zunehmend in Konflikt mit dem westlichen Narrativ gerät. Was sieht ein Mensch, der aus der Perspektive Pekings auf die Welt blickt? Ein Versuch einer Einordnung.

Mark Dittli
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Die Kommunistische Partei Chinas feiert den 100. Jahrestag ihrer Gründung. An den Festivitäten in Peking präsentiert sich die Partei, mit Generalsekretär Xi Jinping an ihrer Spitze, als Schöpferin von Wohlstand und Bewahrerin von Stabilität und Ordnung im bevölkerungsreichsten Land der Welt.

Auf der internationalen Bühne steht die Volksrepublik derweil unter Druck. Das Coronavirus hält die Welt weiterhin in seinem Bann. Im Inland vermochte Chinas Regierung die Pandemie mit harten Massnahmen unter Kontrolle zu halten, doch Pekings Weigerung, Licht in den Ursprung des Virus zu bringen, hat dem internationalen Ansehen des Landes schwer geschadet.

Die Beziehung mit den USA bleibt frostig. Zwar verzichtet Präsident Biden auf die plumpe, ineffektive Handelskriegs-Rhetorik seines Vorgängers, aber die beiden Grossmächte befinden sich weiter auf Konfrontationskurs. Es ist mittlerweile klar, dass die Ära des «konstruktiven Engagements», das die Beziehung der beiden Staaten in den letzten vier Jahrzehnten geprägt hat, vorbei ist. Eine neue Weltordnung, geprägt von strategischer Rivalität zwischen China und Amerika, hat begonnen.

Es ist der Konflikt, der das 21. Jahrhundert prägen wird.

Bereits heute müssen sich Unternehmen weltweit überlegen, wie sie mit diesem Konflikt umgehen sollen. Sollen sie ihre operativen Tätigkeiten, ihre Systeme, ihre Lieferketten zweiteilen, um sich vor möglichen Sanktionen in der westlichen oder der chinesischen Einflusssphäre zu schützen? Auch Staaten, besonders in Südostasien, vielleicht aber auch in Europa, könnten sich dereinst gezwungen sehen, sich für eine Seite zu entscheiden.

Inkompatible Narrative

Doch worum geht es in diesem Konflikt eigentlich? Die Antwort ist freilich vielschichtig, und die Frage lässt sich in ihrer Komplexität nie abschliessend beantworten. Doch im Grunde geht es um den Zusammenprall zweier Narrative, zweier Weltanschauungen, die nicht, oder nur bedingt, kompatibel sind.

Es ist wichtig, beide Narrative zu kennen, um den Konflikt deuten zu können.

Das westliche Narrativ für China lautet stark vereinfacht etwa so:

Der Volksrepublik ist es in den vier Jahrzehnten seit dem Tod Maos und dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings gelungen, sich aus bitterer Armut emporzuarbeiten. China folgte dem Beispiel Japans, Koreas und Taiwans, etablierte sich als Werkbank der Welt und integrierte sich in das marktwirtschaftliche, regelbasierte Weltwirtschaftssystem westlicher Prägung. Die Krönung dieses Prozesses, der mehreren hundert Millionen Menschen den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglichte, war 2001 die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation WTO. Mit wachsender wirtschaftlicher und militärischer Macht tritt China nun, besonders seit der Amtsübernahme von Xi Jinping Ende 2012, zunehmend selbstbewusst auf der Weltbühne auf.

Doch was ist Chinas Sicht auf die eigene Entwicklung und Position in der Welt? Die Kommunistische Partei, besonders in den Jahren unter Xi, hat zielgerichtet ein Narrativ gewoben, das sowohl die Legitimation des eigenen Herrschaftsanspruchs zementiert wie auch das Verhältnis zu den USA erklärt.

Dieses Narrativ lässt sich in drei Teile gliedern: Erstens die eigene Historie als Zentrum der zivilisierten Welt, zweitens das Jahrhundert der Demütigungen, und drittens der Niedergang des Westens.

