Interview

«Die Zentralbanken müssen sich beeilen»

Raghuram Rajan, Finanzprofessor an der Universität Chicago und vormaliger Chef der indischen Zentralbank, hält die Gefahr hartnäckiger Inflation für beträchtlich. Er warnt davor, dass die Börsen die Möglichkeit eines deutlichen Anstiegs der Zinsen unterschätzen.

Christoph Gisiger
Drucken

English Version

Die Nachricht ist beunruhigend: In den USA ist die Inflation im Januar weiter auf 7,5% gestiegen. Das ist erneut schneller als erwartet und entspricht dem höchsten Stand seit den frühen Achtzigerjahren. Die Renditen an den Bondmärkten verspüren einen Schub, die Zinsen auf zehnjährige US-Staatsanleihen notieren erstmals höher als vor der Pandemie.

Trotz dieser heftigen Bewegungen bleiben die Börsen erstaunlich gelassen. Der US-Leitindex S&P 500 notiert kaum mehr als 6% unter dem Rekordhoch von Anfang Januar - und genau das ist aus Sicht von Raghuram Rajan das Problem.

«In der Vergangenheit konnte die US-Notenbank nur schon mit Signalisieren die Bedingungen an den Finanzmärkten straffen», sagt der Finanzprofessor an der Universität Chicago und vormalige Gouverneur der Reserve Bank of India. «Dieses Mal könnte das hingegen nicht ausreichen, weil sich die Märkte so stark an eine lockere Zinspolitik gewöhnt haben.»

Rajan weiss, wovon der spricht. Für internationales Aufsehen sorgte er bereits im Sommer 2005, als er vor versammelter Finanzelite am Wirtschaftssymposium in Jackson Hole vor Exzessen im Bankensystem warnte. Damals scharf kritisiert, gehört er heute zu den renommiertesten Ökonomen unserer Zeit.

«Die grössten Risiken sind immer die, die man nicht sieht. Aber die Schulden im öffentlichen Sektor sind ein bekanntes Risiko, dem wir lange Zeit keine Beachtung geschenkt haben»: Raghuram Rajan.

«Die grössten Risiken sind immer die, die man nicht sieht. Aber die Schulden im öffentlichen Sektor sind ein bekanntes Risiko, dem wir lange Zeit keine Beachtung geschenkt haben»: Raghuram Rajan.

Bild: Bloomberg

Im ausführlichen Interview legt er dar, warum er mit einer reellen Gefahr von hartnäckiger Inflation rechnet und was das für die Finanzmärkte bedeuten könnte. Ausserdem äussert er sich zu den ambitionierten Reformplänen Chinas und zu den strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft durch die Pandemie.

Herr Professor Rajan, in Ihrem neusten Essay argumentieren Sie, dass sich das Umfeld für die Wirtschafts- und Geldpolitik fundamental verändert. Was genau meinen Sie damit?

In den Industrieländern haben wir uns daran gewöhnt, dass die Zentralbanken praktisch über unbegrenzte Möglichkeiten für Massnahmen verfügen, die sich angenehm anfühlen. Mit anderen Worten: Wir können die Zinsen extrem tief halten, was für Sparer natürlich nicht angenehm ist, für Kreditnehmer und die Wirtschaft generell aber schon. Tiefe Zinsen erleichtern es, Vermögenswerte zu kaufen, womit die Preise von Vermögenswerten steigen. Das gefällt besonders denen, die Vermögenswerte besitzen, gleichgültig ob es sich um Häuser oder Finanzanlagen handelt. Dank der niedrigen Inflation war dieser Spielraum für eine stimulierende Geldpolitik bisher kaum eingeengt.

Und wie sieht es heute aus?

