Analyse

USA vs. China: der definierende Konflikt des 21. Jahrhunderts

Die Grossmächte stehen sich in einer neuen strategischen Rivalität gegenüber, die weit über die Covid-19-Pandemie und die Amtszeit von Donald Trump Bestand haben wird. Kein Unternehmen und kein Investor kann es sich leisten, den Konflikt zu ignorieren.

Mark Dittli
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Peking, 8. August 2008: Chinas Hauptstadt feiert die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele mit einer opulenten Zeremonie, die die Geschichte des Landes und das moderne Gesicht der Volksrepublik zelebriert. Das Spektakel signalisiert, dass China zurückgekehrt ist, nach mehr als hundert Jahren Erniedrigung, Krieg und Armut, und seinen rechtmässigen Platz in der Weltordnung wieder eingenommen hat.

Washington, 7. September 2020: Donald Trump beklagt die Schäden, die das «China-Virus» in der amerikanischen Wirtschaft angerichtet hat, und fordert die US-Unternehmen auf, sich von China zu entkoppeln. «Wir werden alle Unternehmen bestrafen, die Arbeitsplätze in den USA zerstören und in China aufbauen», droht der Präsident der Vereinigten Staaten.

Zwischen diesen beiden Momentaufnahmen liegen kaum mehr als zwölf Jahre. Doch in diesem Zeitraum hat ein Epochenwechsel stattgefunden, der den Rest des 21. Jahrhunderts bestimmen wird. Zwischen den USA und China ist eine vier Jahrzehnte dauernde Phase des konstruktiven Engagements zu Ende gegangen.

Eine neue Ära der strategischen Rivalität hat begonnen.

Konflikt auf vier Ebenen

Die Covid-19-Pandemie hat die Rivalität nicht ausgelöst, aber sie hat sie beschleunigt und zu einer Verhärtung der Fronten beigetragen. Der Konflikt zwischen den USA und China wird weit über die Pandemie hinaus Bestand haben – genauso wie er weit über die Amtsdauer von Trump hinaus Bestand haben wird.

Es ist ein komplexer Konflikt, der sich auf mindestens vier Ebenen abspielt:

  • Handel und Lieferketten
  • Technologie
  • Finanzmärkte und Kapitalströme
  • Geopolitik und Militär

Er wird sich über Jahrzehnte erstrecken, unterbrochen von Entspannungs- und Eskalationsphasen. Der Konflikt wird jeden Staat und jedes Unternehmen auf der Welt tangieren – und jeden Winkel der Finanzmärkte prägen. Kein Unternehmen und kein Investor kann es sich leisten, ihn zu ignorieren.

The Market untersucht im Folgenden die verschiedenen Konfliktfelder und ihre möglichen Konsequenzen.

Historische Fehleinschätzung

Zunächst ein Blick zurück und zur Frage, wie es dazu kam.

Seit dem Besuch Richard Nixons in Peking 1972 und der Aufnahme diplomatischer Verbindungen unter Jimmy Carter 1979 stand die Beziehung zu China in den politischen Eliten der USA stets unter dem Diktum des «konstruktiven Engagements».

Die Beziehung ging durch Höhen und Tiefen – Tiananmen 1989 oder die Taiwan-Krise von 1996 –, doch grundsätzlich herrschte in Washington über die Parteigrenzen hinweg ein Konsens: Die Einbindung Chinas ins westliche, liberale Weltwirtschaftssystem liegt im strategischen Interesse der USA. Dahinter stand die Überzeugung, dass China dem Beispiel Japans, Südkoreas und Taiwans folgen, seinen abgeschotteten Heimmarkt sukzessive öffnen und sich mit steigendem Wohlstand automatisch liberalisieren und demokratisieren würde.

Peking unternahm tatsächlich wichtige Reformschritte, besonders ab 1998 unter Premier Zhu Rongji, was 2001 in der Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation WTO kulminierte.

Doch die Annahme, steigender Wohlstand werde automatisch zu Liberalisierung und Demokratisierung führen, sollte sich als kolossale Fehleinschätzung erweisen.

Die Finanzkrise von 2008 fügte der Strahlkraft des westlichen Systems einen aus chinesischer Perspektive fatalen Schlag zu. Es war Peking, das mit einem gigantischen Infrastrukturinvestitionsprogramm signifikant dazu beitrug, den Absturz der Weltwirtschaft in eine Depression zu verhindern. Doch statt dass es dafür Anerkennung erhielt, wurden China zum wiederholten Mal grössere Mitspracherechte in den Institutionen von Bretton Woods, dem Währungsfonds und der Weltbank, verwehrt.

