Interview

«Der Aktienmarkt ist verrückt, und er wird noch viel verrückter werden»

Chen Zhao, Gründer der kanadischen Research-Boutique Alpine Macro, glaubt, dass die Geld- und Fiskalpolitik in den USA eine gewaltige Spekulationsblase aufblähen wird.

Mark Dittli
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Chen Zhao beschäftigt sich seit dreissig Jahren mit dem grossen Bild an den globalen Finanzmärkten. Unzähligen Investoren weltweit ist er als langjähriger Chefstratege und Verfasser der Global Investment Strategy von BCA Research bekannt.

Heute ist Zhao zuversichtlich für die Entwicklung an den Aktienmärkten. Er sieht die Zutaten für eine kräftige Erholung der Weltwirtschaft, und er hält die Ängste vor höherer Inflation für übertrieben.

Er sieht das Potenzial, dass die Geldpolitik der US-Notenbank eine neue Spekulationsblase aufblähen wird. «Diese Blase wird viel grösser sein als die der Neunzigerjahre, und sie wird wahrscheinlich viel länger dauern, als wir denken», sagt er. Sorgen bereitet ihm der wachsende Konflikt zwischen den USA und China. Die Gefahr einer Eskalation um Taiwan sei so gross wie nie in den letzten vierzig Jahren, mahnt Zhao.

«Wir müssen uns auf eine lange Konfrontation zwischen den USA und China einstellen»: Chen Zhao.

«Wir müssen uns auf eine lange Konfrontation zwischen den USA und China einstellen»: Chen Zhao.

Herr Zhao, im Februar und März haben wir einen kräftigen Anstieg der langfristigen Zinsen in den USA erlebt, was die Börsen belastete. Was lesen Sie daraus?

Steigende Bondrenditen sollte man konzeptionell in zwei Phasen zerlegen. Die erste ist reflektierend, das heisst, der Bondmarkt versucht, Ihnen etwas über die Wirtschaft zu sagen. Steigende Renditen spiegeln ein stärkeres Wachstum. Die Entwicklung könnte jedoch auch in eine Phase übergehen, in der die Bondrenditen zu hoch steigen und die Wirtschaftsaktivität einschränken. Meiner Einschätzung nach ist der jüngste Anstieg der Zinsen rein reflektierend. Der ISM-Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe in den USA ist auf dem höchsten Stand seit 1983, die Weltwirtschaft befindet sich in einer kräftigen Erholung. Unter diesen Umständen würde ich mir mehr Sorgen machen, wenn die Bondrenditen nicht stiegen.

Spielen nicht auch steigende Inflationserwartungen eine Rolle?

Ich sehe keinen klaren Ausbruch in den Inflationserwartungen. Viele Leute vergessen, dass die Inflationserwartungen im Jahrzehnt nach der globalen Finanzkrise kollabiert sind. Die Märkte machten sich mehr Sorgen um Deflation. Die marktbasierten Inflationserwartungen, die sogenannten Breakeven Rates, liegen derzeit zwischen 2 und 2,2%, während sie im Jahrzehnt vor 2009 eher bei 2,5 bis 3% lagen. Die Inflationserwartungen befinden sich derzeit also bloss im Prozess der Normalisierung.

Werden die langfristigen Zinsen weiter steigen?

Gemäss unserem Modell liegt die Rendite zehnjähriger Treasury Notes heute mit rund 1,5% ziemlich genau auf dem fairen Wert. Aber wir wissen, dass bei einer zyklischen Bewegung an den Finanzmärkten nichts beim fairen Wert stehen bleibt. Die Preise schiessen oft über das Ziel hinaus. Wir könnten also einen Anstieg der Zehnjahreszinsen in Richtung 2% oder etwas mehr sehen. Wenn sie sich 2% nähern, würde ich langfristige Treasuries kaufen.

Befürchten Sie nicht, dass sich strukturelle Inflation aufbaut?

