George Magnus, der frühere Chefökonom der UBS und Autor des Buches «Red Flags», warnt vor einer Deglobalisierung der Weltwirtschaft. Pekings Unterstützung für Russland werde diesen Prozess noch beschleunigen.
George Magnus hat den Aufstieg Chinas aus Investorensicht während fast drei Jahrzehnten begleitet. Der frühere Chefökonom der UBS wurde im Verlauf der vergangenen Jahre zunehmend pessimistisch. In seinem Buch «Red Flags: Why Xi's China is in Jeopardy» zeigte er auf, wie die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt unter Xi Jinping eine verhängnisvolle Wende vollzog.
Im Interview mit The Market legt Magnus dar, was Pekings Unterstützung für Russland bedeutet, wie es um Chinas Wirtschaft steht und was die Entwicklungen für westliche Unternehmen und Investoren bedeuten. «Die Zeit der Reform und Öffnung ist vorbei», konstatiert Magnus.
Herr Magnus, wie beurteilen Sie die derzeitige Haltung Chinas gegenüber Russland?
China stellt sich als neutrale Partei dar. Aber das ist es nicht. Zwar gibt es ein latentes Misstrauen zwischen den beiden Ländern, Reibungspunkte in Bezug auf die zentralasiatischen Republiken und Chinas Handelsinteressen im Fernen Osten Russlands, aber alles in allem haben sich Moskau und Peking in den vergangenen Jahren stetig angenähert. Der bilaterale Handel ist zwar klein, wenn man ihn mit dem Handel Chinas mit der EU oder mit den USA vergleicht, aber er belief sich 2021 auf immerhin rund 150 Mrd. $. China importiert russisches Öl und Gas, und die Eisenbahnstrecken der Belt-and-Road-Initiative verlaufen durch Zentralasien und Russland. Xi Jinping und Wladimir Putin haben sich 38 mal getroffen; Xi hat keinen Staatschef öfter persönlich gesehen als Putin. Sie sind in ihrer Mission verbunden, der Welt die Überlegenheit des autokratischen Systems zu beweisen. Der Höhepunkt dieser Annäherung war das Treffen von Xi und Putin am 4. Februar in Peking, vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele.
Als sie erklärten, ihre Freundschaft habe keine Grenzen?
Ja. Sie veröffentlichten diese 5500 Wörter zählende Erklärung, in der sie die Verbundenheit zwischen China und Russland betonten, vereint im Kampf gegen die USA, die Nato und den Westen. Beide sind überzeugt, dass die USA schwach sind und der Westen unweigerlich im Niedergang steht. In diesem Sinne halte ich es für einen Fehler, China als neutrale Partei zu betrachten.
China hat seine Wette mit Putin abgeschlossen?
Ja, aber offensichtlich befindet sich Peking in einer unangenehmen Lage, weil der Krieg nicht so verläuft, wie Putin es geplant hatte. Ein Ergebnis, bei dem Putin gedemütigt oder als Verlierer in der Ukraine angesehen würde, wäre auch eine Schmach für Xi, speziell auch mit Blick auf den 20. Nationalen Parteikongress, der gegen Ende Jahr stattfinden wird.
Dennoch bemühen sich chinesische Banken, zu signalisieren, dass sie Russland nicht dabei helfen wollen, Sanktionen zu umgehen. Sind das bloss Lippenbekenntnisse?
Das denke ich nicht. China steht in einem Spannungsverhältnis, da Xi sich politisch für Putin einsetzt, solange dieser nicht zu einer übermässig toxischen Hypothek wird. Gleichzeitig liegt es in Chinas wirtschaftlichem Interesse, sich von Putin zu distanzieren und jede Gefahr von Sanktionen zu vermeiden. Vergessen Sie nicht, dass Chinas Aufstieg in den letzten dreissig Jahren in hohem Masse von seinem Zugang zu einer offenen, liberalen Weltwirtschaft abhängig war. China befindet sich also in einer heiklen Lage. Politisch muss es Putin unterstützen, aber wirtschaftlich muss es sich von ihm abwenden.
Denken Sie nicht, dass Peking kühl kalkuliert und eine Wette darauf eingeht, Russland als Vasallenstaat zu gewinnen und Rohstoffreserven zu erhalten?
