Interview

«Das Fed wird die Zinsen weiter erhöhen, selbst wenn etwas bricht»

Die Makrodaten prägen das Geschehen an den Finanzmärkten. Die US-Ökonomin Megan Greene sagt im Interview, wie es um die Aussichten für die USA und Europa steht, wie es mit Inflation und Zinsen weitergeht und welche unterschätzten Risiken Investoren auf dem Radar haben sollten.

Christoph Gisiger
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Die Finanzmärkte stehen am Scheideweg. Hoffnungen auf eine weiche Landung der amerikanischen Wirtschaft und auf einen schmerzlosen Rückgang der Inflation haben in den letzten Wochen einen Dämpfer erlitten. Am US-Bondmarkt notiert die Rendite zehnjähriger Treasury Notes erstmals seit November über 4%. Die Stimmung an den Börsen ist gereizt.

Wie geht es mit der Konjunktur im Verlauf des Jahres weiter? Lässt sich eine Rezession in den USA angesichts der Aussicht auf weitere Zinserhöhungen des Fed zur Bekämpfung der hartnäckigen Inflation noch vermeiden? Und welche Auswirkungen hat die Öffnung Chinas auf die Wirtschaft im Rest der Welt?

The Market hat sich darüber mit Megan Greene unterhalten. Die Chefökonomin beim Risikoberatungsunternehmen Kroll sagt, wie sie die Perspektiven in Amerika und Europa einstuft, weshalb sie mit weiteren Verwerfungen an den Märkten rechnet, welchen Gefahren zu wenig Beachtung geschenkt wird und was das alles für die Anlagestrategie bedeutet.

«Ich schätze die Wahrscheinlichkeit auf 15%, dass es zu einem temporären Zahlungsausfall der US-Regierung kommt. Für ein so katastrophales Ereignis ist das erschreckend hoch, und Investoren sollten sich damit befassen»: Megan Greene.

«Ich schätze die Wahrscheinlichkeit auf 15%, dass es zu einem temporären Zahlungsausfall der US-Regierung kommt. Für ein so katastrophales Ereignis ist das erschreckend hoch, und Investoren sollten sich damit befassen»: Megan Greene.

Bild: Bloomberg

Frau Greene, die globalen Finanzmärkte sind gegenwärtig stark auf die Entwicklung von Wirtschaft und Inflation fixiert. Wie beurteilen Sie die Grosswetterlage?

Ehrlich gesagt, scheint etwas mit den Konjunkturdaten in den USA, in Grossbritannien und in Europa nicht ganz zu stimmen. Die Wirtschaft verhält sich nicht so, wie man es angesichts der aggressiven Zinserhöhungen in allen drei Regionen erwarten würde. Speziell in den USA hofft die Notenbank, dass es ihr gelingt, den Prozess der Disinflation reibungslos abzuwickeln und eine Rezession zu vermeiden. Das Problem ist, dass dies bisher noch nie gelungen ist. Ich bin daher skeptisch, dass es dieses Mal gelingt.

Zu rätseln gibt vor allem der US-Arbeitsmarkt. Warum ist er trotz der restriktiven Geldpolitik des Federal Reserve weiterhin so robust?

Das liegt vermutlich an zwei Faktoren. Zum einen hat sich die Erwerbsquote noch nicht vollständig normalisiert, so dass weiterhin ein Mangel an Arbeitskräften besteht. Bei Personen im erwerbsfähigen Alter ist die Quote zwar weitgehend auf das Niveau von vor der Pandemie zurückgekehrt. Es sind aber vor allem ältere Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind und bisher nur zögerlich zurückkehren. Das hängt wohl auch mit Langzeiterkrankungen zusammen. Die Situation am Arbeitsmarkt ist deshalb noch immer angespannter, als man erwarten würde.

Was ist der zweite Faktor?

Das Horten von Arbeitskräften. Als wir in den USA die Wirtschaft während der ersten Welle der Pandemie herunterfuhren, entliessen die Unternehmen massenweise Mitarbeiter, anstatt zu versuchen, sie zu behalten, wie es in Europa der Fall war. Als die Wirtschaft wieder in Gang kam, war es dann enorm schwierig, ausreichend neue Arbeitskräfte zu finden. Obwohl heute viele Unternehmen mit einer Abschwächung der Wirtschaft rechnen, hoffen sie nun, dass sie ihre Mitarbeiter während dieser schwierigen Zeit behalten können, anstatt sie zu entlassen und dann wieder einstellen zu müssen. Daher werden viele Arbeitskräfte quasi gehortet. Das Problem ist, dass wir dieses Verhaltensmuster nicht akkurat messen können und nicht wissen, wann der kritische Punkt erreicht ist.