Ganz und gar nicht. Es herrscht ein weit verbreitetes Missverständnis zu diesem Thema. Viele Leute sehen bloss das riesige Haushaltsdefizit der USA, das sich auf fast 20% der Wirtschaftsleistung beläuft. Sie sehen, wie sich die Fed-Bilanz seit Anfang 2020 um 7 Bio. $ ausgeweitet hat und die Geldmenge M2 explodiert ist. Dann kommen sie zum Schluss, das müsse zwingend inflationär sein. Nach meiner Erfahrung ist etwas, das so offensichtlich ist, aber meist falsch.

Wie meinen Sie das?

Folgendes ist geschehen: Im Jahr 2020 hat die US-Regierung Rettungspakete im Umfang von 3,5 Bio. $ aufgelegt, die Staatsverschuldung ist um 3,6 Bio. $ gestiegen. Gleichzeitig stieg das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte um 3,5 Bio., und ihre Ersparnisse erhöhten sich um 5,5 Bio. $. Die Haushalte sparten also nicht nur alle Transferzahlungen, die sie vom Staat erhalten haben, sondern sie sparten sogar noch 2 Bio. $ mehr. Die Regierungsprogramme trugen absolut nichts dazu bei, die gesamtwirtschaftliche Endnachfrage und das BIP-Wachstum zu steigern. Das war kein fiskalischer Stimulus zur Ankurbelung der Gesamtnachfrage, sondern eine Transferzahlung – genau der gleiche Effekt wie eine einmalige Steuersenkung. Gibt man den Menschen eine einmalige Steuersenkung, werden sie das Geld nicht ausgeben, sondern sparen. Das besagt die Hypothese permanenter Einkommen, und genau das ist passiert.

Denken Sie nicht, dass sich ein Konsumstau entladen wird, sobald die Wirtschaft wieder in Gang kommt?

Doch, es wird einen Nachfrageschub geben. Die Konsumausgaben sind ein Jahr lang unterdrückt worden. Wenn sich die Weltwirtschaft öffnet, werden diese Ausgaben freigesetzt. Aber das ist nicht inflationär, denn die Leute werden nicht die nächsten zwanzig Jahre lang feiern. Sie werden für die nächsten sechs Monate oder so feiern. Damit Inflation eine echte Bedrohung darstellt, muss die Gesamtnachfrage das Gesamtangebot nachhaltig übersteigen. Ich sehe nicht, dass das in nächster Zeit geschehen wird.

Bedeutet das auch, Sie sehen keinen strukturellen Bärenmarkt für Bonds?

Richtig, ich sehe nicht die Treiber für strukturell höhere Zinsen. Deshalb denke ich, dass zehnjährige Treasury-Renditen von über 2% eine Kaufgelegenheit darstellen.

Was müsste geschehen, damit Sie Ihre Meinung ändern?

Ich würde meine Meinung ändern, wenn die Regierung massenhaft neue Strassen und Brücken bauen würde und sich alles von der US-Notenbank finanzieren liesse.

Sieht der 2,3 Bio. $ schwere Infrastrukturplan von Präsident Biden nicht genau das vor?

Das vorgeschlagene Paket ist nur ein kleiner Schritt in diese Richtung. Es sieht die Ausgaben über acht Jahre vor, so dass sich sein jährlicher Effekt bloss auf etwa 0,8 oder 0,9% des BIP belaufen würde. Darüber hinaus schlägt Biden höhere Steuern vor, um das Projekt zu finanzieren. Der Infrastrukturplan schafft also auf der einen Seite etwas Wachstum, während er es auf der anderen Seite durch höhere Steuern wieder wegnimmt. Sein Nettoeffekt wird nur 0,4 bis 0,5% des BIP pro Jahr betragen. Das wird kein Game Changer in Bezug auf die Inflation sein.

Liegen denn alle Leute falsch, die vor höherer Inflation warnen?