Sicherlich kann man darauf verweisen, dass China der Seniorpartner in dieser Beziehung ist, während Russland als Pariastaat auf absehbare Zeit völlig von Peking abhängig sein wird. Aber ich glaube nicht, dass dies für China die Risiken aufwiegt, die Xi in den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu Europa, den USA, Japan, Südkorea und anderen Ländern eingeht. Rein wirtschaftlich hat China mit Putin wenig zu gewinnen und viel zu verlieren.
Wurden die Parteieliten in Peking vom Umfang der vom Westen verhängten Sanktionen überrascht?
Ich denke ja. Sind wir ehrlich, im Grunde genommen haben nicht einmal wir diesen westlichen Zusammenhalt erwartet, nicht wahr? Stellen Sie sich also vor, wie das in Peking aufgenommen wurde.
Welche Lehren wird Peking daraus ziehen?
Die Art und Weise, wie der Westen Russland, einschliesslich seiner Zentralbank, sanktioniert hat, sendet eine deutliche Botschaft an China, dass es seine Wirtschaft und sein Finanzsystem sanktionssicher machen muss - wenn es das überhaupt kann. Stellen Sie sich vor, China will sich eines Tages Taiwan einverleiben: Peking würde nicht in die Lage kommen wollen, dass seine Devisenreserven im Wert von 3 Bio. $ eingefroren werden. Natürlich ist das eine Art Armageddon-Szenario, denn es wäre eine Katastrophe für die Weltwirtschaft.
Sie weisen darauf hin, wie wichtig es für China ist, seinen Zugang zu einer offenen Weltwirtschaft zu bewahren. Gleichzeitig glaubt Peking fest an das Narrativ der eigenen Überlegenheit. Pokert Xi zu hoch?
Diese Frage hat einen internen und einen externen Aspekt. Im Kern steht China vor einem Konflikt zwischen seiner Politik und seiner Wirtschaft. Das Land hat enorme wirtschaftliche Ambitionen, es will bis 2035 reich sein und bis 2049 zur dominierenden Wirtschaft der Welt aufsteigen. Doch unter Xi und besonders in den letzten drei bis vier Jahren hat sich das Regierungssystem deutlich nach links verschoben, was nicht mit den wirtschaftlichen Ambitionen Chinas vereinbar ist. Die Regierung hat auf verschiedenen Ebenen unzählige Massnahmen ergriffen, um die privaten Unternehmer den Direktiven der Partei unterzuordnen. Aber wenn die Wirtschaft florieren soll, dann muss man die Energie des Privatsektors freisetzen. Wer weiss, vielleicht wird China der Welt zeigen, dass staatlich gelenkte Innovation alles schlägt. Aber es gibt keine empirischen historischen Beweise dafür, dass dies gelingen wird.
Was ist der externe Aspekt?
Es war in der Geschichte für China und die Welt immer vorteilhaft, wenn sich China gegenüber der Aussenwelt geöffnet hat. Aber sowohl in Zeiten der Kaiserdynastien als auch unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei kollidierten Öffnungsschritte nach aussen oft mit nationalistischen Tendenzen im Inland. Dies ist jetzt der Fall. Wir sehen eine Entkopplung in der Weltwirtschaft.
Vertreten Sie die Ansicht, dass sich die Weltwirtschaft deglobalisiert?
Ich treffe immer wieder Leute, die sagen, dass werde nicht geschehen, weil die Verflechtung zwischen den westlichen Volkswirtschaften und China so gross ist. Aber es geschieht vor unseren Augen. Schauen Sie sich die Autarkiebestrebungen in China an, schauen Sie sich die Regulierungs- und Rechtssysteme an, die Gesetze, die zur Förderung staatlicher Unternehmen erlassen werden. Oder nehmen Sie das Datenmanagement, die Zweiteilung der digitalen Standards, was bedeutet, dass europäische und amerikanische Firmen getrennte Systeme entwickeln müssen, eines für China und eines für den Rest der Welt. Das Gleiche gilt für die Forschungszusammenarbeit sowie für Aspekte des Handels. Der Krieg in der Ukraine wird diese Tendenzen beschleunigen. Es ist ignorant, wenn die Leute denken, wir könnten so weitermachen wie bisher. Natürlich gibt es überall politische Risiken, aber hier sprechen wir von einem ideologischen Risiko, bei dem zwei sehr unterschiedliche Systeme versuchen, ihre Standards zu setzen. Die nationale Sicherheit steht dabei im Mittelpunkt. Die Angleichung von Unternehmens- und nationalen Interessen, die in den letzten dreissig Jahren so sehr Teil der China-Mission war, bricht zusammen.