Die Zentralbanken müssen sich auf ein anderes Umfeld einstellen. Sie müssen mit grossem Nachdruck signalisieren, dass sie es ernst meinen, wenn sie zu ihrer traditionellen Aufgabe zurückkehren, der Eindämmung der Inflation. Leider wird das durch die Wahrnehmung erschwert, dass die Zentralbanken nicht gewillt sind, alles zu tun, was dafür erforderlich ist – und zwar hinsichtlich restriktiver, nicht stimulativer Massnahmen. So reagierten die Märkte gegen Ende Januar zunächst ausgesprochen negativ auf Aussagen von Fed-Chef Powell, dass die US-Notenbank alles in ihrer Macht Stehende unternehmen werde, um die Inflation einzudämmen. Dann haben aber diverse Notenbankpräsidenten von regionalen Fed-Distrikten dieses Statement abgeschwächt und versichert, dass sie die Wirtschaft nicht abwürgen werden. Das bestärkt die Märkte in der Hoffnung, dass die Party ohne negative Konsequenzen weitergehen kann.

Was bedeutet das konkret für die Geldpolitik in den USA?

Wenn die US-Notenbank es wirklich ernst meint, wird sie beim Anheben der Zinsen und der Straffung der Geldpolitik generell aggressiver als früher vorgehen müssen, bevor der Markt endlich akzeptiert, dass es dieses Mal anders ist. Darin liegt ein Teil des Problems: In der Vergangenheit konnte das Fed nur schon mit Signalisieren die Bedingungen an den Finanzmärkten straffen. Dieses Mal könnte das hingegen nicht ausreichen, weil sich die Märkte so stark an eine lockere Zinspolitik gewöhnt haben.

Weshalb denken Sie, dass sich das Umfeld grundlegend verändert hat? Könnte die Inflation im weiteren Jahresverlauf denn nicht wieder abklingen?

Niemand kann darauf pochen, absolut Recht zu haben, denn wir wissen nicht, wie es mit der Wirtschaft weitergeht. Verschiedene Trends deuten aber daraufhin, dass es dieses Mal anders ist und wir es tatsächlich mit hartnäckig hoher Inflation zu haben. Die Versorgungsengpässe sind ziemlich problematisch, und sie könnten sich noch verschlimmern, wenn China neue Lockdown-Massnahmen anordnen sollte. Wichtig ist aber vor allem die angespannte Situation an den Arbeitsmärkten. Einerseits hat sie vermutlich mit dem Charakter der Konjunkturerholung zu tun. In den USA zum Beispiel ist die Arbeitslosigkeit in manchen Gebieten bereits sehr niedrig. In anderen Regionen, wie in der Stadt New York, wo viele Leute im Dienstleistungssektor tätig sind, ist sie hingegen mit rund 9% nach wie vor hoch.

Und andererseits?

Es besteht zudem der Eindruck, dass Jobs mit niedriger Bezahlung und engem Kontakt zu anderen Menschen nur zögerlich angenommen werden. Auch haben sich viele Leute frühzeitig pensionieren lassen. Gerade in den USA haben Millionen von Menschen gekündigt, um eine bessere Stelle zu suchen; ein Phänomen, das als «The Great Resignation» oder «die grosse Kündigungswelle» bezeichnet wird. Wenn wir alle diese Faktoren zusammenzählen, dann hat sich der Arbeitsmarkt meiner Ansicht nach verändert. Hinzu kommt, dass Forderungen nach höheren Löhnen breite Unterstützung finden. Die Toleranz für Streiks und Gewerkschaften nimmt zu. Das ist nachvollziehbar, treibt aber die Arbeitskosten und damit die Inflation nach oben.

Gleichzeitig spielt sich auf der Angebotsseite jedoch eine massive Gegenreaktion auf die Engpässe ab. Überall werden Kapazitäten aufgebaut, speziell in der Halbleiterindustrie. Hat das künftig nicht einen dämpfenden Effekt auf Preise und Inflation?

