Anne Stevenson-Yang, Gründerin von J Capital und Chinakennerin, äussert sich zur Krise um den Immobilienkoloss Evergrande, zu den regulatorischen Eingriffen gegen Tech-Konzerne wie Alibaba und Tencent sowie zur labilen Gesamtverfassung des Riesenreichs.
Es ächzt im Gebälk des chinesischen Immobiliensektors. Evergrande, der zweitgrösste Projektentwickler im Riesenreich mit diversen weiteren Geschäftsaktivitäten, droht unter seiner Schuldenlast zu kollabieren. An den Börsen kommen Fragen auf, ob der wankende Koloss zur Gefahr für das globale Finanzsystem wird.
Anne Stevenson-Yang hat bereits seit Jahren auf die Risiken aufmerksam gemacht, die von Chinas Immobilienmarkt ausgehen; unter anderem in diesem Interview mit The Market. Die Amerikanerin hat während mehr als 25 Jahren in der Volksrepublik gelebt und fokussiert sich mit ihrer Research-Firma J Capital primär auf chinesische Unternehmen, die ihre Bücher frisieren und sich damit für Short-Wetten eignen.
«Wenn Evergrande und/oder andere Projektentwickler zahlungsunfähig werden und dadurch die Nachfrage nach Rohstoffen im Bausektor zurückgeht, könnte es zu einer deflationären Welle kommen, die aus Asien über die Welt schwappt», meint Stevenson-Yang zu den aktuellen Entwicklungen.
Im ausführlichen Gespräch sagt die Chinakennerin, wie es mit dem Evergrande-Fiasko ihrer Meinung nach weiter geht, wie sich die aufstrebende Wirtschaftsmacht in den kommenden Jahren politisch verändern wird und was das für Investoren in Alibaba, Tencent und anderen chinesischen Privatkonzernen bedeutet.
Frau Stevenson-Yang, Evergrande steht am Rand der Zahlungsunfähigkeit. Wie interpretieren Sie die alarmierenden Nachrichten zu Chinas wankendem Immobilienkoloss?
Die Immobilienblase in China besteht schon seit langer Zeit. Wenn Evergrande den Wert seiner Assets um 50% berichtigen könnte, dann wäre das Unternehmen wahrscheinlich solvent. Das geht aber nicht, weil es zu massiven Tumulten führen würde. Hier ist das grosse Geheimnis der chinesischen Wirtschaft: Immobilien sind kein Wohn-, sondern ein Spekulationsobjekt. Daher gibt es ein riesiges Überangebot an Wohnungen auf dem Markt. Würde man ihren Wert an die Realität anpassen, wären die Preise deutlich tiefer. Doch das ist unmöglich, weshalb Evergrande in der Klemme steckt.
Wie konnte es überhaupt zu dieser Krise kommen?
Bei Vermögenswerten in China besteht meist das gleiche Problem: Wenn man zum Beispiel in einer Stadt wie Schanghai unterwegs ist, trifft man immer mal wieder auf einen Taxifahrer, der drei oder fünf Wohnungen besitzt. In Chinas Grossstädten ist das nicht ungewöhnlich, denn viele Leute mit einfachen Jobs stammen aus ehemaligen Bauernfamilien. Irgendwann haben sie ihr Ackerland gegen, sagen wir, drei neue Appartements getauscht. Wenn man also mit solchen Leuten herumfährt, die achtzig oder neunzig Stunden pro Woche in ihrem Auto arbeiten, sich von Fertignudeln ernähren und kaum über die Runden kommen, hört man oft, dass sie Wohnungen im Wert von mehreren Millionen besitzen.
Weshalb verkauft dieser Taxifahrer denn zum Beispiel nicht einfach seine Wohnungen? Das würde ihm und seiner Familie doch ein wesentlich besseres Leben ermöglichen.
Wenn man diese Frage tatsächlich stellt, lautet die Antwort stets: «Dann müsste ich aber eine neue Wohnung kaufen.» Das ist natürlich nur eine Ausrede, denn er hat gar keine Möglichkeit, seine Apartments zu diesen fiktiven Preisen zu verkaufen, weil kein realer Markt existiert. In ganz China besteht diese Fiktion aus hoch bewerteten Immobilien, deren Wert tatsächlich viel geringer ist.