In den amerikanischen Nachrichten wird jedoch praktisch jede Woche von neuen Stellenkürzungen und Sparprogrammen bei Grosskonzernen berichtet, speziell im Tech-Sektor.

Ich möchte die Folgen dieser Entlassungen für die betroffenen Menschen nicht herunterspielen, aber aus einer Makroperspektive glaube ich nicht, dass dieser Trend breit genug ist, um sich auf die Gesamtwirtschaft auszuwirken. Auch wenn wir viel über Entlassungen hören, beschränken sie sich hauptsächlich auf wenige Sektoren wie die Tech-Industrie. Der Arbeitsmarkt insgesamt bleibt angespannt.

Wie lange kann das so weitergehen, wenn man bedenkt, wie aggressiv das Fed die Geldpolitik strafft, um die Wirtschaft abzukühlen?

Es gibt Anzeichen einer Entspannung. Das Lohnwachstum beispielsweise scheint sich allmählich zu verlangsamen. Die Praktik, Arbeitskräfte zu horten, kann sich zudem schnell ändern. Die Gewinne der Unternehmen sinken, und das Fed wird die Zinsen wohl noch einige Zeit weiter anheben. Das heisst, die Unternehmen könnten recht schnell kapitulieren und zu Entlassungen schreiten. Wenn das passiert, dürfte es die Verbraucher zur Zurückhaltung bewegen. Die Wirtschaftsliteratur zeigt, dass Menschen, die entlassen werden oder deren Freunde entlassen werden, ihre Ausgaben einschränken, was dann zu einer Rezession führen kann. Wir wissen einfach nicht, ab wann diese Effekte eintreten und wie gross sie sein werden. Wir befinden uns im Blindflug.

Ist der robuste Arbeitsmarkt der Hauptgrund, warum sich die Inflation hartnäckiger erweist als erwartet?

Ja, es liegt zum grossen Teil daran, dass sich der Arbeitsmarkt bisher so gut gehalten hat. Es war allerdings von Anfang an klar, dass es viel einfacher sein wird, die Inflation von rund 10 auf 6% zu senken, als von 6 auf 2%. In gewisser Weise ist es daher keine grosse Überraschung, dass sie sich nun als etwas zäher erweist.

Wie geht es mit der Teuerung weiter?

Der Zenit liegt hinter uns, aber das bedeutet nicht, dass sich die Inflation in diesem Zyklus ständig nur nach unten bewegen wird. Insgesamt geht der Trend in Richtung der vom Fed anvisierten Zielrate von 2%. Wichtiger ist jedoch, wie schnell dieses Ziel erreicht wird. Meiner Meinung nach wird sich die Inflation im Lauf dieses Jahres weiter abschwächen und sich Ende Dezember bei etwa 4% bewegen, was immer noch rund doppelt so hoch ist wie die Zielrate des Fed. Letztlich wird es darauf ankommen, was das Fed bereit ist, in Kauf zu nehmen. Wird es sich mit 3 bis 4% Inflation zufriedengeben? Oder wird es der Ansicht sein, dass die Inflation vollständig ausgemerzt werden muss?

Was glauben Sie?

Das hängt von der Wirtschaftslage zu diesem Zeitpunkt ab. Wenn wir uns in einer Rezession befinden, dürfte es für das Fed schwierig werden, die Geldpolitik weiter zu straffen, nur um die Inflation das letzte Stück zum 2%-Ziel nach unten zu drücken. Es könnte deshalb eine leicht höhere Inflation tolerieren. Dies, weil es gemäss seinem Doppelmandat einen Kompromiss zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität finden muss. Wenn sich die Lage am Arbeitsmarkt in einer Rezession verschlechtert, wird das Fed den Teil seines Mandats, der Vollbeschäftigung betrifft, vermehrt berücksichtigen müssen. Im Moment kann es sich hingegen vollkommen auf die Inflation konzentrieren.