Das Reich als Zentrum der zivilisierten Welt

Das wichtigste Element zum Verständnis des chinesischen Selbstbildes ist die Erkenntnis, dass die vergangenen rund 180 Jahre – was dem grössten Teil der Lebensdauer der USA entspricht – in China als absolute historische Ausnahme betrachtet werden.

Die Partei kuratiert sorgfältig das Bild einer seit 3000 Jahren ununterbrochenen Hochkultur mit dem Staat, der sich heute China nennt, als Zentrum der zivilisierten Welt. Unter Xi wurde dieser Zeitraum kurzerhand auf 5000 Jahre ausgedehnt, bis zurück zur mythologischen Figur des Gelben Kaisers. Während dieser Zeit lösten zwar diverse Dynastien einander ab, nie aber ging die Hochkultur unter.

Das ist der zentrale Unterschied zu allen anderen Hochkulturen, auch zum Römischen Reich, da diese allesamt endeten. Selbst wenn das «chinesische» Reich von Invasoren aus den Steppen des Nordens – den Kitan, Mongolen oder Mandschu – überrannt wurde, so erkannten diese jeweils rasch die überlegene Kultur des Reichs, assimilierten sich und reihten sich nahtlos in die Folge der Dynastien ein.

Seit der Zeit der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) wurde das Reich auch von seinen Nachbarn als Zentrum der Zivilisation anerkannt. Das sinozentrische Tributsystem bildete den institutionellen Rahmen der wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zwischen dem Reich und den «barbarischen Völkern».

In Pekings Narrativ stand also der Staat, der sich heute China nennt, in 18 der vergangenen 20 Jahrhunderte wirtschaftlich, technologisch, kulturell und politisch unangefochten an der Spitze der Weltordnung – und das wurde auch von den Nachbarn so anerkannt.

China als Zentrum der Zivilisation: Kaiserpalast in der Verbotenen Stadt.

China als Zentrum der Zivilisation: Kaiserpalast in der Verbotenen Stadt.

(Bild: Unsplash)

Wenn immer eine Dynastie im Niedergang begriffen war, wurde das Reich von ausserordentlich blutigen (Bürger-)Kriegen erschüttert. Chaos, die Absenz von Ordnung, bedeutete in Chinas Geschichtsschreibung jeweils eine Herrschaft von Warlords und Millionen von Toten. Deshalb war die Schaffung und Bewahrung von Ordnung, und damit verbunden das Wohlergehen der Bevölkerung, stets die wichtigste Legitimationsquelle einer Dynastie.

Der Bruch dieses Systems und der Stellung des Reichs in der Welt geschah 1839, in der Spätphase der Qing-Dynastie, mit dem Ersten Opiumkrieg.

Das Jahrhundert der Demütigungen

Die Niederlage des Qing-Reichs gegen Grossbritannien, den Parvenu aus dem äussersten westlichen Zipfel der eurasischen Landmasse, markierte den Beginn des Zeitraums, den die Parteiführung in Peking heute noch das «Jahrhundert der Demütigungen» nennt.

In rascher Folge musste das morsche Qing-Reich eine Schmach nach der anderen einstecken: Gegen die Briten, gegen die Franzosen, während es gleichzeitig von der Taiping-Revolution erschüttert wurde, dem apokalyptischen Aufstand einer religiösen Sekte, der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu 30 Mio. Tote forderte. Briten und Franzosen plünderten 1860, im Zweiten Opiumkrieg, den Sommerpalast bei Peking und zwangen dem Reich die «ungleichen Verträge» von Tianjin auf, durch die China seine Märkte öffnen und Konzessionen in Hafenstädten abtreten musste.

Es folgten weitere Niederlagen, gegen Japan 1894/95 – eine besondere Schmach, weil Japan zuvor während Jahrhunderten als Juniorpartner ins sinozentrische Tributsystem eingebunden war. An der Niederschlagung der Boxer-Rebellion von 1900/01 beteiligten sich sodann nebst britischen und französischen auch amerikanische, russische und deutsche Truppen an Plünderungen und Massakern.

