Interview

«Die USA verhalten sich wie ein krankes Schwellenland»

Louis-Vincent Gave, CEO und Mitgründer von Gavekal Research, spricht im Interview über die grossen Veränderungen des Jahres 2020 und sagt, wie sich Investoren für die neue Anlagewelt positionieren sollen.

Mark Dittli
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Louis-Vincent Gave ist ein Meister des grossen Bildes. Der Mitgründer der Hongkonger Research-Boutique Gavekal schreibt regelmässig – auch für The Market – über geopolitische und makroökonomische Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Finanzmärkte.

Im grossen Jahresend-Interview teilt Gave seine Ansichten über den Dollar, die Aktienmärkte, den Öl- und den Goldpreis – und er erklärt, weshalb die Inflation mit voller Wucht zurückkehren wird.

«Der diesjährige Schuldenaufbau in den USA hat null produktive Investitionen finanziert. Keine neuen Strassen, keine Flughäfen, Eisenbahnen, nichts»: Louis-Vincent Gave.

«Der diesjährige Schuldenaufbau in den USA hat null produktive Investitionen finanziert. Keine neuen Strassen, keine Flughäfen, Eisenbahnen, nichts»: Louis-Vincent Gave.

Bilder: Laurent Burst

Herr Gave, 2020 war ein Jahr der grossen Veränderungen im globalen Investitionsumfeld. Was sind mit Blick auf die Zukunft die wichtigsten Themen für Sie?

Ich habe die meiste Zeit meiner Karriere in Asien verbracht, daher ist meine Sichtweise gefärbt. Aber mit dieser Vorbemerkung würde ich Folgendes sagen: Als die Covid-Krise begann, war die verbreitete Ansicht im Westen, dass dies Chinas Tschernobyl-Moment sein würde. Dass sie es komplett vermasselt haben, was schliesslich das Regime in Peking schwächen würde. Heute steht China viel besser da als die meisten westlichen Länder. In China herrscht das Narrativ, dass das Land mit den beiden grossen Verwerfungen der letzten 15 Jahre, der Finanzkrise von 2008 und der Covid-Pandemie, souveräner fertig wurde als der Westen. Die meisten Länder Asiens sind viel besser durch diese Krise gekommen als die westliche Welt.

Was sehen Sie sonst noch?

Meiner Meinung nach dreht sich die Weltwirtschaft um drei Schlüsselpreise: die Rendite zehnjähriger Treasury Notes, den Ölpreis und den Dollar. Vor zwölf Monaten waren die Zinsen und der Ölpreis im Sinkflug, während der Dollar stark war. Heute steigen die Treasury-Renditen und der Ölpreis, während der Dollar sinkt. Das Blatt hat sich komplett gewendet. Wenn ich einen Markt sehe, an dem die Zinssätze steigen und die Währung fällt, läuten die Alarmglocken.

Warum?

Das ist das, was Sie in einem kranken Schwellenland sehen würden. Wenn, sagen wir, in Indonesien die Zinsen steigen und die Währung fällt, ist das ein Signal, dass die Investoren flüchten. Das ist heute das Signal in Amerika: Die USA verhalten sich wie ein krankes Schwellenland. Wir haben sogar ein Fragezeichen darüber, ob sie in der Lage sind, eine faire Wahl durchzuführen. Es genügt zu sagen, dass mindestens 30% aller Amerikaner glauben, ihr Wahlsystem sei manipuliert. Das ist schockierend.

Was steht hinter dem sinkenden Dollar und den steigenden Treasury-Renditen?

Die Staatsverschuldung der USA ist in diesem Jahr um mehr als 4 Bio. $ gestiegen, was sich auf 12'800 $ pro Person summiert. Die meisten westlichen Staaten, am extremsten die USA, haben ihre Fiskal- und Geldpolitik in historisch beispiellosem Ausmass ausgeweitet. In gewisser Weise folgen sie dem Drehbuch, dem China nach 2008 gefolgt ist, als es einen massiven Anstieg der Fiskalausgaben und der Geldmenge zuliess. Heute hält sich Peking fiskal- und geldpolitisch zurück, während der Westen keine Grenzen mehr kennt.