Meiner Meinung nach haben die Zentralbanken in den letzten dreissig Jahren völlig falsch über die Phillips-Kurve gedacht. Jedes Mal, wenn der Arbeitsmarkt zu stark wurde, meinten sie, die Zinsen erhöhen zu müssen, weil sie Lohninflation befürchteten. Heute wissen wir jedoch, dass eine tiefe Arbeitslosenrate noch lange keine Lohninflation bedeutet. Im Grunde genommen ist der Kapitalismus der freien Marktwirtschaft deflationär.

Warum?

Weder Sie noch ich erhalten mehr Lohn für unsere Arbeit als den Wert unserer Grenzleistung. In unserer Gesellschaft als Ganzes wird Arbeit immer an oder unter ihrer Grenzleistung bezahlt. In einer sozialistischen Wirtschaft ist es umgekehrt, da die Arbeitenden dort normalerweise mehr als ihre Grenzleistung erhalten. Solange unsere westliche Gesellschaft also keinen sozialistischen Weg wählt, und solange wir keinen erheblichen Rückgang der Arbeitsproduktivität erleben, sehe ich keine Rückkehr struktureller Inflation.

Was ist heute anders als in den Siebzigerjahren, als wir hohe Inflation hatten?

In den Siebzigern hatten wir in den USA mächtige Gewerkschaften, die die Arbeitskosten in die Höhe trieben, aber die Produktivität niedrig hielten. Das war das Erbe des New Deal von Präsident Roosevelt, der meiner Meinung nach sehr sozialistisch war. Hinzu kam der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, der den Dollar um 50% abwerten lies, was zu einem sprunghaften Anstieg der Warenpreise führte. Schliesslich waren die USA in den Siebzigern eine Produktionsmacht, und die Ölkrise führte zu einem enormen Stagflationsdruck. Nichts davon ist heute der Fall.

Die Terminmärkte erwarten, dass das Fed 2022 beginnen wird, die Leitzinsen zu erhöhen. Die Verantwortlichen des Fed deuten aber an, dass sie länger warten werden. Wer hat recht?

Wenn man das vergangene Jahrzehnt betrachtet, war die Fed-Politik immer zu straff: Der vom Fed projizierte Zinspfad, wie er in den sogenannten Dot Plots zu sehen ist, war immer höher als die Markterwartungen. Deshalb erlitten die Finanzmärkte eine Reihe von Erschütterungen: Das Taper-Tantrum 2013, den Einbruch der Rohstoffpreise 2015, den Einbruch der Aktienmärkte Ende 2018. Zehn Jahre lang blieb die Inflation unter den Zielwerten, und wir erlebten ein periodisches Börsenchaos als Folge der zu straffen Geldpolitik. Am Ende hat das Fed stets nachgegeben. Jetzt ist es umgekehrt: Der Markt preist bis Ende 2023 bereits vier oder fünf Zinserhöhungen ein, während die Fed-Leute andeuten, dass sie vor 2024 nichts tun werden.

Welche Seite wird gewinnen?

Wenn man nur die Lektionen des letzten Jahrzehnts betrachtet, würde man sagen, dass der Markt recht hat. Der grosse Unterschied heute ist, dass das Fed seine alte Reaktionsfunktion abgelegt hat und so lange ultra-stimulativ bleiben will, bis die Inflation eine Weile über 2% liegt. Die US-Notenbank sagt unmissverständlich, sie sei bereit, Wirtschaft und Inflation heisser laufen zu lassen als früher. Es ist also möglich, dass das Fed viel länger expansiv bleiben wird, als die Märkte denken.

Was wären die Folgen dieser Fed-Politik?

Eine Folgerung ist ziemlich offensichtlich: Der Aktienmarkt ist bereits verrückt geworden und wird noch verrückter werden. Wenn Sie die Arbeiten von Charles Kindleberger gelesen haben, wissen Sie, dass Spekulationsblasen regelmässig wiederkehren und dass sie normalerweise durch eine lockere Geldpolitik und ein Übermass an Liquidität angetrieben werden. Die neue Politik des Fed plus die Unterstützung durch die Fiskalpolitik bedeutet, dass die Börsen in eine Blasenbildung gehen dürften.