Sie warnen schon seit Jahren vor den Risiken im chinesischen Immobiliensektor. Wie geht die Evergrande-Saga nun weiter?
Kommt es bei einem Unternehmen in China zu so einer Krise, müssen Besitzer von Anleihen im Zug einer Restrukturierung typischerweise einen scharfen Haircut hinnehmen, sagen wir eine Wertberichtigung von etwa 40%. Trotzdem willigen aber alle ein, sodass es keinen sichtbaren Default gibt. Aktienbesitzer verlieren etwa 75% ihres Investments. Und wer in Kreditpapiere wie Wealth-Management-Produkte investiert hat, geht komplett leer aus.
Und was passiert mit den vielen Immobilienprojekten von Evergrande?
Das ist das grosse Dilemma bei Evergrande: All diese Apartments, die schon verkauft sind, aber noch nicht gebaut wurden. In einem solchen Fall werden die unvollendeten Bauprojekte üblicherweise an andere Entwickler oder Städte übertragen. Oft haben die betroffenen Immobilienkäufer in diesen Städten bereits eine Anzahlung geleistet und müssen vielleicht noch etwa acht Jahre ihrer zehnjährigen Hypothek abzahlen. Für die Städte ist das folglich ein stetiger Strom von Einnahmen, so dass sie die Bauarbeiten an den Projekten fortsetzen können.
Es heisst, dass China jetzt einen «Lehman-Moment» erleben könnte, wie Amerika im Herbst 2008 beim Kollaps des Finanzsystems. Wie gross ist diese Gefahr?
Es geht nicht nur um Evergrande. Im gesamten Immobiliensektor kam es dieses Jahr bereits zu einer Reihe von Konkursen. Diverse börsennotierte Immobilienentwickler wie Fantasia, Guangzhou R&F oder Country Garden, deren Anleihen zu einem Bruchteil des Nominalwerts handeln, stehen auf der Kippe. Auch gibt es eine Menge seltsamer politischer Vorgänge bei den Banken. Daher lässt sich schwer abschätzen, wie gross diese Krise wirklich ist, ob sie eingedämmt werden kann oder nicht.
Welche wirtschaftlichen und politischen Folgen könnten diese Erschütterungen im Immobiliensektor haben?
Die politischen Risiken sind so enorm. China findet deshalb immer einen Weg, solche Probleme unter den Teppich zu kehren. Das bedeutet aber nicht, dass es keine schwerwiegenden Folgen geben wird. Von aussen werden sie für uns bloss nicht sichtbar sein. Dennoch rechne ich grundsätzlich nicht mit einer Finanzkrise, zumindest nicht in China. Wenn Evergrande und/oder andere Projektentwickler zahlungsunfähig werden und dadurch die Nachfrage nach Rohstoffen im Bausektor zurückgeht und sich der Renminbi abwertet, könnte es aber zu einer deflationären Welle kommen, die aus Asien über die ganze Welt schwappt. Andererseits tut China inzwischen schon fünfzehn Jahre lang so, als ob. Vielleicht gelingt das auch weiterhin.
Die Aktien grosser Eisenerzförderer wie BHP, Rio Tinto und Vale haben in den letzten Wochen bereits einen Rückschlag erlitten. Zudem sind Proteste von wütenden Immobilienkäufern und Kleinanlegern zu sehen. Inwieweit erachten die Behörden diese Demonstrationen als politische Bedrohung?
Kleinanleger, die in Wealth-Management-Produkte investiert haben, können selten grosse politische Zugkraft gewinnen. Der Grund dafür ist, dass diese Papiere meist einen leichten Graumarkt-Charakter haben, stets gewisse illegale Tendenzen bestehen. Die Behörden können daher immer Gegensteuer geben, indem sie sagen: «Ihr wisst ja selbst, ihr hättet diese Investments nicht tätigen dürfen.» Die Leute, deren Apartments massiv an Wert verlieren, obwohl sie noch gar nicht eingezogen sind, werden aber richtig sauer. Umso wichtiger wird für die Behörden nun, wie sie Informationen zu den Preisen im Immobilienmarkt kontrollieren und damit die Ansteckungsgefahr eindämmen können.