Die Erfahrungen von 2008 liessen in China vollends das Bewusstsein erstarken, dass ein besserer Weg als die westlich dominierte, liberale Marktordnung existiert. Peking gab sich dafür den Begriff «Kapitalismus chinesischer Prägung», doch besonders unter Xi Jinping, der Ende 2012 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei die Zügel übernahm, verschrieb sich die Volksrepublik einem autoritären, interventionistischen Staatskapitalismus.

Zur selben Zeit bröckelte in Washington der Konsens, wonach die Einbindung Chinas ins liberale Wirtschaftssystem grundsätzlich im Interesse der USA sei. Spätestens im Präsidentschaftswahlkampf von 2015/16, an dessen Ende Trump als Sieger hervorging, etablierte sich die Erkenntnis, dass sich China mit Diebstahl Wettbewerbsvorteile ergaunert, amerikanische Arbeitsplätze zerstört hat und grundsätzlich die Vormachtstellung der USA in der Welt herausfordert.

Offiziell wurde der Paradigmenwechsel in Washington im Dezember 2017 im Strategiebericht zur nationalen Sicherheit:

«China und Russland wollen eine Welt gestalten, die im Gegensatz zu den Werten und Interessen der USA steht. China will die USA im indisch-pazifischen Raum verdrängen und die Reichweite seines staatlich gelenkten Wirtschaftsmodells erhöhen. (...) Jahrzehntelang war die US-Politik in der Überzeugung verwurzelt, Chinas Aufstieg und Integration in die internationale Nachkriegsordnung werde das Land liberalisieren. Entgegen unseren Hoffnungen expandierte China aber seine Macht auf Kosten der Souveränität anderer Staaten.»

Wenig später begann die erste Eskalationsphase: der Handelskrieg.

Handelskrieg als Startschuss zur Entkopplung?

Die von Trump ab 2018 verhängten und mehrmals verschärften Strafzölle auf Importen aus China haben in den vergangenen zwei Jahren viele Schlagzeilen produziert. Im Grunde genommen war das jedoch ein kleines Konfliktfeld, das eng auf den Abbau des bilateralen Handelsdefizits der USA ausgerichtet war und im Januar 2020 in der Unterzeichnung des Phase-1-Abkommens mündete.

Doch damit ist die Auseinandersetzung nicht vorbei. Im Rahmen des laufenden Präsidentschaftswahlkampfs haben beide Kandidaten, Trump und Joe Biden, die amerikanische Wirtschaft aufgefordert, «strategische» Lieferketten zu repatriieren oder aus China in verlässlichere Staaten zu verlagern. Trump kaschiert nicht, dass er die beiden eng verzahnten Volkswirtschaften voneinander abkoppeln will.

Der Handel ist jedoch nur die Vorstufe für ein viel grösseres und bedeutungsvolleres Konfliktfeld: die Technologie.

Zwei konkurrierende Technologiesphären

Die USA konnten sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg – nach vergleichsweise kurzen Herausforderungen durch die Sowjetunion in den Fünfziger- und Japan in den Achtzigerjahren – stets ihrer technologischen Überlegenheit sicher sein. Diese wiederum gab Washington das Privileg, die Standards in der technologischen Entwicklung zu setzen – ein Wettbewerbsvorteil, den schon Grossbritannien Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Rivalität mit Deutschland auszunutzen wusste, denn eng verbunden mit der technologischen Vorherrschaft ist die militärische Überlegenheit.

China fordert unter Xi offen die Vormachtstellung der USA auf dem Feld der Technologie heraus. Die Volksrepublik will dem Status der «Fabrik der Welt» entwachsen und hat die Ambition formuliert, im Bereich digitaler Technologien wie künstliche Intelligenz oder Telekommunikation eine Führungsrolle zu übernehmen.

Washington blieb in Bezug auf diese Herausforderung lange Zeit ambivalent, was sich unter anderem damit erklärt, dass Käufer aus China die wichtigsten Kunden der amerikanischen Halbleiterindustrie sind und damit ein beträchtlicher Teil der technologischen und militärischen Basisforschung in den USA von China finanziert wird. Aus diesem Grund hat sich das Pentagon gegen allzu offensive Massnahmen gegen chinesische Technologiekonzerne gesträubt.

Doch im Sommer 2020 hat unter dem Eindruck der Pandemie eine Eskalation stattgefunden. Washington hat beschlossen, den Finger auf die Abhängigkeit Chinas von Chips und Halbleitertechnologie aus dem USA, Taiwan und Südkorea zu legen. «China versucht zwar mit Hochdruck, eine eigene Halbleiterindustrie zu entwickeln, doch der technologische Rückstand beträgt nach wie vor drei bis sieben Jahre», sagt Kevin Rudd, ehemaliger Premierminister Australiens und Präsident des Asia Society Policy Institute, im Gespräch mit The Market.

