An den Börsen keimt erneut Hoffnung, dass die US-Notenbank bald einen milderen Kurs einschlägt. Jim Bianco glaubt nicht daran. Der Stratege denkt, dass die Ära geringer Inflation und niedriger Zinsen definitiv vorbei ist. Im Interview sagt er, wie man im neuen Umfeld am besten navigiert.
Das Muster ist bekannt. Die Hoffnung auf eine Abkühlung der Inflation in den USA wächst, die Märkte spekulieren auf eine weniger strenge Geldpolitik, die Aktienkurse steigen, das Fed interveniert und schon geht es an den Börsen wieder abwärts.
Wird es auch dieses Mal so sein, nachdem schwächere Daten zu den Konsumentenpreisen letzte Woche eine neue Rally gezündet haben?
Für Jim Bianco ist die Antwort klar. «Es sieht so aus, als ob die Inflation ihren Höhepunkt erreicht haben könnte, aber das ist die am wenigsten relevante Information überhaupt», sagt der Chef und Gründer des Anlageberaters Bianco Research aus Chicago. «Die entscheidende Frage ist nicht ob, sondern wie weit die Inflation zurückgehen wird», meint er.
Im Interview legt Bianco dar, warum die Teuerung seiner Meinung nach auf einem deutlich höheren Niveau als vor der Pandemie verharren wird, was das für die Zinspolitik der US-Notenbank bedeutet, welche Investments unter diesen Rahmenbedingungen Erfolg versprechen - und weshalb Investieren oft wie Tennis ist.
Herr Bianco, erste Anzeichen für eine rückläufige Entwicklung beim Anstieg der Konsumentenpreise geben Hoffnung, dass die Inflation den Zenit in den USA überschritten hat. Ist dies der Anfang vom Ende des massiven Teuerungsschubs?
Die jüngsten Daten zu den Konsumentenpreisen waren eine der wenigen erfreulichen Überraschungen. In den letzten 22 Monaten kam der CPI-Index insgesamt nur drei Mal unter den Erwartungen zu liegen, sonst hat er die Prognosen stets übertroffen. Man sollte einem einzelnen monatlichen Datenpunkt daher nicht allzu grosse Bedeutung zumessen. Die Märkte sehen das aber offenbar anders, denn es wird eine grosse Sache daraus gemacht.
Was kommt demnach weiter auf uns zu?
Es scheint so, als ob die Inflation ihren Höhepunkt erreicht haben könnte, doch das ist die am wenigsten relevante Information überhaupt. Alles andere wäre absolut katastrophal, denn wenn die Teuerung nicht nachlässt und wir permanent in einer Welt mit 8 oder 9% Inflation leben werden, habe ich beim nächsten Mal, wenn Sie mit mir reden wollen, keinen Job mehr, und Videocall-Dienste wie Zoom werden vermutlich nicht mehr funktionieren. Die entscheidende Frage ist deshalb nicht ob, sondern wie weit die Inflation zurückgehen wird: Sinkt sie zurück auf 2%? Oder stoppt der rückläufige Trend auf einem höheren Niveau?
Was glauben Sie?
Ich denke, dass sich die Inflation im langfristigen Durchschnitt wahrscheinlich nicht mehr bei 2%, sondern eher bei 3,5 oder 4% bewegen wird. Wenn sie auf 2% sinkt, dann nur, weil es zu einer schweren Rezession kommt, die die Nachfrage abwürgt. Und das wäre wahrscheinlich bloss ein zyklisches Tief, das nur so lange andauert, bis sich die Wirtschaft erholt und die Inflation erneut steigt.
Was bedeutet das für die Börsen?
Der neutrale Satz für den Leitzins, der die Wirtschaft weder stimuliert noch bremst, liegt gemäss dem Fed ungefähr einen halben Prozentpunkt über der Inflationsrate. Wenn sich die Inflation folglich bei 3,5 bis 4% einpendelt, dann beträgt das neutrale Niveau 4 bis 4,5%. Im Moment liegt der Leitzins bei 3,75 bis 4%, was bedeutet, dass wir noch nicht einmal den neutralen Satz erreicht haben. Und wenn das Fed den Leitzins auf 5% hebt, wie es der Terminmarkt prognostiziert, dann wäre die Geldpolitik nur leicht restriktiv. Verharrt die Inflation also bei 3,5 oder 4%, ist das Fed mit der Straffung der Zinsen noch lange nicht fertig. Aber das ist nicht die Auffassung, die am Markt vorherrscht.