Hier gibt es aber auch eine Kehrseite: Wenn sich die Engpässe im verarbeitenden Gewerbe lösen, wird sich der Dienstleistungssektor vollständig öffnen. Folglich wird aus diesem Bereich eine starke Nachfrage nach Arbeitskräften kommen. Daher fragt sich, wie diese Stellen besetzt werden sollen, zumal der Arbeitsmarkt bereits angespannt ist. Momentan werden die Preise im Dienstleistungssektor bis zu einem gewissen Grad durch die schwache Nachfrage gedämpft. Wenn die Wirtschaft aber wieder ins Gleichgewicht kommt, warum sollten die Preise im Dienstleistungssektor dann nicht steigen, während sie in der Industrie sinken? Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob es so selbstverständlich ist, dass sich die Dinge zum Guten wenden werden.

Gibt es weitere Gründe, die für hartnäckig hohe Inflation sprechen?

Früher beschränkte die Globalisierung Forderungen nach höheren Löhnen: Wenn die Belegschaft eines Industrieunternehmens in den USA zu hohe Ansprüche stellte, konnte die Fabrik einfach nach Mexiko oder China verlegt werden. Unter den heutigen Bedingungen ist es für einen Arbeitgeber politisch kaum mehr möglich, öffentlich solche Androhungen zu machen. Das ist ein weiterer Aspekt, der dafür sorgt, dass das Umfeld möglicherweise länger inflationär bleibt. Und schliesslich hat die Politik auf die Pandemie mit noch wesentlich massiveren Interventionen reagiert als auf die letzte Krise. Die US-Regierung hat fast sechs Billionen Dollar für Konjunkturprogramme ausgegeben, den gescheiterten «Build Back Better»-Plan von Präsident Biden nicht einmal inbegriffen.

Gibt es Ihrer Ansicht nach auch glaubwürdige Argumente dafür, dass der Teuerungsschub nachlassen könnte?

Durchaus. Erstens hat die Pandemie disinflationäre Impulse in den Schwellenländern ausgelöst, denn das Virus hat dort grossen Schaden hinterlassen. Zweitens könnte man auch argumentieren, dass sich in China bedeutende Veränderungen abspielen, was die Inflation auf globaler Ebene ebenfalls dämpfen könnte. Peking versucht, die Wirtschaft anzukurbeln, indem die üblichen Hebel in Bewegung gesetzt werden, eine lockerere Geldpolitik etc. Es bleibt aber eine offene Frage, ob sich Chinas Konjunktur ohne einen robusten Bausektor so einfach revitalisieren lässt. Das sind zwar Faktoren, weshalb ich mit Aussagen zögere wie: «Es wird definitiv zu rasender Inflation kommen». Trotzdem: Nach allem, was wir bis jetzt wissen, sind die Inflationsimpulse sehr stark, und die Zentralbanken müssen sich beeilen.

Noch vor einem Jahr versicherte Fed-Chef Powell, dass die Zinsen in den USA nicht vor 2024 angehoben werden. Jetzt rechnen die Märkte schon an der nächsten Fed-Sitzung von Mitte März gleich mit einem doppelten Zinsschritt von 50 Basispunkten. Ebenso soll später im Jahr der Abbau der Fed-Bilanz beginnen. Hinkt das Fed hinterher?

Das Umfeld ist ausgesprochen unsicher, und das Fed steckt auch politisch in der Zwickmühle: Es hatte im Sommer 2020 seine Prinzipien zur Geldpolitik zu einer Zeit neu ausgerichtet, als das Problem niedrige Inflation war. Gemäss diesem neuen Regelwerk muss es nicht mehr umgehend eingreifen, wenn die Teuerung die Zielrate von 2% überschiesst. Eine voreilige Zinserhöhung wäre daher politisch problematisch gewesen. Hinzu kommt ein zweiter Aspekt.

Und der wäre?

