Jörg Wuttke: «Es herrscht grosses Rätselraten, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Das Land ist im Krisenmodus.»

Jörg Wuttke: «Es herrscht grosses Rätselraten, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Das Land ist im Krisenmodus.»

Das Interview

«Chinas Regierung ist der wirtschaftliche Schaden momentan völlig egal»

Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in China, spricht im Interview über die Auswirkungen der Virusepidemie. Er mahnt, ausländische Beobachter sollten die Proportionen nicht aus den Augen verlieren.

Mark Dittli
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Jörg Wuttke lebt seit mehr als dreissig Jahren in China. Der Deutsche hat 1989 Tiananmen miterlebt und 2003 den Ausbruch der Sars-Epidemie. Als Präsident der mächtigen EU-Handelskammer in Peking hat er einen guten Überblick über die wirtschaftliche Situation im Land, das sich seit gut zwei Wochen im Ausnahmezustand befindet.

Jörg Wuttke

Jörg Wuttke ist Chefrepräsentant eines grossen deutschen Dax-Konzerns in China. Er ist zudem Präsident der EU-Handelskammer in China – ein Amt, das er bereits von 2007 bis 2010 sowie von 2014 bis 2017 besetzt hatte. Wuttke ist Chairman der China Task Force des Business and Industry Advisory Committee der OECD (BIAC) sowie Mitglied des Beratergremiums des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Er lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Peking.
Jörg Wuttke ist Chefrepräsentant eines grossen deutschen Dax-Konzerns in China. Er ist zudem Präsident der EU-Handelskammer in China – ein Amt, das er bereits von 2007 bis 2010 sowie von 2014 bis 2017 besetzt hatte. Wuttke ist Chairman der China Task Force des Business and Industry Advisory Committee der OECD (BIAC) sowie Mitglied des Beratergremiums des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Er lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Peking.

«Die Zentralregierung will die Epidemie in den Griff kriegen, und das schnell. Sie will international nicht als Sünder vorgeführt werden», sagt Wuttke im Interview. Deshalb gehe die Regierung seines Erachtens fast übertrieben hart vor und nehme auch in Kauf, dass die Wirtschaft vorübergehend einen deutlichen Einbruch erleidet.

Sorgen bereiten ihm momentan die Transportwege, weil Verkehrssperren in vielen Industrien die filigranen Wertschöpfungsketten gefährden. Insgesamt ist Wuttke aber zuversichtlich, dass Chinas Wirtschaft eine kräftige Erholung erleben wird, sobald die Epidemie abflaut.

Herr Wuttke, wie ist die aktuelle Lage in China?
Die Strassen sind leer, das Hotel, in dem ich mich momentan befinde, ist ebenfalls leer, die Büros sind zu. Es herrscht grosses Rätselraten, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Das Land ist im Krisenmodus.

Was heisst das für die Wirtschaft in China?
Im ersten Quartal werden wir einen markanten Einbruch sehen. Momentan ist es vor allem das Dienstleistungsgewerbe, das grosse Verluste erleidet. Restaurants sind zu, im ganzen Land sind die Kinos geschlossen. Flugzeuge, Züge, Fernbusse – es läuft fast gar nichts mehr. Die Zeit des Spring Festival um das chinesische Neujahr ist normalerweise die Haupt-Reiseperiode in China. Die inländische Reiseindustrie generierte über das chinesische Neujahr im vergangenen Jahr rund 510 Mrd. Renminbi an Einnahmen, umgerechnet also etwa 70 Mrd. $. Es wird also signifikante Einbussen geben. Gemäss dem Transportministerium lag die Zahl der Reisenden in den vergangenen Tagen 80% unter dem Vorjahreswert.