Worauf wird das Fed bei der Bekämpfung der Inflation in den kommenden Monaten am meisten achten?

Derzeit wird die Inflation primär durch Dienstleistungen getrieben. Natürlich spielen auch die Energie- und Lebensmittelpreise eine Rolle, doch wenn man sie herausrechnet und nur die Kerninflation betrachtet, ist der nach wie vor robuste Dienstleistungssektor der Schlüsselfaktor. Darüber sorgt sich das Fed am meisten, denn die grösste Komponente der Inflation bei Dienstleistungen sind die Löhne, und das Lohnwachstum erweist sich in der Regel als recht zäh. Hinzu kommt, dass die für die Kernrate relevanten Güterpreise wegen das Basiseffekts zuletzt disinflationär waren, weil sie letztes Jahr so stark gestiegen waren. Doch jetzt beginnen sie sich zu stabilisieren, und das bewirkt ebenfalls eine gewisse Hartnäckigkeit der Inflation.

Wie stehen die Chancen, dass der US-Notenbank gelingt, die Teuerung ausreichend abzudämpfen, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu drücken?

Nicht gut. Angesichts der aggressiven Geldpolitik des Fed und einer auch etwas restriktiveren Fiskalpolitik dürfte es in der zweiten Jahreshälfte nach meinem Basisszenario zum Abschwung kommen. Ich kann mich aber auch irren. Es ist nicht undenkbar, dass Amerika um eine Rezession herumkommt. Die Frage, ob die Wirtschaft in eine Rezession fällt, ist ausserdem primär eine akademische Debatte. Denn ob die Konjunktur 0,5% wächst oder schrumpft, spielt für die meisten Menschen kaum eine Rolle. Beides fühlt sich ziemlich schlecht an. Ich glaube hingegen nicht, dass wir eine tiefe und lange Rezession erleben werden, ausser es kommt eine Finanzkrise hinzu, die alles noch viel schlimmer macht. Dieses Risiko lässt sich kaum abschätzen, da wir nicht wissen, wo die Schwachstellen im System liegen.

An den Märkten dreht sich momentan alles um die Frage, wie hoch das Fed die Zinsen in diesem Zyklus anheben wird. Was denken Sie?

Ich bin schon seit langem der Meinung, dass die Märkte das Fed falsch eingeschätzt haben. Seit der letzte Arbeitsmarktbericht Anfang Februar so überraschend stark ausgefallen ist, stimmen sie etwas mehr mit meiner Ansicht überein. Konkret denke ich, dass die US-Notenbank den Leitzins auf über 5% anhebt und ihn für den Rest des Jahres dort belässt.

Die Hoffnung ist aber noch immer, dass Notenbankchef Jerome Powell dieses Jahr eine erste Zinssenkung vollzieht.

Das ist unwahrscheinlich. Solange wir nicht in einer schweren Rezession stecken, wird Powell die Zinsen dieses Jahr nicht senken. Das Fed scheut sich wegen der Erfahrung in den Siebzigerjahren weit mehr vor einer «Stop & Go»-Geldpolitik als andere grosse Zentralbanken. Damals glaubte die US-Notenbank, die Inflation im Griff zu haben, und beendete den Zinszyklus. Doch dann zog die Teuerung wieder an, worauf sie erneut intervenieren musste. In diesem Zusammenhang hat Powell erklärt, das Risiko, zu viel gegen die Inflation zu unternehmen, sei geringer als das Risiko, zu wenig dagegen zu tun. Wenn das Fed deshalb nicht ausreichend aggressiv vorgehe, dann werde es die Zinsen am Ende noch mehr erhöhen müssen, was die Wirtschaft in eine tiefere Rezession stürzen würde. Aus Sicht des Fed wählt es also das kleinere Übel.

Erfahrungsgemäss erhöht das Fed die Zinsen so lange, bis etwas an den Märkten oder in der Wirtschaft bricht. Was könnte dieses Mal brechen?

Das Fed wird die Zinsen weiter erhöhen, selbst wenn Dinge brechen, solange es darin kein Problem sieht. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass sich Powell Sorgen macht, wenn der Aktienmarkt fällt. Den Fed-Put, dank dem sich die Börsen im Zweifelsfall seit der Finanzkrise immer auf die Hilfe der Geldpolitik verlassen konnten, gibt es nicht mehr. Er existiert nach wie vor im Kreditmarkt, weil das Fed dafür verantwortlich ist, dass dieser ordnungsgemäss funktioniert. Beim Aktienmarkt gilt das aber nicht mehr, und das ist eine grosse Veränderung.