Die ausgeweitete Fiskal- und Geldpolitik dient dazu, den Schlag der Pandemie abzufedern. Was ist daran falsch?

China finanzierte nach 2008 in grossem Stil Infrastrukturprojekte: Flughäfen, Eisenbahnen, Strassen, was auch immer. Einige dieser Projekte erwiesen sich als produktiv, viele andere nicht, aber ich war schon damals der Meinung, sie wären definitiv produktiver als blosse Sozialtransfers. Der diesjährige Schuldenaufbau in den USA hingegen hat null produktive Investitionen finanziert. Keine neuen Strassen, keine Flughäfen, Eisenbahnen, nichts. Die Regierung hat nur Geld an die Leute geschickt, damit sie zu Hause sitzen und fernsehen. Eine derartige Anhäufung unproduktiver Schulden kann sich auf zweierlei Arten niederschlagen: Entweder in den Finanzierungskosten für den Staat, also in steigenden Zinsen, oder in einer Abwertung der Währung. Das wird die Verantwortlichen der US-Notenbank bald in eine Zwickmühle bringen.

Auf welche Weise?

Sie werden entscheiden müssen, ob sie die Treasury-Renditen steigen lassen oder nicht. Wenn sie eine Normalisierung auf das Niveau von vor der Covid-Krise zulassen, müssten die Zehnjahreszinsen auf etwa 2,5% steigen. Aber wenn sie das tun, wird die Finanzierung der Regierung problematisch. Wenn die Zinsen steigen, kommen die USA in einen Zyklus, in dem sie sich mehr Geld leihen müssen, nur um die Zinsen bezahlen zu können, was keine gute Position ist.

Erwarten Sie, dass das Fed eingreift und den Zinsanstieg begrenzt?

Ja. Und wenn das geschieht, würde ich sagen, dass der Dollar einen Einbruch von 20% erleiden wird.

Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes liegt derzeit bei 0,95%. Wann wird das Fed eingreifen?

Ich würde sagen ungefähr bei 2%. Diese Frage wird sich recht bald stellen, denn im Frühjahr werden das Wirtschaftswachstum und die Inflation aufgrund des Basiseffekts in die Höhe schnellen, was bedeutet, dass die Bondrenditen rasch in Richtung 2% streben.

«Kapital fliesst dorthin, wo es die höchsten Realzinsen erhält»: Gave

«Kapital fliesst dorthin, wo es die höchsten Realzinsen erhält»: Gave

Sie haben kürzlich den Kauf von Gold und Bankaktien empfohlen, um sich auf dieses Ereignis vorzubereiten. Warum?

Mein Basisszenario ist, dass die Zehnjahreszinsen in den USA auf 2% steigen, woraufhin das Fed eingreift und eine Variante der Zinskurvenkontrolle einführt. In diesem Fall würde der Dollar abstürzen, die Realzinsen würden sinken und Gold würde florieren. Aber vielleicht liege ich falsch, vielleicht kriegen die Verantwortlichen im Fed kalte Füsse, wenn sie Inflationsraten von 4% sehen, und beschliessen, die Bondrenditen ungehindert steigen zu lassen. In diesem Fall würden die Aktienkurse von Banken dank der steileren Zinskurve nach oben schnellen. Je nachdem, ob das Fed zur Zinskurvenkontrolle greift, werden entweder Gold oder die Bankaktien steigen.

Sie tendieren zu Gold?

Ja. Es ist aber möglich, dass der Dollar in den kommenden Wochen nochmals steigt, während die Treasury-Renditen nach oben ziehen. Das könnte einen Ausverkauf in Gold provozieren. Sollte das geschehen, würde ich den Dollar verkaufen und Gold kaufen.