Normalerweise geht die wirtschaftliche Aktivität zurück, wenn das Fed einen Zyklus zur Straffung der Geldpolitik startet. Nicht zu vergessen ist dabei, dass der US-Kongress die Konjunktur mit Stimulusprogrammen kräftig angeheizt hat. Wenn das Fed diesen Effort mit allzu forschen Zinserhöhungen nun zunichtemacht, manövriert es sich in eine heikle Situation. Folglich blieb ihm politisch, aber auch ökonomisch gar keine andere Wahl, als abzuwarten, ob sich der Aufschwung wirklich als robust erweist. Als dann die Daten von November und Dezember trotz der Omikron-Mutation zeigten, dass sich die Konjunktur zügig erholt, blickte es durch die neue Welle an Ansteckungen hindurch und signalisierte: «Jetzt ist es Zeit zu handeln».

Wie gross ist die Gefahr, dass die US-Notenbank nun einen geldpolitischen Fehler macht?

Wenn überhaupt, besteht das Risiko eines Fehlers in der Annahme, dass wir zwar nicht wissen, wie wir mit niedriger Inflation umgehen sollen, die Lösung gegen hohe Inflation aber gut kennen. Ich glaube, wir unterschätzen den politischen Willen, den es braucht, um hohe Inflation zu bekämpfen. Es wird nicht verstanden, wie stark die Zinsen gestrafft werden müssen, wenn die Inflation hoch bleibt. In vergangenen Perioden mit hoher Inflation musste das Fed den Nominalzins in der Regel um ein oder zwei Prozentpunkte über die Inflationsrate anheben, um sie zu senken. Heute liegen die fünfjährigen Inflationserwartungen in den USA bei 2,8 bis 2,9%. Rechnet man einen Prozentpunkt hinzu, müsste der Leitzins auf 4% steigen. Doch damit rechnet momentan so gut wie niemand.

Stufen die Aktienmärkte das Risiko von hartnäckiger Inflation demnach falsch ein?

Ich bin Professor an der Universität Chicago. Daher fällt es mir schwer zu sagen, dass der Markt etwas definitiv falsch bewertet. Tatsache ist, dass einige Segmente an der Börse deutlich überbewertet waren. In letzten Monaten ist Luft aus einigen dieser Bereiche entwichen. Ob noch mehr Luft rausgelassen werden muss, weiss ich nicht. Klar ist, dass das Verhalten der Börsen bislang nicht den Eindruck erweckt, das Fed müsste viel unternehmen, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Anders gesagt: Alles, was einen disinflationären Impuls innerhalb der USA erfordert – das Fed erhöht den Leitzins, was die Aktienkurse einbrechen lässt, die Stimmung und die Nachfrage dämpft und das Wirtschaftswachstum verlangsamt – wird in den Aktienkursen nicht eingepreist. Wenn es für das Fed also nötig wird, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, muss es demonstrieren, dass es bereit ist, auch unschöne Dinge zu tun.

Wie lässt sich dieses nonchalante Verhalten der Börsen erklären?

Vielleicht wissen die Märkte etwas, das wir nicht wissen: Dass disinflationärer Druck aus dem Rest der Welt die Inflation in den USA eindämmen wird. Das ist möglich, und vielleicht werden die Massnahmen, die China derzeit ergreift, der entscheidende Katalysator dafür sein. Was in China passieren wird, kann aber niemand genau vorhersagen. Das, weil China dieses Mal ebenfalls etwas anderes macht.

Worauf sprechen Sie damit an?

Chinas Reformmassnahmen sind in vielerlei Hinsicht immens, und man kann ihren Zusammenhang erkennen: Das Land will weniger abhängig von Exporten und Investitionen sein. Exporte, weil der Rest der Welt zusehends unfreundlicher wird, weshalb es nicht vom Rest der Welt abhängig sein will. Investitionen, weil im Wesentlichen alles investiert ist, was zu investieren war. Mit Blick auf den Bausektor zum Beispiel ist die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in China inzwischen praktisch gleich gross wie in Frankreich, obschon das Pro-Kopf-Einkommen nur ein Drittel so gross ist. Und: Wie viele Hochgeschwindigkeitszüge braucht es noch? Wenn China wieder mehr Wachstum will, muss es deshalb den Konsum steigern, was höhere Löhne voraussetzt. Und das bedeutet, dass sich das Land von der alten Wirtschaft, die auf günstiger Arbeit und Billiglöhnen basierte, verabschieden muss.