Chinas Parteichef Xi Jinping beabsichtigt, sich nächstes Jahr zum Präsidenten auf Lebenszeit zu erklären. Was bedeutet das Evergrande-Fiasko für seine Pläne?
Die Kommunistische Partei Chinas organisiert immer wieder grosse politische Kampagnen, die meist mit wichtigen Jubiläen verbunden sind. Nächstes Jahr findet der 20. Parteikongress statt, bei dem alles perfekt abgestimmt sein muss und nach aussen hin wunderschön aussehen soll. Ich bin mir sicher, dass der drohende Kollaps von Evergrande wesentlich damit zu tun hat, dass Xi Jinping die Schrauben bei inländischen Privatunternehmen angezogen hat.
Im Fokus stehen nicht nur Evergrande und andere Immobilienriesen. Erst vor wenigen Wochen schockierten die chinesischen Regulierungsbehörden westliche Anleger mit dem harten Vorgehen gegen Tech-Giganten wie Alibaba, Tencent und Baidu. Was steckt hinter diesen Massnahmen?
Was oft unterschätzt wird, ist das Ausmass, in dem sich die Trump-Präsidentschaft auf China ausgewirkt hat. In China sieht man, wie es dieser Scharlatan nur wegen seines vielen Geldes geschafft hat, auf internationaler Ebene enorme Macht zu erlangen, und wie er die Vereinigten Staaten fast in den Abgrund gerissen hätte. Da China politisch viel weniger stabil ist als die USA, muss die Trump-Revolution dem Politbüro in Peking Angst einjagen. Die Parteispitze glaubt deshalb, sicherstellen zu müssen, dass den chinesischen Milliardären nicht das Gleiche gelingt wie Trump. Es gab bereits das Beispiel von Guo Wengui, der nach New York floh und von seinem Penthouse aus einen populären YouTube-Kanal startete. Auch Alibaba-Gründer Jack Ma hatte einen populären Blog. Die Parteiführung fürchtet sich wohl davor, was passieren könnte, wenn sie jetzt keine Massnahmen ergreift.
Die Kommunistische Partei will mit dem Vorgehen gegen Privatkonzerne also vor allem ihre Macht sichern?
Zu wenig beachtet wird oft auch, dass Parteiführer wie Xi Jinping fest an den Marxismus glauben – auch wenn das sonst niemand mehr in der Welt tut, zumal der Marxismus neben der Lehre von Sigmund Freud wahrscheinlich die am besten widerlegte Theorie ist. Diese Leute sind aber mit dem Marxismus aufgewachsen und denken wirklich, dass die Welt historische Phasen durchläuft, die von der Dialektik bestimmt werden. Demnach ist der Kapitalismus ein Vorläufer des Sozialismus, der wiederum von der Phase des Kommunismus abgelöst wird. Die Parteispitze ist überzeugt, dass die kapitalistische Phase zu Ende geht.
Was heisst das für Chinas Wirtschaftspolitik?
Nachdem der Kapitalismus dem Land viel Geld eingebracht hat, ist sein Zweck nun erfüllt. Im Buch «Red Capitalism» gibt es eine faszinierende Anekdote, als Chinas Präsident Deng Xiaoping Ende 1978 beschloss, als erster Staatspräsident der Volksrepublik die USA zu besuchen. Seine Administration rief also bei allen grossen Banken des Landes an, um sich für die Reise US-Dollar zu beschaffen. In ganz China gab es damals aber lediglich etwa 30’000 $, was bei weitem nicht für die Flugtickets und Hotelzimmer der Delegation reichte. Dadurch kam Deng Xiaoping zur Erkenntnis, dass sich das Land mehr ausländisches Kapital beschaffen muss.