Wie gross kann diese Blase werden?

Wenn man sich die Historie ansieht, ist nie eine Blase geplatzt, als die Geldpolitik noch locker war. Spekulationsblasen platzen, wenn die Zentralbanken die Geldpolitik bis zu dem Punkt straffen, an dem die Zinskurve invers wird. Davon sind wir heute weit entfernt.

Würden Sie sagen, wir stehen erst am Anfang dieses Prozesses?

Wir befinden uns im Anfangsstadium einer Börsenblase, vor allem in den USA. Ich sehe viele Anzeichen für spekulatives Verhalten, sei es Bitcoin, Gamestop, und so weiter. Aber es ist noch nicht so allgegenwärtig wie in den späten Neunzigern. Als die Technologieblase im Jahr 2000 platzte, waren alle euphorisch. Heute sind viele Anleger immer noch skeptisch. Wenn sie das Handtuch werfen, dann beginnt die letzte Phase der Blasenbildung. Diese Blase wird viel grösser sein als die der Neunzigerjahre, und sie wird wahrscheinlich viel länger dauern, als wir denken.

Wie wird diese Entwicklung ablaufen?

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass wir in den nächsten rund zwei Jahren eine sich aufbauende Aktienblase sehen werden, bei der die Bewertungen weit nach oben gehen. Dann kommt der Punkt, an dem das Fed einfach nicht mehr expansiv bleiben kann. Sie werden die Leitzinsen anheben, und das würde die Blase zum Platzen bringen. Das wird ein gewaltiger deflationärer Schock sein, und ich denke, dass die Bondrenditen in den USA dann auf null sinken werden, genau wie in Japan und in Europa.

Der Dollar hat sich seit Januar zwischenzeitlich deutlich aufgewertet, was viele Marktteilnehmer überrascht hat. Warum war das so?

Vergessen Sie nicht, dass der Dollar im letzten Jahr fast 11% gefallen war. Zu Beginn dieses Jahres war er stark überverkauft, eine Erholung war also fällig. Für die Zukunft sehe ich die Voraussetzungen für eine weitere Abschwächung gegeben. In den letzten zwanzig Jahren wurde der Dollar jedes Mal stärker, wenn die Weltwirtschaft einbrach, und jedes Mal schwächer, wenn sich die Weltwirtschaft erholte.

Was ist der Grund für dieses Muster?

Die Leute sagen, der Dollar sei eine Safe-Haven-Währung, aber ich sehe das nicht so. Der Yen und der Franken sind viel bessere sichere Häfen. Von den Siebziger- bis in die Neunzigerjahre hinein war der Dollar prozyklisch, das heisst er stieg mit einer stärkeren Weltwirtschaft. Das änderte sich um das Jahr 2000. Der Grund dafür ist meiner Meinung nach, dass sich grosse Teile der entwickelten Welt in einer Liquiditätsfalle befinden. In einer Liquiditätsfalle gibt es eine unendliche Nachfrage nach Dollar. Jedes Mal, wenn wir einen wirtschaftlichen Einbruch haben, vertieft sich die Liquiditätsfalle, und die Nachfrage nach Dollar steigt. Und jedes Mal, wenn es der Wirtschaft besser geht, wird die Liquiditätsfalle flacher, und die Nachfrage nach Dollar sinkt. Wenn ich also davon ausgehe, dass die Weltwirtschaft in der zweiten Jahreshälfte einen Boom beginnt, dann können wir keinen stärkeren Dollar haben.

Wenn Sie die weltweiten Aktienmärkte betrachten, wo sehen Sie derzeit die besten Anlagechancen?

Ich verstehe mich als Value-Investor, daher mag ich europäische Aktien. Ich würde Deutschland, Frankreich und Italien übergewichten; ihre Bewertungen sind viel attraktiver als die des US-Marktes. Wenn wir einen Wirtschaftsboom haben, werden sich diese Märkte sehr gut entwickeln. Generell würde ich Aktien ausserhalb der USA übergewichten, neben Europa auch Japan.