Was bedeutet das für Chinas Wirtschaftspolitik?

Es bedeutet, dass sich das Gewicht auf den Privatsektor, auf Technologie usw. verlagern muss. Aber hier besteht ein weiteres Problem: Einige der High-Tech-Bereiche sind Monopole, die sehr mächtig sind und die Position der kommunistischen Partei schwächen könnten. Ausserdem könnten sie einen erheblichen Teil der Ausgaben der Haushalte absorbieren und damit den gewünschten Konsum beeinträchtigen. Ein prominentes Beispiel sind die Internetplattformen für Bildung. Wenn Haushalte aus der chinesischen Mittelschicht viel Geld für Onlineschulkurse ausgeben müssen, dann stehen ihnen weniger andere Konsummöglichkeiten zur Verfügung. Das ist die Herausforderung mit dem übergeordneten Thema von Chinas Reformpolitik: Alte Wachstumsbereiche einzudämmen und neue zu erschliessen.

Kann diese ambitionierte Strategie überhaupt funktionieren?

Es sind enorm viele Baustellen: Die Begrenzung des Export- und Immobiliensektors sowie der Versuch, den Konsum zu erhöhen und die Ausrichtung auf niedrige Löhne und auf einen hohen Kapitaleinsatz zu verringern. Das sind Reformen, die in anderen Ländern ein Menschenleben lang dauern würden. China versucht, sie im Eilzugstempo umzusetzen – und genau das ist die Sorge: Dass es Peking nicht gelingt. Wenn man sich nur schon Chinas Immobiliensektor ansieht, dann ist das Volumen an faulen Krediten weitaus grösser als im US-Hypothekenmarkt auf dem Zenit der Immobilienblase, und diese endete mit einer globalen Finanzkrise.

Sie gehörten damals zu den wenigen Kritikern, die früh vor dem systemischen Risiko im Finanzsektor warnten. Wo besteht derzeit am meisten Gefahr?

Das grosse Risiko liegt darin, dass wir uns an den Support ultratiefer Zinsen gewöhnt haben. Überall auf der Welt sind die Bilanzen im öffentlichen Sektor angespannt, weil so viel Schulden aufgenommen worden sind. Zahlreiche Ökonomen behaupten, dass daran nichts falsch sei. Weil die Zinsen so niedrig sind, bestehe mehr Spielraum für Staatsausgaben, argumentieren sie. Doch was passiert, wenn die Zinsen steigen? Hinzu kommt, dass ein Grossteil der öffentlichen Schulden recht kurze Laufzeiten hat. Irgendwie haben wir aufgehört, über die Verschuldung von Ländern wie Italien nachzudenken. Aber was bedeutet es für die Finanzen im öffentlichen Sektor, wenn die Pandemie überwunden ist und die Zinsen nicht auf 1 oder 2% verharren, sondern auf 4 oder 5% anziehen? Die grössten Risiken sind immer die, die man nicht sieht. Aber die Schulden im öffentlichen Sektor sind ein bekanntes Risiko, dem wir lange Zeit keine Beachtung geschenkt haben.

Im Nachgang der grossen Rezession von 2008/09 waren hohe Staatsschulden primär für Europa und die Vereinigten Staaten ein Thema. Wie gehen Schwellenländer wie Indien heute mit der Herausforderung hartnäckiger Inflation um?