Der Dollar war in den letzten zehn Jahren stark. Ist er nun in einen neuen strukturellen Bärenmarkt eingetreten?

Daran zweifle ich nicht. Vor etwas mehr als einem Jahr waren die USA die einzige namhafte Volkswirtschaft, die positive Realzinsen aufwies. Genau so, wie Wasser bergab fliesst, fliesst Kapital dorthin, wo es die höchsten Realzinsen erhält. Heute dagegen liegen die Realzinsen in den USA deutlich im negativen Bereich, und angesichts des Anstiegs der Inflation, den wir im Frühjahr sehen werden, werden sie noch weiter sinken.

Was sind, abgesehen von negativen Realzinsen, weitere Gründe für die Dollar-Baisse?

Zunächst müssen wir uns fragen, warum wir im letzten Jahrzehnt überhaupt eine Dollar-Hausse hatten. Die Antwort ist die Schieferöl-Revolution. Als sich die USA ab 2011 in Richtung Energieunabhängigkeit bewegten, schrumpfte ihr Handelsdefizit. Die Schieferöl-Revolution bedeutete, dass die USA auf einmal keine Dollars mehr exportierten mussten.

Und dieses Blatt hat sich gewendet?

Ja. Die Ölproduktion in den USA bricht zusammen. Die Schieferöl-Produzenten haben den Preiskampf gegen die Saudis und die Russen verloren. Die US-Ölproduktion ist bereits um 2,5 Mio. Barrel pro Tag gesunken und wird in den nächsten zwölf Monaten um weitere 2,5 Mio. Barrel sinken, weil alle grossen Ölkonzerne ihre Investitionen kürzen. Schauen Sie sich nur Chevron und Exxon an, deren Investitionspläne für die nächsten fünf Jahre auf die Hälfte des Niveaus von 2014 gesunken sind. Amerika wird, wenn sich die Wirtschaft nach Covid erholt, wieder in grossem Umfang Öl importieren müssen und jährlich 100 bis 120 Mrd. $ in den Rest der Welt fliessen lassen. Das ist keine gute Perspektive für den Dollar.

Wird die US-Produktion nicht anspringen, wenn der Ölpreis über 50 $ steigt?

Man kann die Ölproduktion nicht wie einen Wasserhahn aufdrehen. Es wird mindestens zwei Jahre dauern, bis sie wieder steigt. Die Schieferölförderung in den USA war enorm kapitalvernichtend, sie hat in den letzten zehn Jahren rund 350 Mrd. $ verschlungen. Ich werde Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten: Wenn der Ölpreis steigt und die USA wieder Öl fördern könnten, würde das Hunderte von Milliarden Dollar an Investitionen erfordern. Wer sollte dieses Kapital bereitstellen, mit einer neuen demokratischen Regierung, die dem Fracking gegenüber ambivalent eingestellt ist? Ich wüsste nicht, wer.

Wo wird sich der Ölpreis einpendeln, wenn sich die Weltwirtschaft nach der Pandemie normalisiert?

Vor Covid hatte der Ölmarkt ein Gleichgewicht zwischen 60 und 80 $ pro Barrel gefunden.

Ist das der Bereich, in den wir zurückkehren werden?

Ich denke schon, und zwar aus einem einfachen Grund: Oberhalb von 80 $ stoppt China seine Ölkäufe und zehrt von seinen Reserven. Das ist ein grosser Unterschied zur Zeit vor zehn, zwölf Jahren, als China keine nennenswerten Lagerbestände hatte und Öl zwangsweise kaufen musste. Man konnte das schön während der Covid-Krise beobachten: Im zweiten Quartal, als der Ölpreis kollabierte, importierte China etwa 13 Mio. Barrel pro Tag, 40% mehr als sonst üblich. Offensichtlich haben die Chinesen die tiefen Preise genutzt, um Lagerbestände aufzubauen. China ist nun als Grenzkäufer ein wichtiger Treiber für den Ölpreis: Oberhalb von 80 $ stehen sie abseits, und unterhalb von 60 $ kaufen sie in grossem Umfang. Im Bereich von 60 bis 80 $ verdienen viele Ölkonzerne übrigens gutes Geld. Saudi Aramco macht bei diesem Preisniveau sogar ein Heidengeld.