Was waren die Folgen davon?
Harte Valuten erhält man durch Exporte. Der erste Schritt war deshalb, exportorientierte Unternehmen zu gründen, die in begrenzte Zonen separiert werden konnten und den Rest des Landes so kaum tangierten. Sukzessive erlangte China dadurch in den nächsten vierzig Jahre massive Devisenreserven. Das war letztlich das Ziel: Kapital anhäufen, um damit viel Infrastruktur zu bauen und für andere Dinge zu bezahlen – und dann das nächste Kapitel aufzuschlagen.
Wie wird die Volksrepublik demnach künftig mit der Welt interagieren?
China hat nie wirklich gern mit dem Rest der Welt interagiert. Sein Vorgehen in internationalen Belangen gleicht dem eines Tauchers in einer Tauchglocke: Er trägt seinen Anzug, ist an seinen Sauerstofftank angeschlossen und versucht, sich nicht zu weit von der Glocke zu entfernen, weil er Angst vor dem Ozean hat. Am liebsten würde China gar nicht mit der Welt interagieren. Die Haltung der Regierung zu internationalen Institutionen lässt sich etwa so zusammenfassen: Wir schaffen eine dünne Schnittstelle, machen nur das Nötigste, um aus dem internationalen System zu erhalten, was wir brauchen, und kehren dann aufs Festland zurück. Ich denke, das steht uns bevor: Das Festland wird sich schliessen, weniger Menschen werden herausgelassen, die Interaktion mit der Welt nimmt ab.
Will sich China denn nicht als globale Supermacht rehabilitieren, die wie früher zur Zeit der mächtigen Kaiser-Dynastien eine führende Rolle im Weltgeschehen einnimmt?
Ich zweifle daran, dass China stark daran interessiert ist, sich international zu engagieren und eine führende Stellung in der Welt einzunehmen. Diese Vorstellung ist Teil des Versprechens der Kommunistischen Partei an die Bevölkerung, wonach China dank ihr das «Jahrhundert der Demütigungen» überwunden hat, als das Reich von westlichen Mächten und Japan unterworfen wurde. Dass China dank der Partei jetzt auf eigenen Füssen stehen kann, ist ein wichtiges Narrativ. Aus meiner Sicht sieht die Realität aber anderes aus. Der Partei geht es primär um Folgendes: Wir müssen international so viel Geld wie möglich verdienen. Und das war’s.
Wie kann man sich Chinas Zukunft denn vorstellen? Ein abgeriegeltes System, vergleichbar mit der ehemaligen Sowjetunion und der Ära des Eisernen Vorhangs?
Ich denke, das ist ein guter Vergleich. Man kann auch einen Blick auf die recht junge Vergangenheit der Volksrepublik selbst werfen. Bis in die Siebzigerjahre war das Land im Prinzip von der Welt abgeschottet. Von Zeit zu Zeit schaffte es ein Bauer, über die Meerenge nach Taiwan oder Hongkong zu schwimmen. Alle stürzten sich dann sofort auf ihn und wollten wissen, was sich in China politisch abspiele, denn damals gab es so gut wie keine Informationen dazu. Ich würde sagen, dass wir selbst heute sogar mehr über die Innenpolitik in Nordkorea wissen als in China.
Ist das Durchgreifen gegen chinesische Internetkonzerne daher auch ein Effort, den Informationsfluss zu kontrollieren?
Dass es hier um das Internet oder um Technologie an sich geht, glaube ich weniger. Es ist eher, dass private Unternehmer an so viel Geld gekommen sind. Tencent und Alibaba sind besonders betroffen, weil es in China zunächst zwar grosse Banken für staatliche Akteure gab, aber nicht speziell für den Privatsektor. Ab 2009 füllten Tencent und Alibaba diese Lücke und etablierten sich als Finanzinstitute für Privathaushalte. Dabei wurden sie riesig und unkontrollierbar. Auch eigneten sie sich bedeutende Devisenreserven an, besonders Alibaba und Ant Group. Das ist es, worauf diese Massnahmen zielen.