In der Erwartung, dass schwierigere Zeiten auf sie zukommen, haben die Schwellenländer generell mit einer Anhebung der Zinsen reagiert. Konkrete Beispiele sind Brasilien und Russland. Für die Zentralbanken in den Schwellenländern besteht die Gefahr vor allem darin, dass sie hin- und hergerissen sind zwischen ihrem Mandat zur Bekämpfung der Inflation und dem Bestreben, die Regierungsbehörden in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Wenn man zwischen diesen beiden Zielen hin- und hergerissen ist, erreicht man keines von beiden. Versucht man, den Fiskalbehörden zu helfen, verliert man seine Glaubwürdigkeit als Zentralbank. Als Folge davon schiessen die Zinsen in die Höhe, was wiederum den Behörden schadet. Solange aber das Vertrauen besteht, dass man rechtzeitig und vernünftig handeln wird, braucht es nur ein moderates Mass an geldpolitischen Straffungen.

Seit letztem Frühjahr hat zudem der Dollar kräftig angezogen. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Schwellenländer aus, wo Kredite oft in Dollar denominiert sind?

Der Kreditmarkt ist in der Regel der Kanal, über den sich ein stärkerer Dollar auf die Emerging Markets auswirkt. Indien hat nicht viele Dollar-Schulden, andere Schwellenländer hingegen schon, und das gibt Anlass zur Sorge. Das hohe Dollar-Exposure ist denn auch ein Hauptgrund für die globalen Auswirkungen, die damit einhergehen, wenn das Fed die Zinsen anhebt. In den Schwellenländern besteht die Notwendigkeit für eine Straffung der Geldpolitik momentan weniger wegen der lokalen Wirtschaftsbedingungen, sondern mehr wegen des drohenden Kapitalabflusses und der Abwertung der Währung, wenn die Geldpolitik nicht auf die Entwicklungen in den USA abgestimmt ist. Dem Fed kann man dafür aber keine Vorwürfe machen. Es kann nicht länger zuwarten, sondern muss jetzt intervenieren.

Dass sich die USA und Europa heute erstmals seit Jahrzehnten mit hartnäckiger Inflation konfrontiert sehen, hat auch damit zu tun, dass die Pandemie die Wirtschaft strukturell verändert hat. Wie nehmen Sie diesen Wandel wahr?

Durch die Pandemie ist eine Reihe von sozialen Kräften erstarkt. Dazu zählt die Angst vor äusseren Einflüssen: Die Globalisierung ist zwar eine positive Entwicklung. Sie hat beispielsweise geholfen, Impfstoffe in Teile der Welt zu bringen, wo sie nicht produziert wurden; wenn auch weniger effektiv, als erforderlich gewesen wäre. Andererseits gehen mit der Globalisierung aber Komplikationen einher: Die Lieferkette eines Unternehmens wird durch Ereignisse beeinträchtigt, die Tausende von Kilometern weit entfernt stattfinden. Unter dem Strich befürchte ich daher, dass die Pandemie den Protektionismus eher gestärkt als geschwächt hat.

Wo sehen Sie weitere Auswirkungen?

Im Zuge der Pandemie haben Möglichkeiten zugenommen, Arbeit breiter zu verteilen. Durch Fernarbeit mit «Work from Home»-Modellen kann sich wirtschaftliche Aktivität über ein ganzes Land ausdehnen. Eines der grossen Probleme, auf das ich in meinem letzten Buch «The Third Pillar» eingehe, ist die Konzentration der Wirtschaftstätigkeit auf Grossstädte. Viele Gemeinden in ländlichen Regionen verlieren dadurch die ökonomische Basis. Dieser Trend war ein wesentlicher Faktor für die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Globalisierung und Zuwanderung aus dem Ausland.

Heisst das, der technologische Wandel im Zug der Pandemie eröffnet Chancen für neue Wirtschaftsmodelle?