Wie sieht es in der Industrie aus? Welche Bereiche sind besonders betroffen?
Wuhan, das Zentrum der Epidemie, ist ein wichtiger Standort für die Automobilindustrie. Dort sind gegenwärtig zahlreiche Zulieferer abgeschnitten. Schätzungen zufolge werden im Raum Wuhan etwa 6% aller Autos in China hergestellt (Anm. d. Red.: zu den Autoproduzenten in der Stadt zählen Honda, Peugeot, Renault, General Motors und Dongfeng Motor). Die Provinz Hubei, wo Wuhan liegt, ist grösstenteils stillgelegt – ein Zustand, der voraussichtlich bis Ende Februar anhalten wird. Die Region ist insgesamt für 4,5% der Wirtschaftsleistung Chinas verantwortlich.

Und im Rest des Landes?
Es gibt durchaus Lichtblicke. Volkswagen zum Beispiel nimmt in Changchun am 2. Februar die Produktion wieder auf, in Schanghai bleibt das VW-Werk geschlossen bis zum 9. Februar. Es gibt auch etliche Grosskonzerne, beispielsweise in der Chemiebranche, die über die Neujahrswoche hindurch ihre Produktion aufrecht erhalten haben, und die können jetzt auch weiter produzieren. Es gibt also grosse regionale und sektorale Unterschiede. Die Wirtschaft steht nicht völlig still.

Was steht es um die Wertschöpfungsketten in den verschiedenen Industrien?
Momentan ist es schlimm. Man muss nicht nur schauen, wer überhaupt noch produziert, sondern auch, wie man hergestellte Waren transportieren kann. Viele Strassen sind geschlossen. Ich weiss von Unternehmen, deren Lastwagen zu Kunden gefahren sind, dann aber nicht mehr an ihre Basis in Schanghai zurückkehren durften. Was die Zugangsmöglichkeiten betrifft, ist es ähnlich wie im Mittelalter: Jede Stadt kontrolliert ihre Grenzen. In der nördlich von Schanghai gelegenen Provinz Jiangsu zum Beispiel werden wichtige Vorprodukte für Pharmazeutika hergestellt. Wenn Jiangsu es nicht schafft, diese Pharma-Vorprodukte auszuführen, werden wir irgendwann weltweit Angebotsengpässe sehen.

Können Sie quantifizieren, wie stark die Einbusse für die chinesische Wirtschaft insgesamt sein wird?
Das ist schwierig. Für das erste Quartal bin ich pessimistisch. Die Konjunktur wird einen harten Schlag einstecken. Doch wie die Erfahrung mit der Sars-Epidemie vor 17 Jahren gezeigt hat, wird sich die Aktivität danach sehr rasch erholen. Chinas Wirtschaft erlebte 2003 eine unglaubliche Comeback-Story. Das ist auch dieses Mal zu erwarten. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass China über das gesamte Jahr betrachtet trotzdem ein Wirtschaftswachstum von mehr als 5% erreichen wird.

Sie leben seit mehr als dreissig Jahren in China und haben auch Sars miterlebt. Was ist heute anders?
Zunächst bestehen Unterschiede bei der Art der Krankheit. Das neue Coronavirus hat seine Tücken mit der langen Inkubationszeit, aber die Mortalitätsrate ist mit weniger als 3% lange nicht so hoch wie beim Sars-Virus; damals starben fast 10% der Infizierten. Gefährdet sind heute vor allem Menschen mit schwachem Immunsystem oder bereits bestehenden Lungenproblemen. Die meisten Erkrankten stehen es durch. Zudem ist das chinesische Gesundheitssystem heute um Klassen besser als vor 17 Jahren. Die Regierung hat schneller reagiert und verhält sich offener. Chinesische Wissenschafter kooperieren mit Kollegen aus Australien, aus Japan und aus der ganzen Welt, um Gegenmittel zu entwickeln. Ich bin eigentlich ganz zuversichtlich.

Wie lange wird denn der Ausnahmezustand noch dauern?
Ich hoffe, dass wir im März Klarheit haben. Wuhan wird wohl länger kämpfen müssen, aber im Rest des Landes dürfte der Aktionismus der Regierung in ein paar Wochen vorbei sein. Man darf auch die Relationen nicht aus den Augen verlieren: In Peking, einer Metropole mit 20 Millionen Menschen, zählen wir weniger als 200 Erkrankungsfälle.