Die Aktien von Alibaba und anderen chinesischen Tech-Konzernen sind inzwischen rund 50% eingebrochen. Ab wann eröffnen sich für Investoren hier Chancen auf ein Value-Play?
Das kann ich nicht sagen, weil die Kursentwicklung primär vom Fluss internationaler Investorengelder abhängt. Meiner Meinung nach sind Alibaba und chinesische Aktien generell aber nicht Investments, in denen man sich aus Value-Überlegungen engagieren sollte – und darauf basiert die Idee, bei einer tiefen Bewertung einzusteigen und einen Titel möglicherweise für längere Zeit zu halten. Unternehmen wie Alibaba korrekt zu bewerten, ist unmöglich, weil wir schlicht nicht wissen, wie es tatsächlich um ihre Fundamentaldaten steht. Die Geschäftsberichte des Unternehmens sind ausgesprochen vage, weshalb wir nicht sagen können, ob es jemals ausreichend Cashflow erwirtschaften wird. Die Antwort lautet wahrscheinlich «Nein».
Wie wird das Schicksal von Alibaba, Tencent und anderen chinesischen Tech-Konzernen also enden?
Bei Alibaba hatte ich immer den Verdacht, dass Chinas Telecom-Riesen dieses Geschäft im Auge haben. Ihnen würde es entgegenkommen, wenn die Aktien weiter sinken. Ich könnte mir beispielsweise gut vorstellen, dass China Mobile nur darauf wartet, bis der Kurs in den Bereich von 70 $ fällt, um dann mit einer Offerte zuzuschlagen. Das ist zwar nur eine Vermutung. Ich weiss jedoch, dass China Mobile und China Telecom beide sorgfältig geprüft hatten, Alibaba vor dem IPO zu kaufen.
Erste Eingriffe begannen bereits letzten Herbst mit dem abrupten Stopp des Börsengangs von Ant Group, der digitalen Zahlungsplattform von Alibaba. War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?
Ich war damals überrascht, dass Ant überhaupt ein IPO angekündigt hatte, denn damit hätten die Bücher offengelegt werden müssen. Das wäre für Alibaba sehr problematisch gewesen, weil die beiden Unternehmen eng verflochten sind. Wenn Ant also seine Abschlüsse offenlegen würde, könnte man sehen, wie Alibaba manipuliert wird. Natürlich war Chinas Regierung nicht erfreut, als Jack Ma am Vorabend der Publikumsöffnung seine kritische Rede zur Finanzregulierung in China hielt. Das war für die Behörden ein guter Vorwand, um Ant zu Fall zu bringen.
Wegen Befürchtungen um regulatorische Eingriffe haben letzte Woche auch chinesische Casino-Aktien einen Dämpfer erlitten. Könnte die Glücksspielindustrie in Macau zum nächsten Opfer von Chinas Durchgreifen gegen den Privatsektor werden?
Peking beabsichtigt klar, den Privatsektor einzuschränken und so viele Assets wie möglich zu pfänden. Ich habe aber keine Ahnung, ob eine Beziehung zwischen Alibaba, Tencent und den Casinos besteht. Das Casinogeschäft hing schon immer direkt von den Stimulusgeldern ab, die aus dem Festland abfliessen. Was sich in diesem Bereich genau abspielt, ist schwierig zu sagen. Im Prinzip geht es der Regierung wohl darum, bestimmte Banken unter Kontrolle zu bringen, die von einer Art Mafia beherrscht werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Vorgänge in Zhuhai, das direkt auf der anderen Seite der Brücke zu Macau liegt.
Nach allem, was in den vergangenen Monaten passiert ist: Sind chinesische Aktien für westliche Anleger schlicht «uninvestierbar» geworden?
