Analyse

Warum Roche die bessere Wahl ist als Novartis

Die Titel der beiden Pharmakonzerne sind gemäss den Modellrechnungen der Analysten unterbewertet. Die Namenaktie von Novartis bietet etwas mehr Aufwärtspotenzial als der Genussschein von Roche. Im Vergleich birgt Letzterer jedoch deutlich weniger Risiken.

Michael Griesdorf
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Stockpicker haben derzeit ein schweres Los. Gemessen an der Differenz zwischen dem durchschnittlichen Kursziel der Sell-Side-Analysten und der aktuellen Notierung ist das Potenzial von Schweizer Aktien weitgehend ausgereizt. Von allen Titeln, die von mindestens zehn Analysten abgedeckt werden und bei denen somit eine ausreichend grosse Meinungsdiversität besteht, bieten nur noch fünfzehn ein Aufwärtspotenzial im zweistelligen Prozentbereich an.

Noch dürftiger wird die Auswahl, wenn man voraussetzt, dass mindestens 60% aller Analysten, die den jeweiligen Valor abdecken, ihm nicht nur hohes Aufwärtspotenzial attestieren, sondern ihm auch noch das Prädikat «Kaufen» bzw. «Übergewichten» geben. Wird dieser Filter zusätzlich angewandt, reduziert sich die Liste nochmals auf sechs Aktien. Sie sind in der folgenden Tabelle abgebildet:

Gerade an Healthcare-Unternehmen interessierte Investoren sollten sich die Kursziele der Analysten derzeit jedoch gut anschauen. Unter den sechs oben aufgeführten Valoren befinden sich nämlich auch die beiden Pharmaschwergewichte Novartis 📈 und Roche 📈. Bei Novartis sehen die Analysten weiterhin Kurschancen von ungefähr 22%. Bei Roche beträgt das Aufwärtspotenzial rund 17%. Anleger haben also die Qual der Wahl.

Novartis steht am Punkt, wo Roche vor zwei Jahren war

Auf den ersten Blick verspricht Novartis etwas mehr Kurspotenzial als Roche. Erst am Mittwoch hat beispielsweise Morgan Stanley dem Unternehmen ein Kränzchen gewunden und die Valoren mit einem Preisziel von 101 Fr. je Titel von «Markt-» auf «Übergewichten» hochgestuft.

Laut der US-Bank unterschätzen Investoren bei Novartis nicht nur das Wachstums- und Margenpotenzial der Generikadivision Sandoz mit ihren diversen biologischen Nachahmermedikamenten (Biosimilars). Die Gesellschaft steht laut Morgan Stanley auch dort, wo Roche vor rund zwei Jahren gestanden hat, nämlich nicht mehr weit weg von einer steilen Patentklippe, dafür aber mit einer stark unterschätzten Pipeline, deren Wert sich Schritt für Schritt materialisieren wird.

Um die Aussage von Morgan Stanley besser zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick zurück:

Bei Roche wurde Mitte 2018 den meisten Investoren bewusst, dass die drei Megablockbuster, Herceptin, Avastin und Rituxan in den kommenden Jahren wegen des Patentablaufs schrittweise von immer mehr Biosimilars konkurriert und damit massiv an Umsatz verlieren werden. Zusammen erzielten die drei Arzneimittel damals einen Erlös von 20,5 Mrd. Fr. bzw. 36% des Gruppenumsatzes. Es drohte ein mehrjähriger Umsatzrückgang auf Konzernebene.

Schritt für Schritt konnten CEO Severin Schwan und der neue Chef der Pharmadivision Bill Anderson (ab Januar 2019 im heutigen Amt) die Aktionäre dann aber vom hohen Potenzial der vielen Medikamente in der Entwicklung sowie einzelnen neueren, bereits zugelassenen Wirkstoffen wie bspw. dem Multiple-Sklerose-Mittel Ocrevus oder dem Hämophilie-Medikament Hemlibra überzeugen.

Die beiden Manager haben nicht zu viel versprochen und haben den Worten tatsächlich Taten folgen lassen. «Die jüngst lancierten Wirkstoffe entwickeln sich sehr stark, sprich sie verhelfen Roche zu Wachstum auch in den Jahren mit starker generischer Erosion», sagt Vontobel-Analyst Stefan Schneider im Gespräch mit The Market. So blieb Roche trotz der Biosimilar-Konkurrenz 2019 in Lokalwährung auf Wachstumskurs und wird es wohl auch dieses und in den nächsten Jahren bleiben, denn ab 2021 ist die Talsohle bei Herceptin und den anderen alten Wirkstoffen wohl weitgehend erreicht.

Die Anleger honorierten denn auch fortan das Geleistete. Der Kurs des Genussscheins von Roche ist seit Mitte 2018 um über 50% gestiegen und hat damit den SPI in dieser Zeit klar geschlagen.