Wo besteht das grösste Risiko, dass etwas kaputt geht?

Ich wünschte, ich wüsste es. Die Erfahrung mit den Pensionskassen in Grossbritannien im Herbst letzten Jahres war ein Weckruf, dass die Liquidität an den Märkten schon jetzt knapp ist. Weltweit befinden sich die Zentralbanken in einem Straffungszyklus, womit es wahrscheinlich zu Marktverwerfungen kommen wird. Es ist bloss schwer zu sagen, wo, denn viele Aktivitäten wurden ins Schattenbankwesen verlagert und wir wissen nicht, was unter der Oberfläche der Privatmärkte vor sich geht. Bekannt ist etwa, dass Private-Equity-Firmen letztes Jahr auf dem Papier weniger Verluste erlitten haben als Investoren an den Publikumsmärkten. Eine Theorie dafür ist, dass Private-Equity-Firmen einfach besser investieren. Das ist möglich, eine andere Theorie besagt aber, dass sie die Bewertungen von Vermögenswerten weniger schnell an die Marktpreise anpassen, weil sie nicht dazu gezwungen sind. Das bedeutet, dass es in diesem Bereich vermutlich mehr Verluste geben wird, die wie aus dem Nichts auftauchen.

Wo könnte es sonst noch gefährlich werden?

Ich mache mir Sorgen um den Markt für Unternehmensanleihen in den USA. Etwa ein Drittel sind Papiere mit einem BBB-Rating, dem untersten Segment der Kategorie Investment Grade. Wenn sie in einem Konjunkturabschwung auf Ramschstatus heruntergestuft werden, wird es viele Zwangsverkäufe von Anleihefonds geben, weil diese solche Vermögenswerte nicht mehr halten dürfen. Am Ende könnte es zu einem Crash im Stil der britischen Pensionskassen kommen, und dann werden mehr Sicherheiten zur Hinterlegung solcher Investments eingefordert, was zu weiteren Zwangsverkäufen führt.

Was hätte eine solche Kaskade von Verkaufswellen für Folgen?

Das Fed müsste eingreifen, um sicherzustellen, dass der Markt für Unternehmenskredite funktioniert. Das Problem ist jedoch, dass es nicht auf gleiche Weise intervenieren kann, wie die Bank of England bei den Pensionskassen mit dem Kauf britischer Staatsanleihen, zumal diese das Rating Investment Grade haben. Das Fed hat gewisse Standards, was es zu kaufen bereit ist, und Ramschanleihen genügen ihnen nicht. Es kann also nicht so leicht eingreifen, womit keine offensichtliche Lösung besteht, um die Situation zu entschärfen. Das ist eine Gefahr, die wir im Auge behalten sollten.

In einem Gastbeitrag für die «Financial Times» warnen Sie ebenfalls vor einem Eklat im politischen Streit um die Anhebung der US-Schuldengrenze. Ist das wirklich ein Risiko?

Bislang sind die Märkte ruhig geblieben, weil es in letzter Minute immer eine Einigung in Washington gab. Ein Zahlungsausfall der US-Regierung ist dieses Mal aber deutlich wahrscheinlicher, weil die Politik so stark polarisiert ist. Die Republikaner haben bloss eine hauchdünne Mehrheit im Repräsentantenhaus, was Verhandlungen über jedes wichtige Thema extrem schwierig macht – und in diesem Fall gibt es eine Deadline, die irgendwann zwischen Juni und Oktober liegt. Beide Seiten haben schon immer hart verhandelt. Doch dieses Mal ist nicht klar, wie sie zu einer Einigung kommen sollen, denn die Republikaner fordern erhebliche Ausgabenkürzungen, zu denen bei den Demokraten nicht das geringste Interesse besteht.

Was wäre das Worst-Case-Szenario?

Der Streit wird sich in die Länge ziehen, und es besteht die Gefahr, dass die USA kurzzeitig in Zahlungsverzug geraten. Wenn das passiert, dürfte es zwar recht schnell zu einer Einigung kommen, womit alle Zahlungsforderungen beglichen werden können. Für die Finanzmärkte wäre eine solche Eskalation jedoch katastrophal. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit auf 15%, dass es zu einem temporären Default der US-Regierung kommt. Für ein so katastrophales Ereignis ist das erschreckend hoch, und Investoren sollten sich damit befassen.