Ich will nicht zu harsch sein, aber mit chinesischen Unternehmen ist es wie mit einem Schattenspiel: Man präsentiert nur, was man will. Man will nicht, dass sich die Leute einfach selbst Informationen beschaffen können. Chinesische Unternehmen haben noch nie präzis und transparent publiziert, was tatsächlich in ihnen vor sich geht. In Aktien aus China wird deshalb vor allem wegen des Momentums investiert; weil sie vom Zufluss von Fondsgeldern profitieren. Das hat lange Zeit bestens funktioniert. Ich fürchte, diese Strategie zahlt sich künftig aber nicht mehr aus. Als Manager eines Portfolios würde ich mein Geld aus China abziehen. Manche Investoren wie Ray Dalio sind da aber anderer Meinung.
Gibt es für umsichtige Anleger denn gar keine attraktive Möglichkeit, sich in China zu engagieren?
Am besten kann man sich an staatlich assoziierten Unternehmen orientieren. Viele von ihnen sind als A-Aktien an den Festlandbörsen kotiert und in Renminbi denominiert. Die Regierung wird zum Beispiel nie den Spirituosenhersteller Kweichow Moutai attackieren, weil er de facto dem Militär gehört. Möglichkeiten gibt es auch bei China Mobile, dem Energieriesen CNPC und anderen Unternehmen dieser Art. Keiner dieser Konzerne weist jedoch starkes Wachstum aus oder eröffnet Chancen auf hohe Kursgewinne. Sie sind einfach sicherer. Aus diesem Grund investiert man aber nicht in China.
Mit den politischen und regulatorischen Vorstössen wird nun auch der Bekämpfung von Ungleichheit in Chinas Gesellschaft hohe Priorität eingeräumt. Wie passen die von Xi Jinping angekündigten Pläne zur Verbreitung «gemeinsamen Wohlstands» in das Gesamtbild?
Ich glaube nicht, dass ein echtes Interesse an Gleichheit besteht. Diese Rhetorik deutet eher daraufhin hin, dass die Regierung dringend mehr Staatseinnahmen braucht. So kommen aus den Provinzen sporadisch Meldungen zum Einbruch der Steuereinnahmen. Peking muss daher etwas dagegen unternehmen. Ich bin sicher, dass man sich darüber intensiv Gedanken gemacht hat und dann auf folgende Idee gekommen ist: «Erhöhen wird doch einfach die Steuern für die Reichen, denn diese sind politisch wenig relevant.»
Was hat diesen Einbruch der Steuereinnahmen verursacht?
Offensichtlich gibt es seit geraumer Zeit ein Covid-Problem. Wir wissen dies wegen der Unterbrechungen der Wertschöpfungsketten und der Quarantäne-Massnahmen. Wenn Ausländer vier Wochen brauchen, um nach Peking zu gelangen, ist klar, dass es der Wirtschaft dort nicht gut geht. Das gilt auch für Schanghai und Shenzhen, die ebenfalls für einen grossen Teil der landesweiten Steuereinnahmen aufkommen. Andere Regionen dürften noch viel schlechter dastehen. Wie Warren Buffett sagt, sieht man erst, wenn die Flut zurückgeht, wer ohne Badehose schwimmt. Konkret sind das die nordöstlichen Provinzen Heilongjiang, Jilin, Liaoning und die Innere Mongolei.
Was geschieht also als Nächstes? Wird Peking einmal mehr neue Stimulusmassnahmen lancieren?
Danach fühlt es sich an. Als Xi Jinping 2012 sein Amt antrat, war er zunächst fest entschlossen, das Kreditwachstum zu bremsen. Das dauerte etwa ein halbes Jahr, worauf es mit Chinas Wirtschaft steil bergab ging und der Hahn wieder aufgedreht wurde. Es ist gut möglich, dass wir auch jetzt eine ähnliche Dynamik sehen werden: Private Immobilienkonzerne tragen die Verluste, ihre Assets werden restrukturiert und umverteilt, die Steuern erhöht. Das Muster ist also gut bekannt. Zunächst wird versucht, mit kleinen Schritten zu bremsen, doch wenn die Wirtschaft dann einbricht, wird die Regierung nervös und startet neue Stimulusmassnahmen. Das ist ihr einzig wirksamer Ansatzpunkt: Geld einsammeln und in die Wirtschaft fliessen lassen, damit das Feuer wieder brennt.