Sie sehen den Dollar in einem Bärenmarkt. Derweil hat der Renminbi deutlich an Wert gewonnen. Ist das auch eine strukturelle Verschiebung?

Ich denke schon. In der Vergangenheit hat die People's Bank of China in Krisenzeiten jedes Mal den Wechselkurs eingefroren. Während und nach der Finanzkrise stagnierte der Renminbi gegenüber dem Dollar zwei Jahre lang. Im Jahr 2015, als die chinesische Aktienblase platzte, das gleiche Bild: Die PBoC fror den Wechselkurs für mehrere Monate ein. Nicht so im Krisenjahr 2020. Wir haben soeben die kräftigste sechsmonatige Renminbi-Rally aller Zeiten erlebt. Das ist eine klare Änderung der Politik.

Was steckt dahinter?

Ich weiss es nicht, aber die Tatsache ist klar. China ist heute die einzige grosse Volkswirtschaft, die hohe positive Realzinsen bietet. Daher fliesst Kapital in den chinesischen Bondmarkt. Die People's Bank of China ist die einzige namhafte Zentralbank, die öffentlich verspricht, dass sie nicht zur Euthanasie der Sparer übergehen wird. Die Konsequenzen daraus sind von enormer Bedeutung. Ein starker Renminbi ist eine fundamental inflationäre Kraft für die Weltwirtschaft.

Wie das?

Unternehmen auf der ganzen Welt müssen mit chinesischen Produzenten konkurrieren. Daher treibt ein schwacher Renminbi die Preise nach unten, während ein starker Renminbi die Preise nach oben treibt. Man kann es mit der Rolle des Yen vor vierzig Jahren vergleichen. Eine Aufwertung des Renminbi bedeutet einen stärkeren Konsum in China und Asien, und das bedeutet, dass alles, was wir aus China kaufen, im Preis steigt. Es ist nicht überraschend, dass mit der Aufwertung des Renminbi die US-Zinskurve steiler wird und der Ölpreis steigt: All das ist Teil des reflationären Hintergrunds.

Sehen Sie eine Rückkehr struktureller Inflation in den westlichen Volkswirtschaften?

Ja, die Inflation wird mit voller Wucht zurückkehren. Eine der wichtigsten deflationären Kräfte der letzten drei Jahrzehnte war China und der weltweite Trend, Produktion auszulagern. Aber jetzt befinden wir uns in einer neuen Welt – einer Welt, die ich in meinem letzten Buch, «Clash of Empires», skizziert habe, in der die Lieferketten innerhalb einzelner Imperien aufgeteilt werden. Nur ein Beispiel dazu: In den letzten zwei Jahren haben die USA alles getan, um Huawei zu vernichten. Sie haben dies geschafft, indem sie die Lieferketten für Halbleiter an Huawei kappten. Bis vor kurzem waren der Preis und die Qualität die wichtigste Überlegung in jeder Lieferkette. In der neuen Welt wird die Sicherheit der Lieferung am wichtigsten, auch wenn die Kosten höher sind. Das ist ein dramatischer Paradigmenwechsel.

Und dieser Paradigmenwechsel wird ein wesentlicher Treiber für die Inflation sein?

Ja. Die Produktivität wird von allen Seiten angegriffen, von der Regulierung und jetzt auch von Sicherheitsüberlegungen. Diese Entwicklung wäre nur dann nicht inflationär, wenn auf der anderen Seite die Zentralbanken zurückhaltend agierten. Aber wir wissen natürlich, dass die Zentralbanken heute Geld drucken wie nie zuvor.

«Kaufen Sie Value-Aktien, den Rohstoffsektor und Schwellenländer»: Gave.