Mit einer Reihe von Massnahmen hat die Trump-Regierung chinesischen Konzernen wie Huawei per 15. September den Zugang zu Chips abgeschnitten, die irgendwo auf der Welt mithilfe von amerikanischer Technologie hergestellt wurden. Gemäss Dan Wang von der Hongkonger Research-Boutique Gavekal kommt das einem Todesurteil für Huawei gleich.

Die Antwort Pekings darauf ist zweiteilig. Erstens verzichtet Chinas Regierung bis anhin auf gezielte Vergeltungsmassnahmen gegen US-Konzerne wie Apple, Qualcomm oder Starbucks, die einen beträchtlichen Teil ihres Umsatzes in der Volksrepublik erwirtschaften. Die Strategie baut darauf, die US-Unternehmen als Quelle von Direktinvestitionen nicht zu vergraulen und ihre Lobby in Washington als Fürsprecher für China zu erhalten.

Zweitens arbeitet China gezielt daran, eigene Technologiestandards zu etablieren, um nicht von Washington abhängig zu sein. Am Nationalen Volkskongress im Mai enthüllte die Regierung einen mit umgerechnet 1400 Mrd. $ dotierten Fünfjahresplan zur Entwicklung «neuer Infrastruktur» in Bereichen wie künstliche Intelligenz, 5G und dem industriellen Internet. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Weltwirtschaft im Lauf der kommenden Jahre in zwei miteinander konkurrierende Technologiesphären – oder wie es ein Strategiebericht der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin nennt: zwei technopolitische Einflusszonen – zerfällt.

Eine Studie der Deutschen Bank kommt zum Schluss, dass der «Tech Cold War» eine Mauer zwischen Technologiestandards errichten wird, die wenig oder gar keine Interoperabilität haben werden. Dabei geht es nicht bloss um Mobilfunkstandards wie 5G, sondern auch um Themen wie Satellitennavigation, Betriebssysteme, Standards in der Chiparchitektur und das Internet – mit horrenden Kostenfolgen für alle Unternehmen, die beide Standards parallel übernehmen müssen.

Das dritte Konfliktfeld blieb bis anhin vergleichsweise ruhig, hat jedoch das Potenzial, grosse Verwerfungen an den Märkten zu verursachen: das Finanzsystem.

Der Dollar als Waffe

«Es gibt drei Dinge, die China heute in Bezug auf die USA wirklich noch fürchtet», sagt Kevin Rudd: «Das amerikanische Militär, die Chiptechnologie – und den Dollar.» Der Dollar ist die unangefochtene Handels- und Reservewährung der Welt. Und Xi weiss, dass der Greenback die Achillesferse Chinas auf den Weltmärkten ist.

Der Dollar ist Chinas Achillesferse.

Der Dollar ist Chinas Achillesferse.

(Bild: Bloomberg)

Washington hat an Beispielen wie Iran gezeigt, wie die USA den Dollar als Waffe einsetzen können. Die meisten grenzüberschreitenden Kapitalflüsse werden in der US-Valuta abgerechnet, wobei die involvierten Banken das Swift-Netzwerk benutzen. Die amerikanische Regierung kann damit potenziell jeden Staat faktisch von den internationalen Kapitalströmen abschneiden, wenn sie Dollartransaktionen im Zusammenhang mit dem betreffenden Staat untersagt. Keine Bank im Swift-System kann es sich leisten, dagegen zu verstossen, denn Sanktionen wären tödlich.

Bis anhin hat die Trump-Regierung bloss harmlose Massnahmen gegen China an den Kapitalmärkten verhängt: Öffentliche Pensionskassen in den USA wurden aufgefordert, nicht mehr in chinesische Wertschriften zu investieren, und chinesische Unternehmen, deren Aktien am Nasdaq oder an der New York Stock Exchange kotiert sind, müssen anerkannte Rechnungslegungsstandards benutzen. Sonst müssen sie die USA verlassen – was bereits zu einem Exodus an die Börse von Hongkong geführt hat.

«Das waren zwei Schüsse vor den Bug Pekings», sagt Rudd. Eine nächste Massnahme mit weit grösseren Auswirkungen wäre die Sanktionierung einer kleinen chinesischen Bank, die Geschäfte in Hongkong macht.

Ein Grund, weshalb das US-Schatzamt zurückhaltend mit einer Eskalation ist, liegt in der Tatsache, dass Festlandchina für amerikanische Banken ein lukratives, wachsendes Geschäftsfeld ist. Chinas Staatsführung weiss das – und empfängt ausländische Finanzdienstleister gegenwärtig mit auffallend offenen Armen. Es ist kein Zufall, dass JPMorgan, Citi und Morgan Stanley im bevorstehenden Börsengang des Fintech-Riesen Ant Group eine tragende Rolle erhalten haben.