Weshalb?
Bald ist es ein Jahr her, dass Fed-Chef Jerome Powell sagte, wir sollten die erhöhte Inflation nicht mehr als «vorübergehend» beschreiben. Dem stimme ich zu, wir hätten dieses Wort abschaffen sollen, doch das wurde nicht getan. Der Konsens glaubt noch immer, dass der Inflationsschub ein einmaliger Effekt im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung der Wirtschaft sei. Die meisten Leute sehen die Inflation nicht als permanentes Problem und verstehen nicht, warum das Fed so aggressiv vorgeht. Sie befürchten, dass Powell zu weit geht und grossen Schaden anrichtet. Nachdem er den Begriff «vorübergehend» gestrichen hatte, wurden deshalb andere Ausdrücke für denselben Sachverhalt gefunden: Es hiess, das Fed werde «pausieren» oder «umschwenken», und neuerdings wird gesagt, es werde das Tempo der Zinserhöhungen «drosseln». Diese Begriffe bedeuten alle das Gleiche: Die Inflation ist vorübergehend. Die Leute wollen glauben, dass der Albtraum vorbei ist, wir zu niedrigen Zinsen zurückkehren, die Gelddruckmaschinen angeworfen werden und die Aktienkurse «zum Mond» schiessen.
Warum glauben Sie im Gegensatz dazu, dass die Inflation hartnäckig hoch bleiben wird?
Jede Pandemie bringt fundamentale Veränderungen im menschlichen Verhalten mit sich. Sie schafft keinen neuen Trend, aber sie beschleunigt bestehende Trends. Im Fall von Covid sind das drei Entwicklungen: Erstens das Ende billiger Arbeitskräfte, weil die Menschen eine andere Einstellung zum Leben haben. Wer Arbeitskräfte benötigt, muss deshalb mehr Lohn zahlen. Zweitens das Ende billiger Waren. Hier geht es um den Konflikt zwischen den USA und China, der auch Asien allgemein betrifft. Die Rückverlagerung der Produktion ist nicht bloss Gerede, dieser Trend wird nicht verschwinden. Hinzu kommt das Ende der billigen Energie. Das heisst, es gibt weder billige Waren noch billige Arbeitskräfte noch billige Energie mehr, und das wiederum bedeutet, dass die Inflation nicht mehr 2% betragen wird. Obschon der technologische Fortschritt und der demografische Wandel diesen Trends bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken, wird die Inflation hartnäckig hoch bleiben.
Was müsste geschehen, damit Sie Ihre Meinung ändern?
Um die Inflation dauerhaft zu senken, müssen wir die Wirtschaft umstrukturieren. Doch anstatt diese Herausforderung anzupacken, streiten wir darüber und vergeuden Zeit. Die beste historische Parallele ist vermutlich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Als der Krieg im September 1945 endete, war allen bewusst, dass wir zu einer Friedenswirtschaft wechseln würden. 1947 verlangte niemand seinen Job zurück, um Kampfflugzeuge oder Panzer zu bauen; den Menschen war klar, dass diese Zeit vorbei war. In dieser Phase der Umstrukturierung erlebten die USA innerhalb von zehn Jahren drei Rezessionen, eine Episode mit 20% Inflation und eine mit 10%. Aber als der Prozess abgeschlossen war, boomte die Wirtschaft zwanzig Jahre lang.
Und heute?
Im Jahr 2022 wollen wir die Realität nicht akzeptieren. Wir hoffen, dass sich die Lieferketten auf wundersame Weise selbst reparieren, dass die Menschen wieder fünf Tage die Woche im Büro arbeiten, dass «die Dinge wieder normal werden». Das wird jedoch nicht passieren. Wir befinden uns in einer neuen Normalität nach der Pandemie. Damit keine Missverständnisse entstehen: Das ist nicht irgendeine finstere Zukunftswelt, aber sie ist anders, und wir brauchen eine umstrukturierte Wirtschaft, die dieser neuen Ära entspricht.
An den Börsen dreht sich momentan aber alles um die erhoffte Kehrtwende der Geldpolitik. Seit dem Rückschlag nach der letzten Pressekonferenz von Fed-Chef Powell Anfang November steigen die Aktienkurse bereits wieder. Wie nimmt man diese Rally in der US-Notenbank wahr?