«Kaufen Sie Value-Aktien, den Rohstoffsektor und Schwellenländer»: Gave.

Was wird das für Anleger bedeuten?

Erstens wird es in Zukunft zwei Arten von Ländern geben: Solche, die den Covid-Schock massiv monetarisiert haben, und solche, die das nicht getan haben. Ich vergleiche diese Situation mit den späten Siebzigerjahren, als die USA, Grossbritannien und Frankreich den Ölpreisschock monetarisierten, während Japan, Deutschland und die Schweiz dies nicht taten. Das führte zu einer enormen Aufwertung des Yen, der D-Mark und des Frankens. Heute gehören das Fed und die EZB zu den Zentralbanken, die massiv monetarisiert haben, während viele Zentralbanken in Asien vernünftig blieben. Daher erwarte ich in den kommenden fünf Jahren eine signifikante Aufwertung der asiatischen Währungen, was an sich schon inflationär für die Welt ist.

Wo werden sich die Inflationsraten einpendeln?

Ich weiss es nicht. Zentralbanker glauben, sie könnten die Inflation punktgenau auf 2,5% steuern und dort halten. Nehmen wir einfach mal an, dass sie die perfekten Ingenieure sind, für die sie sich halten, und es ihnen gelingt, die Inflation über die nächsten fünf Jahre stabil auf 2,5% zu halten – woran ich natürlich nicht glaube: Warum um alles in der Welt sollten Sie Treasuries zu 0,9% oder Bundesanleihen mit Negativrenditen besitzen wollen? Man muss nicht einmal an ein Szenario glauben, in dem sich die Inflation auf 4% beschleunigt, um zu sehen, dass Anleihen heute zu irrwitzigen Preisen handeln. Mit Staatsanleihen werden Sie garantiert Geld verlieren.

Was sollen Anleger kaufen?

In der alten Welt, als die Zinsen fielen und der Dollar erstarkte, kaufte man Treasuries und US-Wachstumsaktien und ging an den Strand. Jetzt hat sich die Welt verändert. Das bedeutet, Sie müssen sich von Anleihen und US-Wachstumsaktien fernhalten. In der neuen Welt müssen Sie Aktien und Anleihen aus Schwellenländern kaufen, und innerhalb der Schwellenländer bevorzuge ich Asien. In einer Welt, in der entweder die Zinskurve steiler wird oder der Dollar kollabiert, werden entweder Finanzwerte oder der Rohstoffsektor gut abschneiden. Ich setze auf Rohstoffe, einschliesslich Energie, aber wie erwähnt würde ich Finanzwerte als Absicherung gegen eine steilere Zinskurve kaufen. Also: Kaufen Sie Value-Aktien, den Rohstoffsektor und Schwellenländer. Und für den antifragilen Teil des Portfolios setze ich auf Renminbi-Bonds und Gold.

Wie sieht es mit Japan aus?

Oh ja, Japan befindet sich in einem heimlichen Bullenmarkt, und niemand spricht darüber. Wir erhalten nie Fragen von Kunden zu Japan. Ich bin ein grosser Fan von Japan. In einer reflationären Welt schneidet Japan gut ab. Und im Kalten Krieg zwischen den USA und China sind japanische Industrieunternehmen gut positioniert.

Ist es nicht zu früh, die grossen US-Techkonzerne abzuschreiben?

Wachstumsaktien hatten in den letzten zehn Jahren ihren Lauf, mit fallenden Bondrenditen und dem steigenden Dollar. In einer reflationären Welt werden sie unterdurchschnittlich abschneiden. Zudem ist die Tech-Branche das Schlachtfeld im Krieg zwischen den USA und China. Ich sehe, dass sich die Tech-Welt in drei Zonen aufteilt; eine dominiert von Amerika und jeweils eine dominiert von China sowie Indien, das sich zu einer eigenen Zone entwickelt. Sie können die Champions in jeder Zone besitzen, zum Beispiel Amazon und Google im Westen oder Tencent in China. Gefährdet sind aber Unternehmen, die sich zwischen den Welten bewegen. Huawei hat es versucht und wurde vernichtet. Auch Apple ist in Gefahr. Ich weiss, ich habe Ihnen das schon vor einem Jahr gesagt, und ich lag damit falsch, aber ich denke immer noch, dass Apple gefährdet ist, da es sich zwischen der amerikanischen und der chinesischen Tech-Zone bewegt.