Eine der grössten Demütigungen erfuhr die nach dem Sturz der Qing-Dynastie errichtete Republik China 1919 an der Konferenz von Versailles, als die Siegermächte die Territorialbesitzungen des kollabierten deutschen Kaiserreichs auf der Halbinsel Shandong nicht etwa an Peking zurückgaben, sondern diese Japan zuschanzten. Aus den Studentenprotesten gegen die Versailler Verträge, die als bitterer Verrat des Westens gegen die junge Republik angesehen wurden, entstand die «Bewegung des 4. Mai», aus der im Juli 1921 in Schanghai die Kommunistische Partei Chinas gegründet wurde – die Organisation, die nun ihren 100. Geburtstag feiert.

Es folgte der Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten und Nationalisten, was Japan nutzte, um zunächst die Mandschurei zu besetzen und 1937 die Invasion Chinas zu lancieren. Erst 1949, nach Ende des Krieges gegen Japan und vier weiteren Jahren Bürgerkrieg, mit der Ausrufung der Volksrepublik durch Mao, war das Jahrhundert der Demütigungen vorbei.

Die Partei als Dynastie mit historischer Legitimation

Die heutige Führung der Partei knüpft diese beiden Narrative, die 3000 bis 5000 Jahre ununterbrochene Hochkultur sowie das Jahrhundert der Demütigungen, nun geschickt zusammen (wobei sie die Toten aus der Zeit von Mao elegant ausblendet, indem sie den Staatsgründer als «70% gut» klassifiziert hat): Das Regierungsmotiv von Xi Jinping, «Der Chinesische Traum», spricht explizit von der «grossen Erneuerung der chinesischen Nation» – worunter das Anknüpfen an die frühere Blüte verstanden werden kann –, sowie von der «Überwindung des Erbes des Jahrhunderts der Demütigungen».

Spätestens unter Xi fügt sich die Partei also bewusst in die lange Folge von Dynastien ein, deren Legitimation sich daraus ergibt, dass sie für die Bevölkerung Ordnung und Wohlstand schafft. Der Generalsekretär selbst lässt keinen Zweifel mehr daran, dass er sich als Nachfolger grosser historischer Kaiser sieht.

Historiker, die darauf hinweisen, dass die Abfolge der Dynastien alles andere als nahtlos war und die Ausweitung des Zeithorizonts der Hochkultur auf 5000 Jahre auf dünner Basis steht, werden bezichtigt, «historischen Nihilismus» zu betreiben. Das Narrativ – zu dem auch die Wiederaneignung konfuzianischer Prinzipien gehört, die noch zu Zeiten von Maos Kulturrevolution verhasst waren – steht über jeder Kritik.

Xi will, dass die Volksrepublik bis 2049, dem 100. Jahrestag ihrer Ausrufung, den «Chinesischen Traum» erfüllt hat und wieder ihre rechtmässige Position einnehmen wird, den das Reich der Mitte historisch schon immer besetzt hatte: an der Spitze der Weltordnung.

Und dazu fehlt noch das dritte Teilnarrativ, der Niedergang des Westens.

Der Westen versinkt im Chaos

«Verstecke deine Kraft, warte auf deine Zeit», lautete ein Leitmotiv von Deng Xiaoping, dem bis 2012 alle Männer an der Parteispitze folgten. China reihte sich «brav» ins marktwirtschaftliche, regelbasierte, westlich geprägte Welthandelssystem ein. Xi Jinping ist nun jedoch offensichtlich der Meinung, dass die Zeit gekommen ist, wieder selbstbewusster auf der Weltbühne aufzutreten.

Wieso? Zum einen ist verbürgt, dass sich Xi intensiv mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion befasst und den Schluss gezogen hat, dass die KPdSU am Ende von Schwächlingen geführt wurde, denen die Ideologie abhandengekommen war und die es zuliessen, dass die Partei von Korruption zerfressen wurde. Deshalb hat Xi früh in seiner Amtszeit ein Antikorruptionsprogramm gestartet und gefordert, die Partei müsse zu ihren ideologischen Wurzeln zurückkehren.