Powell könnte sich diesbezüglich nicht deutlicher ausdrücken. Hier zwei konkrete Beispiele. Als sich die US-Börsen gegen Ende Sommer fast 20% vom Tief im Juni erholt hatten, ging er nach Jackson Hole und sagte im Prinzip: «Ich werde die Zinsen einfach so lange erhöhen, bis die Kurse einbrechen.» Das geschah dann auch prompt. Dieselbe Botschaft vermittelte er an der Pressekonferenz nach der letzten Fed-Sitzung. Als ihm ein Reporter irrtümlicherweise sagte, dass die Aktienkurse höher tendieren, zählte er alle denkbaren Argumente für eine strengere Geldpolitik auf. An der Einstellung von Powell hat sich nichts geändert. Er glaubt, dass er die Inflation eindämmen kann, indem er einen umgekehrten Wohlstandseffekt erzeugt: Er will uns alle ärmer machen, damit wir weniger Geld ausgeben.
Was bedeutet das für den nächsten Fed-Entscheid am 14. Dezember?
Powell wird vermutlich damit einverstanden sein, den Leitzins nur um 50 Basispunkte anzuheben. Wenn der S&P 500 nun aber 4000 durchbricht und weiter gegen 4200 vorprescht, würde es mich nicht schockieren, wenn Powell mit dem Gedanken flirtet, einen Zinsschritt um 75 Basispunkte wieder in den Raum zu stellen. Die aktuelle Erholung an den Börsen könnte daher bloss eine weitere Bärenmarktrally sein. Sie kann noch bis gegen Ende Jahr dauern, aber ebenso gut in zwei Tagen vorbei sein.
Um die Inflation unter Kontrolle zu bringen, hat das Fed die Zinsen bisher entschieden gestrafft. Wird der Vorsitz der US-Notenbank weiterhin so geschlossen vorgehen, wenn sich die Anzeichen für einen Konjunkturabschwung häufen?
Dem Fed-Vorsitz gehören 19 Mitglieder an, und ich glaube, dass Powell das Mitglied ist, das den strengsten Kurs in der Geldpolitik fordert. Interessanterweise ist Vizechefin Lael Brainard diejenige im Gremium, die am mildesten vorgehen will oder dieser Haltung sehr nahekommt. Die Ansichten der beiden ranghöchsten Fed-Mitglieder sind damit so weit auseinander, wie es nur geht. So wurde der Ausdruck «kumulative Straffung» nach der letzten Fed-Sitzung ins Statement aufgenommen. Auch steht darin neu, dass sich die Geldpolitik mit «Verzögerungen» auf die Wirtschaft auswirke. Beides sind Verklausulierungen für weniger forsche Zinserhöhungen. Doch nur eine halbe Stunde später hat Powell sie in der Pressekonferenz de facto annulliert. Im Fed herrscht demnach grosse Uneinigkeit darüber, wie es weitergehen soll. Traditionsgemäss hat aber stets der Fed-Chef das letzte Wort.
Trotzdem: Kann das Fed diesen harten Kurs wirklich durchziehen, wenn die Leute ihren Job verlieren und der Häusermarkt vollends einbricht?
Genau das ist das Problem. Powell kann leicht den harten Mann markieren und seine Entschlossenheit bekräftigen, dass die US-Notenbank die Zinsen so lange anhebt, bis die Inflation unter Kontrolle ist. Das geht aber nur, weil die Wirtschaft jeden Monat Hunderttausende von Arbeitsplätzen schafft, die Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung seit fünf Monaten rückläufig sind und der Echtzeitindikator des Atlanta Fed für das vierte Quartal über 4% Wirtschaftswachstum andeutet. Wenn dann aber Stellen verlorengehen, die Anträge auf Arbeitslosenunterstützung steigen und die Wirtschaft schrumpft, wird es wesentlich schwieriger.
Bislang entwickelt sich die Konjunktur in den USA allerdings erstaunlich robust.
Die grossen Investmentbanken sagen bereits beiläufig voraus, dass die Wirtschaft nächstes Jahr in eine Rezession fällt. Das ist ausgesprochen ungewöhnlich, denn früher durfte man so etwas unter keinen Umständen sagen, wenn man als Ökonom für ein bedeutendes Wallstreethaus arbeitete. Doch jetzt wird es einfach so dahingestellt, als wäre es eine unwiderrufliche Tatsache.
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit einer Rezession denn wirklich? Die Zinskurve ist bereits invertiert, was normalerweise ein verlässlicher Vorbote für einen Abschwung ist.