Ein weiteres wichtiges Thema an den Börsen ist die Öffnung der chinesischen Wirtschaft. Was für Impulse ergeben sich dadurch auf Inflation und Wachstum im Rest der Welt?

Im Rohstoffbereich ist es praktisch unvermeidlich, dass die Öffnung Chinas zu einer gewissen Inflation führt. Vor allem für Europa könnte der nächste Winter noch schwieriger werden, weil es China für Energielieferungen überbieten muss. Anders als bei früheren Konjunkturzyklen in China liegt der Fokus aber auf Wachstum, das durch Konsum und nicht durch Investitionen getrieben wird. Das bedeutet, die Nachfrage nach inländischen Dienstleistungen wird steigen, während sie bei Investitionsgütern für den Rest der Welt geringer sein wird als in früheren Phasen des Aufschwungs. Demnach dürften die Auswirkungen auf die Inflation weniger ausgeprägt sein als bisher.

Und was für Effekte hat die Öffnung auf das Wachstum?

Die chinesischen Behörden zielen in erster Linie darauf ab, Massnahmen zu beenden, die das Wachstum hemmen. Es gibt auch einige Anreize im Immobiliensektor. Aber die Kommunistische Partei meint es ernst mit der Beseitigung von Fehlentwicklungen im Immobilienmarkt. Es werden keine massiven Stimulusmassnahmen ergriffen, sondern es wird lediglich versucht, Verluste zu begrenzen. Aus diesem Grund wird dieser Aufschwung im Vergleich zur Vergangenheit eher gedämpft sein, womit auch die Spillover-Effekte weniger markant ausfallen dürften. Was das Wachstum angeht, wird Asien am meisten profitieren, während die Auswirkungen auf die Industrieländer und andere Schwellenländer ausserhalb Asiens geringer sein werden.

Etwas freundlicher sehen die Konjunkturaussichten inzwischen auch für Europa aus. Kann eine Rezession vermieden werden?

Europa hat etwas bessere Chancen, eine Rezession zu vermeiden, als die USA. Das liegt daran, dass die Inflation in den USA zu einem grossen Teil von der Nachfrage getrieben wird, wogegen es sich in der Eurozone hauptsächlich um Angebotsschocks handelt. Ein wichtiger Grund, weshalb die EZB die Zinsen anheben musste, waren die beträchtlichen Bewegungen an den Devisenmärkten. Sie waren mit dem Risiko verbunden, dass die Eurozone Inflationsdruck aus den USA und anderen Ländern importieren würde, in denen die Zentralbanken die Zinsen erhöhten. Letztlich können Zentralbanken aber nur die Nachfrage und nicht das Angebot steuern. Weil der Angebotsschock etwas nachgelassen hat, wird die EZB die Geldpolitik nicht mehr so stark straffen müssen wie das Fed, damit die Inflation zurückgeht.

Auch in Europa zeichnen sich aber strukturelle Trends wie Nearshoring und Reshoring ab, die für erhöhten Inflationsdruck sprechen. Oder sehen Sie das anders?

Als die Pandemie ausbrach, argumentierte ich, dass wir eine Zersplitterung der globalen Lieferketten erleben werden, weil sich niemand Masken und andere Schutzausrüstung beschaffen konnte. Die Daten zeigen jedoch nicht, dass sich etwas grundlegend verändert hat. Ausländische Direktinvestitionen aus den USA nach China sind 2021 auf ein Rekordhoch gestiegen und dürften für 2022 eine weitere Bestmarke erreichen. Es stimmt zwar, der Zuwachs des Welthandels relativ zum globalen BIP hat sich abgeflacht, rückläufig ist der Trend aber nicht. Generell gibt es also keine Zersplitterung, mit Ausnahme bestimmter Sektoren, die strategisch von nationaler Bedeutung sind. Ein offensichtliches Beispiel ist die Halbleiterindustrie, und die Pharmabranche könnte ebenfalls in diese Kategorie fallen. Doch mit Blick auf die Weltwirtschaft insgesamt, glaube ich nicht, dass es zu einer Abkopplung kommt, zumal es aus finanzieller Sicht keinen Sinn ergibt.