Mit Blick auf den Hauptwidersacher Chinas, die USA, ist zum anderen mittlerweile das vorherrschende Narrativ in Peking, dass sich der Westen in einer beschleunigten Phase des Niedergangs befindet. Die verlustreichen Kriege in Afghanistan und Irak, die Finanzkrise von 2008, die Eurokrise, der Brexit-Entscheid und die Wahl von Trump 2016, der Umgang der liberalen westlichen Demokratien mit der Covid-Pandemie: Alle diese Ereignisse bestärken aus chinesischer Perspektive das Narrativ des Niedergangs, wobei die Finanzkrise von 2008 als wichtigste Wegscheide betrachtet werden kann.

Wenn Xi heute nach Amerika blickt, sieht er eine dysfunktionale Demokratie, Waffengewalt, Demonstrationen und Ausschreitungen in den Strassen: Chaos.

Wichtig ist nun aber eine weitere Facette dieses Narrativs: Amerika befindet sich aus Pekings Sicht nicht bloss im Niedergang, sondern es unternimmt in dieser Phase auch noch alles, um Chinas Aufstieg zu vereiteln – aus Neid und in der Hoffnung, damit den eigenen relativen Abstieg etwas zu verzögern. Alle westliche Kritik an «inneren Angelegenheiten» wie Menschenrechte, Xinjiang, Tibet oder Hongkong sieht Peking mit dieser Optik als vorgeschobenen Etikettendiskurs, dessen eigentliches Ziel es ist, den Aufstieg Chinas zu verhindern.

Diese Sichtweise führt zu einer Art nationalistischer Paranoia, in der sich China von feindseligen, neidischen Mächten umzingelt fühlt, die verhindern wollen, dass es seinen rechtmässigen Platz in der Weltordnung einnehmen kann. Deshalb der Beschluss von Xi, dass die Zeit gekommen ist, die eigene Stärke nicht mehr zu verbergen.

Gefährliche Mischung

Das ist die Situation, wie sie sich heute präsentiert: Der Westen sieht China als aufmüpfigen, neureichen Aufsteiger, der vom liberalen Weltwirtschaftssystem profitiert hat und nun arrogant wird.

China sieht dagegen den Westen, symbolisiert durch die USA, als dekadente, im Niedergang begriffene Gesellschaft, die alles unternimmt, um den Wiederaufstieg Chinas zu verhindern. Die Mächte, die das Jahrhundert der Demütigungen verursacht und 1919 den Verrat an China begangen haben, verbünden sich auch jetzt wieder gegen China.

«Kann der Aufstieg Chinas friedlich verlaufen?», lautet die typische Frage westlicher Politologinnen und Historiker. «Kann der Abstieg des Westens friedlich verlaufen?», fragen ihre Kollegen in China dagegen.

Diese Situation ist gefährlich. Sie führt zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen. Sie kann von Populisten auf beiden Seiten genutzt werden, um nationalistische Gefühle aufzupeitschen. In den USA sind die demokratischen Institutionen nach vier Jahren Trump erschüttert, und das Politsystem blickt bereits mit Bange auf die nächsten Wahlen. Xi Jinping auf der anderen Seite hat derart viel Macht in seiner Person gebündelt – und in eklatanter Missachtung des Gebots von Deng Xiaoping einen neuen Kult um seine Person aufgebaut –, dass sein plötzliches Ableben eine schwere Nachfolgekrise auslösen könnte, ähnlich wie der Tod Stalins 1953 in Moskau.

Diese Mischung aus Paranoia, nationalistischer Aufstachelung, relativen Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen Grossmächten sowie dem Potenzial für Fehleinschätzungen kann – auch das zeigt die Welthistorie – zu Unfällen und militärischen Konflikten führen.

Dies zu verhindern, wird auf beiden Seiten ein beträchtliches Mass an Fingerspitzengefühl erfordern. Und ein Verständnis der jeweiligen Narrative. Denn die gleiche Welt kann aus unterschiedlichem Blickwinkel sehr verschieden aussehen.