Ich bin ebenfalls der Meinung, dass es zur Rezession kommt. Das Segment der Zinskurve, auf das Ökonomen besonders genau achten, ist die Differenz zwischen der Rendite auf zehnjährige und dreimonatige US-Staatsanleihen. Seit Mitte der Sechzigerjahre hat dieser Indikator die letzten acht Rezessionen alle korrekt prognostiziert. Im Durchschnitt dauert es etwa neun Monate, bis der Abschwung nach der Inversion beginnt. Dieses Signal gilt aber nur, wenn die Zinskurve konsistent invertiert ist. Gemäss meiner Definition muss sie sich dafür mindestens zehn aufeinanderfolgende Tage im negativen Bereich bewegen. Gestern Donnerstag waren es sechs Tage, zum aktuellen Stand der Dinge dürften es damit nächste Woche zehn Tage sein.
Erfahrungsgemäss erhöht das Fed die Zinsen jeweils so lange, bis etwas «bricht». Im Moment geht vor allem im Krypto-Sektor viel kaputt. Wie gross ist die Gefahr, dass die Krise um die Handelsplattform FTX auf die regulären Finanzmärkte übergreift?
Am grössten ist das Ansteckungsrisiko wohl im spekulativen Bereich des Tech-Sektors, etwa in der Venture-Capital-Branche oder in bestimmten Aktien, die mit Kryptowährungen in Verbindung gebracht werden. Dazu zählen MicroStrategy, der Grayscale Bitcoin Trust, die ETF von ARK Invest, Robinhood oder Tesla. Das Gleiche gilt für Silvergate Bank, ein traditionelles Kreditinstitut mit Sitz in San Diego, das sich stark im Krypto-Sektor engagiert hat. Ich glaube aber weniger, dass die Krise ein Ausmass erreicht, das einen Crash beim Nasdaq oder beim S&P 500 auslöst, oder eine Risk-off-Rally im Bondmarkt entfacht. Mit der sogenannten «Degen»-Mentalität, einem selbstironischen Ausdruck für schwachsinniges Zocken, ist es im Krypto-Sektor aber definitiv vorbei. Und wer das noch nicht begriffen hat, wird es ziemlich schnell lernen.
Auch abgesehen vom Crash im Krypto-Sektor sind die Bedingungen an den Finanzmärkten nicht einfach. Wie können Investorinnen und Investoren dieses anspruchsvolle Umfeld am besten navigieren?
2022 war bis jetzt ein enorm schwieriges Jahr, denn kaum eine Anlageklasse hat Schutz geboten. Ob mit Aktien, Anleihen, Schwellenländern, Kryptowährungen oder den meisten alternativen Anlagen: Praktisch überall hat man Geld verloren. Der Haupttreiber dafür ist die Inflation. Sie ist der grosse Game Changer, der die Aussichten zur Wirtschaft und die Struktur der Märkte völlig verändert hat. Es lässt sich deshalb nicht beschönigen: Wir müssen weiterhin mit einem schwierigen Umfeld rechnen.
Gibt es denn gar keine Möglichkeiten für gute Investments?
Der erste Ort, wo man wahrscheinlich etwas Geld verdienen kann, wird der Bondmarkt sein. Wie gesagt, dürfte das Zinsniveau in diesem Zyklus auf rund 5% steigen, und im ersten Quartal 2023 sollten wir ziemlich nahe an diesen Punkt kommen. Wenn die Kurse von Anleihen dann nicht mehr fallen, ist ein Anleihenfonds mit einem Coupon von 5 oder 6% attraktiv. Vielleicht erholen sich die Kurse sogar ein wenig, womit die Gesamtrendite noch etwas höher liegt. Aber selbst, wenn die Bondpreise stabil bleiben, werden solche Investments lukrativ sein.
Und was ist mit Aktien?
Eine zweite Chance wird sich dann an den Aktienmärkten eröffnen. Eine nachhaltige Rally von mehreren Monaten werden wir aber erst erleben, wenn das Fed seine restriktiven Massnahmen abgeschlossen hat und Kursavancen an den Börsen nicht mehr bekämpft. Doch das liegt noch in weiter Ferne. Es könnte bis Mitte 2023 dauern, bis wir etwas in dieser Richtung sehen.
Wie soll man sich bis dahin am besten positionieren?