Wie beurteilen Sie die Leistung der Regierung verglichen mit der Sars-Epidemie?
In Wuhan ist am Anfang sicherlich einiges schiefgelaufen, auch in Abstimmung mit Peking. Im Dezember unterschätzte die Lokalregierung in Wuhan die Gefahr und stellte sich auf den Standpunkt, es bestehe keine Ansteckungsgefahr von Mensch zu Mensch. Insgesamt war die Reaktion aber deutlich schneller als vor 17 Jahren. Die Stadtregierung Wuhans informierte die Weltgesundheitsorganisation WHO am 31. Dezember über das neue Virus, 23 Tage nach der ersten Identifikation des Erregers. Sars hingegen wurde damals 86 Tage vertuscht, bevor die WHO informiert wurde. Ein Fehler war, dass die Stadtregierung von Wuhan trotzdem zunächst in einem Laissez-faire-Modus blieb.

Wieso tat sie das?
Es war wohl zunächst ein Element des politischen Kalküls im Spiel: In Wuhan leben 3 Millionen Wanderarbeiter aus ärmeren Provinzen. Die Lokalregierung hatte ein Interesse daran, dass nicht zu viele dieser Wanderarbeiter während den Neujahrsfeierlichkeiten in der Stadt gestrandet bleiben. Der zweite, wichtigere Grund liegt in der Tatsache, dass Staats- und Parteichef Xi Jinping in den vergangenen acht Jahren immer mehr Entscheidungsmacht in Peking zentralisiert hat. Diese Top-down-Mentalität führt dazu, dass lokale Politiker keine Initiative ergreifen, sondern warten, bis sie klare Instruktionen aus Peking erhalten. Erst seit dem 20. Januar, als Xi laut und öffentlich sagte, das Land müsse das Coronavirus in den Griff kriegen, ist alles anders. Seither ist die Hölle los.

Das war der Startschuss für die Abschottung der Städte und der Verkehrswege?
Ja. Der Zentralregierung ist der wirtschaftliche Schaden momentan völlig egal. Sie will die Epidemie in den Griff kriegen, und das schnell. Sie will international nicht als Sünder vorgeführt werden. Deshalb ist die Reaktion der Regierung meines Erachtens fast übertrieben hart. Selbst Peking ist praktisch stillgelegt, und das, obwohl dort wie erwähnt bis anhin weniger als 200 Erkrankungsfälle bekannt sind und erst ein Todesfall bestätigt wurde. Das ist ein grosser Unterschied zu 2003, als Sars landesweit monatelang vertuscht wurde.

Äussert sich in der Bevölkerung auch Kritik gegen dieses harte Vorgehen der Regierung?
Nein, momentan nicht. Man hält zusammen. Die Kritik kommt dann eher intern hoch, wenn alles vorbei ist.

Die Finanzmärkte haben mit grosser Nervosität auf die Ausbreitung des Virus reagiert. Zu Recht?
Ich sehe da auch eher eine Überreaktion. Sicher brechen zum Beispiel die Aktienkurse von Fluggesellschaften ein. Auch Konzerne, die Autos in Wuhan produzieren, stehen schlecht da. Dennoch haben viele Banker im Ausland wohl eine verzerrte Sicht auf die Situation im Land, weil sie bloss die Schlagzeilen sehen. Bedenken Sie: Ausserhalb der Provinz Hubei wurden im Land bis anhin erst zehn Todesfälle gezählt. Ausserhalb Chinas ist es bis anhin ein Todesfall. In Hubei sind rund 10'000 Erkrankungsfälle gemeldet, doch in den anderen Provinzen Chinas sprechen wir von einigen Hundert oder sogar nur einigen Dutzend. Die Isolierung der Provinz scheint bis anhin recht erfolgreich zu funktionieren. Diese Proportionen sollte man nicht vergessen.