Ebenso ist es kein Zufall, dass sich die People’s Bank of China (PBoC) als die «letzte vernünftige» unter den grossen Zentralbanken inszeniert und der Finanzwelt zu verstehen gibt, sie werde weder Negativzinsen noch eine direkte Defizitfinanzierung in Erwägung ziehen. Das Signal kommt an: Sparkapital strömt nach China, am chinesischen Bondmarkt hatten ausländische Investoren per Ende August umgerechnet gut 400 Mrd. $ angelegt, fast viermal so viel wie drei Jahre zuvor.

Teil der Strategie Pekings ist es, die wichtigen US-Banken dermassen stark einzubinden, dass es sich jede Regierung in Washington zweimal überlegen muss, ob sie den Dollar als Waffe gegen China einsetzen – und einen Kurssturz an Wallstreet provozieren – will.

Gleichzeitig arbeitet Chinas Staatsführung zielstrebig daran, den Renminbi zu internationalisieren, indem beispielsweise Rohöl- und Goldkontrakte an den Börsen von Schanghai und Hongkong in Renminbi abgewickelt werden können. Auch das von der PBoC vorangetriebene Projekt einer Digitalwährung könnte in späteren Stufen der Internationalisierung des Renminbis dienen.

Land- gegen See-Imperium

Die vierte Ebene schliesslich sind die Geopolitik und die Frage militärischer Auseinandersetzungen. Während auf den Ebenen Handel, Technologie und Finanzmärkte primär ein Zwist zwischen zwei Kapitalismus-Ideologien ausgefochten wird – autoritärer Staatskapitalismus versus liberales Marktsystem –, stehen sich China und die USA militärisch in der klassischen Konstellation «Aufsteiger gegen Hegemon» gegenüber.

China ist ein Landimperium, mit 22’000 Kilometern Grenze und vierzehn Nachbarstaaten, wovon vier über Nuklearwaffen verfügen. Für 90% ihres Handels und 40% ihrer Ölimporte ist die Volksrepublik aber von Seefahrtsrouten abhängig. Diese Routen wiederum werden vom dominanten See-Imperium, von den USA, kontrolliert, wobei die Amerikaner über einen Inselring von Japan über Okinawa bis Guam Chinas Zugang zum Ozean limitieren.

Diese Konstellation birgt grosses Konfliktpotenzial für einen – möglicherweise unbeabsichtigten – «heissen» Krieg. Sie muss freilich nicht zu einem militärischen Zusammenstoss führen. Aber sie kann – wobei die Südchinesische See und Taiwan die primären Fokuspunkte sein werden.

Höhere Kosten, höhere Ungewissheit

Die Konsequenzen dieses vielschichtigen Konflikts des 21. Jahrhunderts für Wirtschaft und Finanzmärkte werden ebenso komplex sein. Unternehmen werden sich überlegen müssen, ob sie es sich leisten können, auf China zentrierte Lieferketten zu unterhalten – oder ob es sinnvoll ist, redundante Lieferketten in anderen Regionen aufzubauen.

Ebenso werden sie sich überlegen müssen, ob sie es sich leisten können, in beiden entstehenden Technologiesphären präsent zu sein. Für Zulieferer kritischer Industrien wie Halbleiter könnte sich schon bald die Frage stellen, ob sie sich in rechtlich voneinander unabhängige Entitäten aufspalten müssen, um vor Sanktionen aus Washington geschützt zu sein.

Alle diese Entscheidungen werden mit Kosten verbunden sein, was sich entweder in dünneren Margen für die Unternehmen oder in höheren Preisen für die Endabnehmer auswirken wird.

Für Staaten in «neutralen» Wirtschaftsräumen wie Europa und Südostasien wird sich überdies die Frage stellen, ob sie sich für eine Seite entscheiden müssen – wiederum mit Konsequenzen für Unternehmen, die möglicherweise von einem Markt ausgeschlossen werden. Vielleicht gelingt es Staaten und Regionen aber auch, für beide Seiten «nützlich» zu bleiben, genauso wie das beispielsweise Singapur und der Schweiz über Jahrzehnte gelungen ist.

Der Konflikt hat erst begonnen. Gegenwärtig hinterlässt er noch mehr Fragezeichen als Antworten. Doch eines ist so gut wie sicher: Er wird Jahrzehnte dauern. Und es wird kaum Bereiche der Wirtschaft geben, die nicht von ihm tangiert werden.