Eine Möglichkeit, um jetzt immerhin etwas Geld zu verdienen, sind kurzfristige Staatsanleihen. Wenn man zum Beispiel amerikanische Treasury Bills kauft, verdient man eine Rendite von fast 4%. Zudem kann man sich auf das US-Finanzdepartement als sichersten Gläubiger der Welt verlassen und erhält sein Geld innerhalb von wenigen Monaten zurück. Trotzdem darf man sich keinen Illusionen hingeben: Die Ära, in der das Fed die Zinsen auf 1% senkt, die Gelddruckmaschinen anwirft und wir eine «Everything Rally» erleben, bei der Aktien, Anleihen, Kryptowährungen, der Kunstmarkt, der Immobilienmarkt und die Preise in jeder anderen Anlageklasse raketenhaft steigen, ist vorbei. Diese Zeiten sind Vergangenheit, weil wir es mit hartnäckiger Inflation zu tun haben.
Was heisst das für eine langfristig erfolgreiche Anlagestrategie?
Ich gehörte lange zu den schärfsten Kritikern von aktiv bewirtschafteten Aktienportfolios. Heute nicht mehr. Dies könnte ein Umfeld sein, in dem aktives Management wieder zu einer Kunstform wird und der nächste legendäre «Stock Picker» im Stil von Peter Lynch auftaucht. Damit meine ich, dass man nicht darauf warten sollte, dass der gesamte Markt steigt, sondern jemanden engagiert, der die besten Einzelaktien findet. Denn wenn die Ära billiger Waren, billiger Energie und billiger Arbeitskräfte vorbei ist, ergeben sich grosse Chancen, dass man so den Markt schlagen kann. Das Problem ist, dass gezielte Wetten auf Einzeltitel bis 2022 kaum mehr eine Rolle gespielt haben, da man bloss auf den richtigen Sektor zu setzen brauchte. Weil es schon lange her ist, dass man für Erfolg an der Börse ein guter «Stock Picker» sein musste, sind solche Spezialisten momentan rar.
Wie steht es mit Rohstoffen? Investitionen in harte Assets wie Energie, Metalle oder Agrargüter müssten sich bei anhaltend hoher Inflation doch eigentlich auszahlen.
Ja und nein: Es stimmt, Rohstoffe und Rohstofffonds können eine gute Idee sein. Bis zum Kollaps von FTX war die Volatilität im Rohstoffsektor aber noch höher als bei Kryptowährungen. Wenn Sie Rohstoffe als spannendes Investment erachten, dann müssen Sie damit umgehen können, dass eine Position in drei Tagen 15% verlieren kann. Wer sich damit nicht wohlfühlt, sollte Rohstoffe nur sehr gering im Portfolio gewichten, denn sie sind wirklich nichts für schwache Nerven. Aus einer europäischen Perspektive muss man zudem bedenken, dass der Dollar pro Tag locker um 2% schwanken kann, womit die tatsächliche Volatilität noch höher ist.
Am meisten gefragt sind momentan also vor allem starke Nerven?
Investieren ist in gewisser Weise wie Tennis. Selbst Superstars wie Roger Federer oder Rafael Nadal gewinnen normalerweise nur etwa 55% aller Punkte in einem Match. Es ist eine harte Disziplin, und es ist faszinierend, wie die besten Tennisspieler völlig emotionslos reagieren, wenn sie einen unerzwungenen Fehler machen. Ähnlich ist es beim Investieren: Wer keine Fehler macht, investiert nicht richtig. Der Schlüssel ist nicht, keine Fehler zu machen, sondern zu erkennen, dass etwas ein Fehler ist.
Was meinen Sie damit konkret?
Bei einem Tennismatch muss ich rasch erkennen, dass ich den Ball nicht auf die Rückhand des Gegners schlagen sollte, weil er dort zu stark ist. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen und mich anpassen. Als Investor sollte man sich in diesem Marktumfeld daher keine bitteren Vorwürfe machen, wenn man im Rückstand liegt. Wie im Tennis muss man den Fokus auf den nächsten Punkt, den nächsten Satz richten. Es wird neue Chancen geben, weshalb man im Spiel bleiben muss. Ich habe eben meine Ansicht zu einer ganzen Reihe von Themen dargelegt. Manches davon wird grundfalsch sein, und einiges wird sich hoffentlich als richtig erweisen. Ich verbringe meine Zeit vor allem damit, herauszufinden, wo ich falsch und wo ich richtig liege. Es ist normal, sich zu irren. Man darf aber nicht so dickköpfig sein und ein so grosses Ego haben, dass man sich nicht selbst eingestehen kann, wenn man einen Fehler gemacht hat.