Ein schwächerer Dollar sollte positiv für Emerging Markets sein, oder?

Wir müssen bedenken, dass die Schwellenmärkte von heute ganz anders aussehen als noch vor zwanzig Jahren. Heute entfallen mehr als 40% des Gewichts im MSCI Emerging Markets Index auf China. In China wird der Aktienmarkt vor allem von Big Tech getrieben, mit Aktien wie Alibaba und Tencent. China hat also ein ähnliches Problem wie der Nasdaq: In einem Umfeld steigender Bondrenditen tendieren diese hoch bewerteten Aktien zu einer Underperformance. Ausserdem hat China begonnen, die Geldpolitik zu straffen. Ich würde im Bereich Emerging Markets in das Rohstoffsegment, sprich Lateinamerika, umschichten. Brasilien ist wegen des Versagens der Bolsonaro-Regierung in der Pandemie-Krise stark angeschlagen, aber für jeden Kummer gibt es einen Preis, und ich denke, dass brasilianische Aktien billig genug sind, um alles Negative zu absorbieren. Ich mag besonders Rohstoffmärkte wie Chile, zudem Australien und Kanada. Sie sind günstig, und sie sind für steigende Rohstoffpreise gut positioniert.

Nach der Finanzkrise vor zwölf Jahren beschloss China riesige geld- und fiskalpolitische Stimuli. Heute sind es die USA, während China strafft. Wie kommt das?

China hat sich die Bekämpfung der Pandemie ein Fiskaldefizit von etwa 4,7% des BIP kosten lassen, im Gegensatz zu etwa 15% in den USA. Natürlich hat China die Pandemie früher in den Griff bekommen, aber das ist nicht alles. Der springende Punkt ist, dass die Fiskalausgaben in China zu 100% in Infrastruktur fliessen, während es in der westlichen Welt Transferzahlungen sind. Der fiskalische Multiplikator in China ist riesig, während er in den USA praktisch bei Null liegt. Die zweite Sache ist diese: Nach 2008 gab sich China einem Bauboom hin, finanziert durch eine Lawine von Kreditschöpfung. Seit zehn Jahren versucht die Zentralregierung, die übermässige Verschuldung der Wirtschaft abzubauen. Dieses Mal will Peking die Kreditschöpfung frühzeitig bremsen.

Chinas Aktienmarkt ist darüber nicht glücklich.

Der Aktienmarkt reagiert sehr empfindlich auf Veränderungen der Liquiditätsbedingungen. Es ist also im Moment kein guter Zeitpunkt, um chinesische Aktien zu kaufen. Von einem breiteren wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, glaube ich aber nicht, dass wir in China die Art von Straffungsschock erleben werden, die wir 2015 gesehen haben. Die Wirtschaft entwickelt sich robust, was auch ein gutes Umfeld für die Rohstoffpreise bedeutet.

Hat sich das Denken in Peking gegenüber den USA geändert, seit Joe Biden im Weissen Haus sitzt?

Nein. Ich denke, beide Seiten sind schon zu weit auf dem Weg der Grossmachtrivalität. Amerika repräsentiert die etablierte Macht, und China ist die aufstrebende Macht, die die USA herausfordert. Ich persönlich finde, dass wir im Westen nicht das volle Bild der Konfrontation zwischen China und den USA erhalten. Wir bekommen nur die westliche Seite der Geschichte zu sehen, die chinesische Perspektive wird ausgeblendet.

Wie sieht die chinesische Perspektive aus?