Fernarbeit macht es möglich, Einkommen in einer Gemeinde zu erzielen, auch wenn die betreffende Tätigkeit nicht für diese Gemeinde ausgeübt wird. Auf dieser Idee müssen wir aufbauen. Es ist enorm wichtig, dass wir das Gemeinwesen stärken, damit die Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit und Identität haben, ohne grosse Barrieren gegen Globalisierung und Einwanderung zu errichten. Von der Schweiz, die bei der Dezentralisierung ziemlich effektiv ist, lässt sich hier einiges lernen. Die Verlagerung von mehr Befugnissen an die Kantone und Gemeinden, wie das die Schweiz praktiziert, kann in anderen Ländern dazu beitragen, das Gefühl der Machtlosigkeit zu lindern, das Menschen überall auf der Welt bedrückt.

Das klingt überraschend optimistisch.

Wir stehen sicherlich vor grossen Herausforderungen, haben aber auch viele Chancen. Die Technologie eröffnet uns so viele neue Möglichkeiten. Es mag vielleicht abgedroschen klingen, aber solange wir unseren Sinn für Brüderlichkeit und Menschlichkeit bei der Nutzung neuer Technologien bewahren, können wir zusammen viel mehr erreichen. Wenn wir aber versuchen, Technologien nur zum Vorteil einer kleinen Gruppe zu nutzen, schafft das nur noch mehr Probleme. Vielleicht zwingt uns die Pandemie dazu, über diese neuen Möglichkeiten nachzudenken, zumindest für die Zukunft – und das wird uns helfen, grosse Probleme, einschliesslich des Klimawandels, gemeinsam zu bewältigen. Ich bin also immer optimistisch.

Raghuram Rajan

Raghuram Rajan gehört zu den renommiertesten Ökonomen unserer Zeit. In Zentralindien aufgewachsen, hatte er zunächst ein Studium als Elektroingenieur abgeschlossen, worauf er Anfang der Neunzigerjahre am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Finanzwissenschaften doktorierte. 2003 wurde er zum jüngsten Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds ernannt. Für weltweites Aufsehen sorgte er, als er im Sommer 2005 am Wirtschaftssymposium von Jackson Hole vor versammelter Finanzelite vor Exzessen im Bankensystem warnte. Von 2013 bis 2016 amtete er als Gouverneur der Reserve Bank of India, worauf er nach einem Zerwürfnis mit der Regierung Modi abrupt zurücktrat. Der 59-Jährige Volkswirt lehrt heute an der Booth School of Business der University of Chicago. Er hat mehrere preisgekrönte Bücher verfasst. Sein aktuellstes Werk ist 2019 unter dem Titel «The Third Pillar» erschienen und befasst sich mit der Interaktion von Staat, Märkten sowie Gemeinden, und wie sich daraus Rezepte zur Förderung von nachhaltigem Wachstum ableiten lassen.
Raghuram Rajan gehört zu den renommiertesten Ökonomen unserer Zeit. In Zentralindien aufgewachsen, hatte er zunächst ein Studium als Elektroingenieur abgeschlossen, worauf er Anfang der Neunzigerjahre am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Finanzwissenschaften doktorierte. 2003 wurde er zum jüngsten Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds ernannt. Für weltweites Aufsehen sorgte er, als er im Sommer 2005 am Wirtschaftssymposium von Jackson Hole vor versammelter Finanzelite vor Exzessen im Bankensystem warnte. Von 2013 bis 2016 amtete er als Gouverneur der Reserve Bank of India, worauf er nach einem Zerwürfnis mit der Regierung Modi abrupt zurücktrat. Der 59-Jährige Volkswirt lehrt heute an der Booth School of Business der University of Chicago. Er hat mehrere preisgekrönte Bücher verfasst. Sein aktuellstes Werk ist 2019 unter dem Titel «The Third Pillar» erschienen und befasst sich mit der Interaktion von Staat, Märkten sowie Gemeinden, und wie sich daraus Rezepte zur Förderung von nachhaltigem Wachstum ableiten lassen.