Was bedeutet das alles für die Aussichten an den Märkten?

Der Dollar dürfte den Höhepunkt hinter sich haben, womit er sich fortan wahrscheinlich abschwächen wird. Wenn ich recht habe und die USA in eine Rezession geraten, dann sind amerikanische Aktien überbewertet. Wenn die USA hingegen eine Rezession vermeiden, könnte es mit US-Aktien erneut aufwärts gehen. Europäische Aktien erscheinen aus einer relativen Betrachtung attraktiver als in der Vergangenheit, da es in der Eurozone wahrscheinlicher ist als in den USA, dass eine Rezession ausbleibt.

Worauf sollte man aus einer Makroperspektive bei Investments sonst noch achten?

Es gibt eine Frage, über die kaum jemand spricht: Wie wird die Welt aussehen, wenn sich der Staub endlich gelegt hat, wenn wir es nicht mehr mit einer Pandemie oder einem Krieg zu tun haben und das System all diese Angebotsschocks verarbeitet hat? Es gibt gute Argumente dafür, dass die säkulare Stagnation, die das Umfeld seit der Finanzkrise von 2008/09 durch gedämpftes Wachstum und niedrige Inflation geprägt hatte, nicht mehr weiter bestehen wird, wenn wir auf der anderen Seite angelangt sind.

Was heisst das für Anlagestrategien?

Geht man davon aus, dass eine Flut von globalen Ersparnissen das Wachstum, die Inflation und die Zinsen im vergangenen Jahrzehnt niedrig gehalten hat, erscheint die These einer künftig strukturell höheren Inflation nicht abwegig. Dies, weil die Ersparnisse zurückgehen dürften, wenn die Regierungen mehr Geld für Rüstung und für den Umbau zu einer klimafreundlichen Wirtschaft ausgeben müssen. Ebenfalls dafür spricht, dass die Globalisierung zwar nicht rückgängig gemacht wird, die Tendenz dazu aber vermutlich weniger stark sein wird.

Und was ergeben sich daraus für Konsequenzen an den Börsen?

In der Zeit der säkularen Stagnation sind Wachstumsunternehmen an der Börse besser gelaufen als Value-Unternehmen. Der Tech-Sektor ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn man also davon ausgeht, dass sich die Dinge strukturell verschieben könnten, wenn sich der Staub gelegt hat, dann spricht das dafür, dass in Zukunft nicht mehr Wachstumsunternehmen, sondern Value-Unternehmen besser abschneiden.

Megan Greene

Megan Greene ist Global Chief Economist für das Kroll Institute. Mit einem globalen Fokus, der sich aus ihrem Berufsleben zwischen Grossbritannien und den USA ergibt, beschäftigt sie sich mit den Schnittstellen zwischen Makroökonomie, Finanzmärkten und Politik. Zuvor war sie Chefvolkswirtin bei John Hancock/Manulife Asset Management, Mitbegründerin von Maverick Intelligence, Leiterin des Bereichs Europa bei Roubini Global Economics und Expertin für die Eurokrise bei der Intelligence Unit des «Economist». Sie hat ein Studium an der Princeton University sowie an der University of Oxford abgeschlossen, tritt regelmässig als Keynote Speaker bei Anlässen der Finanzindustrie auf und schreibt eine zweiwöchentliche Kolumne in der «Financial Times» über aktuelle Entwicklungen in der Weltwirtschaft.
Megan Greene ist Global Chief Economist für das Kroll Institute. Mit einem globalen Fokus, der sich aus ihrem Berufsleben zwischen Grossbritannien und den USA ergibt, beschäftigt sie sich mit den Schnittstellen zwischen Makroökonomie, Finanzmärkten und Politik. Zuvor war sie Chefvolkswirtin bei John Hancock/Manulife Asset Management, Mitbegründerin von Maverick Intelligence, Leiterin des Bereichs Europa bei Roubini Global Economics und Expertin für die Eurokrise bei der Intelligence Unit des «Economist». Sie hat ein Studium an der Princeton University sowie an der University of Oxford abgeschlossen, tritt regelmässig als Keynote Speaker bei Anlässen der Finanzindustrie auf und schreibt eine zweiwöchentliche Kolumne in der «Financial Times» über aktuelle Entwicklungen in der Weltwirtschaft.