In der Mitte dieses Tech-Konfliktes sitzt Taiwan. Was denken Sie über Taiwan und die Halbleiterindustrie?

Taiwan ist heute das, was das Elsass vor 120 Jahren war. 2020 gab es zwei wichtige Ereignisse, die die meisten Leute wegen der Covid-Krise verpasst haben. Erstens: Der Marktwert der globalen Chipindustrie hat den Marktwert des globalen Energiesektors überholt. Der Markt sagt uns, dass Halbleiter wichtiger sind als Energie; Halbleiter sind der Rohstoff der Zukunft.

Und das zweite Ereignis?

Ende 2019 betrug der Marktwert von Taiwan Semiconductor 200 Mrd. $, während sich der Marktwert von Intel 350 Mrd. $ auf belief. Heute liegt TSMC bei 450 Mrd. $, während Intel auf 200 Mrd. $ gefallen ist. Warum? Diesen Sommer kündigte TSMC an, dass sie jetzt 7-Nanometer-Chips produzieren können und 2023 in der Lage sein werden, 3-Nm-Chips herzustellen. Kurze Zeit später musste Intel eingestehen, dass sie noch nicht in der Lage sind, 7-Nm-Chips herzustellen. Wir wurden Zeugen der Übergabe der Halbleiter-Technologieführerschaft von den USA an Taiwan. Das wird rückblickend das wichtigste Ereignis des Jahres 2020 sein, noch wichtiger als Covid.

Warum ist das wichtig?

Weil Washington beschlossen hat, den Halbleitersektor zum Schlachtfeld im Kampf gegen China zu machen. Es bedeutet, dass Taiwan das Schlachtfeld im grossen Konflikt des 21. Jahrhunderts ist, eine Insel, die Peking als abtrünnige Provinz betrachtet. Taiwan war immer ein wunder Punkt zwischen China und den USA, selbst als Taiwan Plastikspielzeug und Fahrräder produzierte. Stellen Sie sich vor, Saudi-Arabien wäre ein politischer Unsicherheitsfaktor zwischen Amerika und China, dessen Regime zum Überleben von Washington abhängt, aber das Territorium von China beansprucht wird. Wir wären sehr beunruhigt. Taiwan ist das neue Saudi-Arabien.

Louis-Vincent Gave

Louis-Vincent Gave ist Gründungspartner und CEO von Gavekal Research, die er gemeinsam mit Charles Gave und Anatole Kaletsky 1999 in London ins Leben gerufen hatte. Im Jahr 2002 verliess er das Londoner Büro und kehrte nach Hongkong zurück, wo er zuvor als Finanzanalyst für Paribas gearbeitet hatte. Louis hat einen Bachelor-Abschluss von der Duke University, und an der Nanjing University hat er Mandarin studiert. Zudem war er Oberleutnant in einem Gebirgsjägerbataillon der französischen Armee.
Louis-Vincent Gave ist Gründungspartner und CEO von Gavekal Research, die er gemeinsam mit Charles Gave und Anatole Kaletsky 1999 in London ins Leben gerufen hatte. Im Jahr 2002 verliess er das Londoner Büro und kehrte nach Hongkong zurück, wo er zuvor als Finanzanalyst für Paribas gearbeitet hatte. Louis hat einen Bachelor-Abschluss von der Duke University, und an der Nanjing University hat er Mandarin studiert. Zudem war er Oberleutnant in einem Gebirgsjägerbataillon der französischen Armee.