Bis vor kurzem sah es so aus, als gelänge es europäischen Unternehmen, diese Kluft zu überbrücken. Eine Illusion?
Ich erwarte keine Revolution in den Ansichten der Unternehmen. Es ist noch nicht lange her, dass zum Beispiel der CEO von Volkswagen einige recht merkwürdige Dinge über die Aktivitäten von VW in Xinjiang gesagt hat. Viele Unternehmen haben sich in China engagiert und erwirtschaften einen wichtigen Teil ihres Umsatzes dort. Während Jahren nahmen sie schwierige Bedingungen hin, weil sie überzeugt waren, dass die Grösse des Marktes mit seiner wachsenden Mittelschicht alle Mühen kompensieren wird. Künftig werden viele Unternehmen, vor allem im Bereich der Spitzentechnologie, viel stärker ins Fadenkreuz geraten. Sie laufen Gefahr, von der einen oder der anderen Seite her unter Druck zu geraten, und sie haben keine Ahnung, wie es sich auf ihre eigene Lieferfähigkeit auswirken wird, wenn eine Komponente irgendwo in der Lieferkette betroffen ist. Das könnte dramatische Auswirkungen auf ihre Produktionskapazitäten haben. Die Bemühungen, Lieferketten zu entflechten und zu diversifizieren, werden in den kommenden Jahren stark zunehmen.
Wie steht es denn aktuell um Chinas Wirtschaft?
Sie ist nicht in bester Verfassung. Eine Reihe von Problemen belastet ihre Leistung. Das erste Problem ist der Berg an faulen Schulden, den die Regierung abzubauen versucht. Das zweite Problem ist die rapide Alterung der Bevölkerung, verbunden mit einem recht niedrigen Bildungsniveau. Wir haben die Vorstellung, dass alle Chinesen auf Eliteschulen in Schanghai gehen und in Naturwissenschaften brillieren. Das ist ein Zerrbild. Nur etwa 30% der chinesischen Arbeitnehmer haben einen Sekundarschulabschluss, und nur etwa 15% haben einen Hochschulabschluss. Drittens ist die Produktivität ein grosses Problem, das Produktivitätswachstum stagniert. Hinzu kommt das Regierungssystem, das die Wirtschaft hemmt. Das Land braucht nicht noch mehr schuldenfinanzierte Kapitalinvestitionen. Was China an diesem Punkt seiner Entwicklung benötigt, ist eine höhere Produktivität, und dazu bedarf es besserer Institutionen, die es den Menschen ermöglichen, produktiver zu sein. Das lehnt die Partei jedoch ab, weil sie ihrer Utopie eines Staatsbildes folgen will, in dem alles der Partei untergeordnet ist.
Anfang März kündigte die Regierung ein Wachstumsziel von 5,5% für 2022 an. Ist das realistisch?
5,5% ist der niedrigste Wert seit Jahren, aber im Vergleich zum Wachstumspotenzial Chinas ist es recht hoch. Freilich können sie 5,5% Wachstum erreichen, denn erstens können sie die Statistik immer manipulieren, und zweitens wird die Regierung die Wirtschaft genügend stimulieren, um das Ziel zu erreichen. Als die 5,5% Anfang März in Peking diskutiert wurden, wurde das Thema Covid kaum erwähnt. Doch jetzt, mit dem Lockdown in Schanghai, ist evident, wie die Omikron-Welle Chinas Null-Covid-Politik überfordert. Das ist eine Belastung für die Wirtschaft. Ausserdem wurden die Auswirkungen des Krieges überhaupt nicht erwähnt, die durch höhere Importkosten die Einkommen schmälern und das BIP-Wachstum im Jahr 2022 um etwa einen Prozentpunkt verringern werden.