In China herrscht ein Gefühl, dass die Amerikaner die bilateralen Beziehungen zerstört haben, um innenpolitische Bedürfnisse zu befriedigen, angefangen mit Donald Trump. China hat das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Selbst wenn es um Hongkong geht, ist das Narrativ in China, dass die Ausschreitungen zwei Jahre lang geduldig ertragen wurden, bevor Peking das neue Sicherheitsgesetz beschlossen hat. Die USA werfen den Chinesen vor, sich nicht an die Regeln zu halten, aber die Chinesen sagen, sie hätten sich an die Regeln gehalten, die von den Amerikanern geschrieben wurden. Sie sind der WTO beigetreten und haben ihr System langsam geöffnet. Sie haben das Pariser Abkommen unterzeichnet. Doch dann kam Trump und hat das System, das Amerika aufgebaut hatte, aus den Angeln gehoben. Peking ist zum Schluss gekommen, die USA wollten mit allen Mitteln verhindern, dass China seinen rechtmässigen Platz in der Welt einnehmen kann. Wenn sich ein derartiger Konsens gebildet hat, ist es schwierig, ihn zu ändern.

Wird Biden diesen Weg weitergehen?

Biden hat Trumps Politik geerbt. Das ist bedauerlich, aber er kann wenig dagegen tun. Trumps Politik diente seiner innenpolitischen Agenda; er griff China hart an, um zu Hause zu punkten. Biden kann das nicht rückgängig machen. Und nochmals: Der Konsens in China ist, dass Amerika China klein halten will. Wir müssen uns auf eine lange Konfrontation einstellen.

Sehen Sie die Gefahr, dass diese Lage militärisch eskaliert?

Washington spielt mit dem Nerv des chinesischen nationalen Interesses, nämlich Taiwan. Seit dem Beginn der bilateralen diplomatischen Beziehungen in den Siebzigern war eine Kernverpflichtung der USA die Ein-China-Politik, die den offiziellen Kontakt mit der Regierung in Taiwan vermeidet. Trump hat sich nicht daran gehalten, und Biden folgt dem Trump-Skript. Das ist gefährlich. Seit 1979 gab es eine stillschweigende Übereinkunft, dass die chinesische Seite keine militärischen Massnahmen gegen Taiwan ergreift, wenn die USA die Abspaltung nicht fördern. Weil nun aber Washington scheinbar offizielle Kontakte mit Taiwan gefördert hat, fühlt Peking das Bedürfnis, seine territoriale Integrität zu markieren. Deshalb sehen wir praktisch jeden Tag Verletzungen des taiwanischen Luftraums. Ich denke, es gibt einen starken Konsens in der chinesischen Führung, dass sie innerhalb der nächsten fünf Jahre, wenn die USA so weitermachen, das Risiko einer Invasion eingehen könnten. Die Gefahr einer heissen Konfrontation ist so hoch wie nie in den letzten vierzig Jahren.

Chen Zhao

Chen Zhao ist Gründungspartner und Chefstratege von Alpine Macro, einer in Montreal, Kanada, ansässigen Research-Boutique. Geboren und aufgewachsen in China, verliess Zhao seine Heimat 1988 in Richtung Nordamerika. Von 1992 bis 2015 arbeitete Zhao für BCA Research in Montreal, die letzten zehn Jahre davon als Chefstratege und Verfasser des «Global Investment Strategy»-Reports. 2015 wechselte er zum Vermögensverwalter Brandywine, bevor er 2017 zusammen mit seinem ehemaligen BCA-Mitstreiter Anthony Boeckh Alpine Macro gründete.
Chen Zhao ist Gründungspartner und Chefstratege von Alpine Macro, einer in Montreal, Kanada, ansässigen Research-Boutique. Geboren und aufgewachsen in China, verliess Zhao seine Heimat 1988 in Richtung Nordamerika. Von 1992 bis 2015 arbeitete Zhao für BCA Research in Montreal, die letzten zehn Jahre davon als Chefstratege und Verfasser des «Global Investment Strategy»-Reports. 2015 wechselte er zum Vermögensverwalter Brandywine, bevor er 2017 zusammen mit seinem ehemaligen BCA-Mitstreiter Anthony Boeckh Alpine Macro gründete.