Wie Roche vor zwei Jahren befindet sich nun auch Novartis heute in einer Situation, in der ihr diverse Patente wegbrechen und sie den kritischen Investoren beweisen muss, dass sie dank neuer Medikamente weiterhin wachsen kann.

Bereits im zweiten Semester des letzten Jahres begann der Patentwall zu bröckeln. So verlor die Gesellschaft das Exklusivrecht auf die Medikamente Afinitor (Umsatz 2019: 1,5 Mrd. $), Exjade (975 Mio. $) und Sandostatin (1,5 Mrd. $). Weitere Arzneimittel werden in den nächsten Jahren folgen, darunter die Multimilliardenprodukte Lucentis (2,1 Mrd. $) und Tasigna (1,9 Mrd. $) und möglicherweise auch Gilenya (3,2 Mrd. $) und Entresto (1,7 Mrd. $).

Morgan Stanley rechnet damit, dass sich die Einnahmen aus den vom Patentablauf betroffenen Wirkstoffen (blaue Balken in der Grafik unten) von heute rund 25 Mrd. $ bis Ende 2028 auf etwas unter 10 Mrd. $ verringern werden. Die bisherigen Neulancierungen (gelbe Balken) werden dabei das dadurch entstandene Loch wegen unterschiedlichster Rückschläge zudem womöglich nicht gänzlich füllen können.

Vertikale Achse: Umsatz in Mio. $. Kategorie «Other»: Bezieht sich auf Einkommen aus Lizenzvergaben, Gewinnbeteiligungsvereinbarungen mit Kooperationspartnern sowie aus Meilensteinzahlungen.

Vertikale Achse: Umsatz in Mio. $.
Kategorie «Other»: Bezieht sich auf Einkommen aus Lizenzvergaben, Gewinnbeteiligungsvereinbarungen mit Kooperationspartnern sowie aus Meilensteinzahlungen.

Quelle: Morgan Stanley

«Seit Ende vergangenen Januars mussten wir mit einer Reihe von Herausforderungen kämpfen, deren erfolgreiche Bewältigung wir erst noch unter Beweis stellen müssen», gab sich selbst CEO Vas Narasimhan vor rund zwei Wochen in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» demütig.

Kein Wunder, stellen sich Investoren derzeit also die Frage, ob Novartis ohne teure und damit die Kapitaleffizienz schmälernde Übernahmen langfristig wachsen kann, zumal Narasimhan in jüngster Vergangenheit bereits mehrfach relativ teuer akquiriert hat.

Morgan Stanley zumindest ist der Meinung, dass die Misserfolge alles in allem nicht weiter schlimm sind. Diverse weitere Produkte in der späten und mittleren Entwicklungsphase (grüne Balken in der Grafik oben) seien ebenfalls erfolgversprechend und würden zusammen mit dem künftigen Wachstum von Sandoz genügend Umsatzpotenzial aufweisen, damit Novartis trotz Rückschlägen langfristig weiterhin leicht an Umsatz zulegen könne, lässt sich das Fazit der US-Bank in etwa zusammenfassen.

Die Aktie von Novartis ist eine Frage der Risikolust

So gesehen brauchen Investoren bei Novartis also nichts anderes als etwas Vertrauen in die Pipeline und in das Potenzial der Generikasparte. Es ist durchaus möglich, dass Novartis trotz aller Unkenrufe auch in vier bis fünf Jahren letztlich immer noch ansprechende Wachstumsraten liefern wird. Doch warum auf das Prinzip Hoffnung setzen und Risiken eingehen, wenn es entspannter geht?

Aufgrund der eingangs erwähnten gegenwärtigen Bewertungssituation bietet sich den Anlegern mit Roche ja eine fast genauso attraktive Anlage. Man kann sich somit die Frage stellen, warum man mit Novartis eine (sinnbildlich gesprochen) risikobehaftete Roche von vor zwei Jahren kaufen sollte, wenn man aktuell eine relativ günstige und obendrein noch solide Roche im Original haben kann.

Als Fazit lässt sich sich also folgendes festhalten bzw. wiederholen:

Basierend auf dem Kursziel der Analysten besteht bei Novartis ein Aufwärtspotenzial von 22%. Bei Roche liegt «das Upside» bei 17%. Sowohl der Valor von Novartis als auch von Roche bieten somit beträchtliche Kurschancen. Bei Novartis ist die mittelfristige Gefahr eines Umsatzrückgangs und damit einhergehend von (zu) teuren und damit renditeschmälernden Übernahmen um den Rückgang aufzufangen, jedoch deutlich grösser als bei Roche.

Insgesamt verfügt Roche damit gegenwärtig über das bessere Rendite-Risiko-Profil als Novartis.

Im Übrigen weist Roche mit über 30% bereits heute eine deutlich höhere Rendite auf das investierte Kapital aus, als dies Novartis mit ungefähr 11% tut. Für Investoren, die neben Value auch auf Qualität bedacht sind, kann auch das ein Argument für Roche und gegen Novartis sein.