Peking hat versucht, den Immobilienmarkt abzukühlen, was im vergangenen Jahr zur Evergrande-Krise führte. Wie wird sich das auf die Wirtschaft auswirken?
Es ist wichtig zu verstehen, welche Bedeutung der Immobilienmarkt für die Wirtschaft in China hat. Viele kennen inzwischen das Papier von Rogoff und Yang, in dem sie schätzen, dass der Immobilienmarkt in seiner sehr weit gefassten Definition etwa 29% des BIP ausmacht. Wahrscheinlich gibt es einige Doppelzählungen, aber selbst dann sprechen wir immer noch von 22 bis 23% des BIP. Das kann man nicht einfach ersetzen. Das wäre im Laufe der Zeit bloss möglich, wenn die Regierung ein produktives Programm zur Förderung des privaten Konsums und zur Öffnung der Dienstleistungsbranche lanciert. Aber nichts dergleichen geschieht. Ich denke also, die Korrektur im Immobiliensektor wird auf kleinem Feuer weitergehen. Eine Reihe von Immobilienentwicklern ist de facto bankrott. Es ist nur die Frage, wie sie umstrukturiert werden.
Kann das Bankensystem das verkraften?
Chinas Bankensystem kann viel länger ein höheres Mass an faulen Krediten tragen als die Banken in westlichen Volkswirtschaften, die ihre Anlagen schneller zu Marktpreisen bewerten müssen. Die faulen Kredite in China können also für lange Zeit gerollt werden, und alle Akteure tun so, als seien sie noch werthaltig. Aber je länger man die Kosten dieser Fehlallokation von Kapital nicht erkennt, desto grösser sind ihre langfristigen Auswirkungen. Der Preis dafür ist stagnierendes Wachstum in der Zukunft.
Seit mindestens zehn Jahren hören wir, dass die durch Schulden angeheizte Investitionsblase in China platzen wird. Bislang ist das nicht geschehen.
Es gab eine Zeit, als ich mit dem Gedanken spielte, dass es in China zu einem Lehman-ähnlichen Crash kommen würde. Heute denke ich, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gering ist. Der Staat verfügt über viele Hebel, mit denen er die Bilanzen der Finanzinstitute steuern kann. Verluste werden im Finanzsystem verschoben, ab und zu braucht es einen Telefonanruf aus Peking an den CEO einer der grossen Banken – damit kann China die Eruptionen im Finanzsystem, wie wir sie 2008 erlebt haben, in Grenzen halten. Das heisst aber nicht, dass dieses Vorgehen kostenlos ist. Die Kosten fallen einfach an anderen Orten an.
Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, mit einem Berg an faulen Schulden umzugehen: Man kann ihn deflationieren, was Konkurse bedeutet, oder man kann Inflation zulassen, die das Schuldenproblem mit der Zeit beseitigt. Welchen Weg wird Peking wählen?
Die Parteiführung fürchtet Inflation wahrscheinlich mehr als Deflation. Sie hat in der Vergangenheit traumatische Erfahrungen mit Inflation gemacht, vor allem im Vorfeld von Tiananmen 1989. Auf Ebene der Zentralregierung herrscht in China eine Maastricht-ähnliche Beschränkung in der Haushaltspolitik, im Grunde genommen sind sie also recht konservative Wirtschaftsmanager. Nach 2008 hat China mit einem kreditfinanzierten Investitionsboom geflirtet, aber die Krise von 2015/16 hat den Parteieliten einen gehörigen Schrecken eingejagt. Ich glaube also, dass sie den Berg an faulen Schulden tatsächlich abbauen wollen. Gleichzeitig begeben sie sich aber in die unmögliche Lage, dauernd ihre eigenen Wachstumsziele zu erreichen. China fährt also eine Finanz- und Geldpolitik, die darauf abzielt, die Wirtschaft gerade in dem Masse zu stimulieren, dass die Ziele erreicht werden. Aber sie wollen auf keinen Fall überstimulieren.
Die People’s Bank of China positioniert sich gerne als die letzte verantwortungsvolle Zentralbanken. Steckt die Furcht for Inflation dahinter?
Wenn man die Politik und Rhetorik der PBoC betrachtet, wirkt sie recht konservativ, sie nimmt winzige Feinabstimmungen bei den Leitzinsen und Interbankensätzen vor. Sie öffnet nicht den Geldhahn, um die Wirtschaft zu überschwemmen. Gleichzeitig muss sie das Finanzsystem mit Liquidität versorgen. Von den Verflechtungen im Bankensystem zwischen den grossen Instituten - die einigermassen gesund sind - und den Tausenden kleinerer Regionalbanken - von denen viele instabile Bilanzen haben - geht eine latente Gefahr aus. Das ist eine Gratwanderung für Chinas Zentralbank. Sie steht immer noch einem Finanzsystem vor, in dem die Kreditvergabe schneller wächst als das BIP, so dass die Verschuldung im Verhältnis zum BIP Jahr für Jahr steigt.
Ist China für international agierende Investoren überhaupt noch investierbar?
Daten des International Institute of Finance zeigen, dass internationale Investoren in letzter Zeit erhebliche Positionen in China verkauft haben. Wir wissen noch nicht, ob es sich dabei um eine Kurzschlussreaktion aufgrund der Ungewissheit über Putins Krieg handelt, oder ob sich darin eine grundlegende Änderung der Ansichten gegenüber China spiegelt. Auf eine Sache habe ich jedoch seit Jahren hingewiesen: Viele Leute sagten immer wieder, dass Anleger ihr Portfoliogewicht in China auf 10 bis 15 % erhöhen sollten, um Chinas Gewicht in der Weltwirtschaft abzubilden. Ich stand dem immer skeptisch gegenüber. Jetzt bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass das nicht passieren wird. Man kann meinetwegen immer noch Positionen in chinesischen Finanzanlagen eingehen, aber man muss sich sehr sicher sein, welche Risiken man eingeht und ob man diese Position notfalls schnell verkaufen kann. Niemand kann sagen, was passieren wird, wenn es zu einem Angriff auf Taiwan kommt. Wohlgemerkt, ich glaube nicht, dass dies kurz bevor steht, denn die Lehre aus der Ukraine für Peking wäre, dass ein Schlag gegen Taiwan eher später als früher erfolgen wird. Man muss sich also vielleicht nicht sofort eine Meinung darüber bilden. Entscheidend ist jedoch, dass man in der Lage ist, im Bedarfsfall schnell zu handeln.
Bis vor ein paar Jahren war die optimistische Sicht auf China immer die, dass es eine Reformagenda gibt, die stetig vorankommt. Sehen Sie davon noch etwas?
Im Gegensatz zu meinen anderen Antworten fällt diese kurz aus: Nein. Natürlich finden Reformen statt, aber nicht die, von denen wir annehmen würden, dass sie Effizienz, Produktivität, Innovation und einen dynamischen Privatsektor fördern. Obwohl also immer noch von Reform und Öffnung gesprochen wird - das Mantra, das Deng Xiaoping vor gut vierzig Jahren eingeführt hatte -, steckt nichts mehr dahinter. Alles, was ich an staatlicher Regulierung sehe, ist die Antithese zu Reform und Öffnung.
Aber einige der Reformer, wie Liu He, stehen Xi immer noch nahe, oder nicht?
Liu He wird dieses Jahr zurücktreten, Wang Qishan ebenfalls. Die älteren Garden, die vielleicht zu den liberaleren Reformern gehörten, werden alle aus Altersgründen zurücktreten. Der 20. Parteikongress wird neue Gesichter hervorbringen. Ob sie alle Xi Jinpings «Ja-Sager» sein werden oder ob die zunehmenden Probleme in der Wirtschaft zu neuen Spannungen führen, können wir noch nicht vorhersagen. Der Personalaustausch, der nicht nur an der Spitze, sondern auch in den lokalen und provinziellen Kadern stattfindet, signalisiert mir nicht, dass China eine Wende zu liberalen Reformen vollziehen wird. Man soll nie nie sagen, und es ist möglich, dass Xi irgendwann die Macht verliert oder dass etwas passiert und neue Leute auf einen Richtungswechsel drängen. Aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass China auf den Weg zurückkehren wird, auf dem es vor zwanzig oder sogar vor zehn Jahren noch war.