Die Meinung

Anatomie eines Prognosefehlers

Vor zehn Jahren warnte ich vor einem drohenden Inflationsschub. Die Prognose lag vollkommen daneben, doch diese Erfahrung schärfte mein Verständnis für die häufigsten Fehler, die uns beim Versuch unterlaufen, ökonomische Entwicklungen vorherzusagen.

Dylan Grice
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Vor zehn Jahren, in meiner früheren Existenz als Stratege in den Diensten von Société Générale, trat ich selbstbewusst mit einer Prognose auf. Es war kurz nach der Finanzkrise von 2008, und die Zentralbanken hatten mit ihrer damals unkonventionellen Politik der quantitativen Lockerung begonnen. Ich war überzeugt, dass sich Investoren auf steigende Inflation einstellen sollten.

Dylan Grice

Dylan Grice ist Mitgründer von Calderwood Capital Research, einer auf Portfoliokonstruktion und alternative Anlagen spezialisierte Investmentgesellschaft. Zuvor war Grice Head of Liquid Investments bei Calibrium, einem renommierten Family Office mit Sitz in Zürich. Dort war er für das Management des liquiden Portfolios, die diesem Portfolio zugrunde liegende Analyse und die daran beteiligten Teams verantwortlich. Bevor er 2014 zu Calibrium kam, war Grice Teil des Global Strategy Teams von Société Générale und belegte 2011 und 2012 in der Extel Survey of Institutional Investors Opinion als Einzelperson den ersten Platz. Grice begann seine Karriere als Ökonom bei Dresdner Kleinwort Wasserstein. Er ist Absolvent der Strathclyde University und der London School of Economics.
Dylan Grice ist Mitgründer von Calderwood Capital Research, einer auf Portfoliokonstruktion und alternative Anlagen spezialisierte Investmentgesellschaft. Zuvor war Grice Head of Liquid Investments bei Calibrium, einem renommierten Family Office mit Sitz in Zürich. Dort war er für das Management des liquiden Portfolios, die diesem Portfolio zugrunde liegende Analyse und die daran beteiligten Teams verantwortlich. Bevor er 2014 zu Calibrium kam, war Grice Teil des Global Strategy Teams von Société Générale und belegte 2011 und 2012 in der Extel Survey of Institutional Investors Opinion als Einzelperson den ersten Platz. Grice begann seine Karriere als Ökonom bei Dresdner Kleinwort Wasserstein. Er ist Absolvent der Strathclyde University und der London School of Economics.

«Innerhalb von zehn Jahren», so prophezeite ich in Kundengesprächen, Konferenzen und in meinen gedruckten Studien, «werden wir die ersten Anzeichen eines aufkommenden Inflationsproblems sehen.» Ich definierte das damals mit einer Konsumpreis-Inflationsrate von mehr als 4%.

Es war nicht meine beste Prognose.

Heute, zehn Jahre später, mache ich mir weiterhin Sorgen um die Inflation: Wie könnte sie zurückkehren, was könnte sie für Schaden in meinem Portfolio anrichten und welche Schutzmassnahmen sollte ich ergreifen?

Wenn man sich mit einer Prognose derart sicher fühlte und dann derart daneben lag, hinterfragt man seine Fähigkeit, es in Zukunft besser zu machen. Also habe ich versucht, meine Schritte zurückzuverfolgen, um zu verstehen, was schief gelaufen ist.

Es war eine fruchtbare Übung, denn sie schärfte mein Verständnis für die häufigsten Fehler, die einem beim Versuch unterlaufen, makroökonomische Entwicklungen zu prognostizieren.

Was macht eine gute Prognose aus?

Das ist keine so offensichtliche Frage, wie es klingt. Zunächst einmal sagt ein Prognosefehler in einer probabilistischen Welt nicht viel über das Denken aus, das in die Prognose eingeflossen ist – auch wenn es die Qualität des Denkens ist, die im Lauf der Zeit zählt.

Ein noch grösseres Problem ist oft der geringe Umfang der Stichprobe. Wie bekommen wir genügend Daten, um zu wissen, ob unser Denkprozess gut fundiert ist? Im Gegensatz zu Hochfrequenz-Handelssystemen, die Hunderttausende von Trades pro Stunde machen und so viele Beweise sammeln können, um ihre Hypothesen zu testen, dauerte meine «langfristige» Prognose zehn Jahre, um nur einen Datenpunkt zu erhalten.

Glücklicherweise sind Daten nicht alles. Hayek erreichte sein bahnbrechendes Verständnis, dass das Wirtschaftssystem ein «komplexes adaptives System» ist, das Informationen verarbeitet und eine spontane, ungerichtete Ordnung hat, lange bevor die Komplexitätstheorie und die moderne Computersimulation eine solche Sprache etabliert hatten. Hayek tat dies nur mit a priori Argumenten. Auch Einsteins Relativitätstheorie entstand nicht durch empirische Tests, sondern durch die «Durchführung» eines Gedankenexperiments.

Ich setze die Messlatte für mich selbst freilich nicht ganz so hoch, aber die beiden Beispiele veranschaulichen einen wichtigen Punkt, nämlich dass richtiges Denken einen weit bringen kann. Wie weit das geht, hängt natürlich vom Themengebiet, mit dem Sie sich befassen, und von Ihrer Intelligenz ab. Und da unser Themengebiet die Finanzmärkte sind und unsere Intelligenz bestenfalls durchschnittlich ist, denke ich, dass die Einsicht von Charles Ellis' Klassiker Winning the Loser's Game relevant sein könnte.

Lernen von Charles Ellis

Falls Sie die Arbeit von Ellis nicht kennen: Er wurde mit der These berühmt, dass es zwei Arten des Tennisspiels gibt – ein «Gewinnerspiel», das von Elitesportlern praktiziert wird, und ein «Verliererspiel», das von allen anderen gespielt wird. Elitesportler gewinnen, wenn sie routinemässig schwierige und manchmal fast unmögliche Schläge ausführen, indem sie also mehr Punkte machen als der Gegner. Amateursportler verlieren, indem sie mehr Fehler machen als der Gegner. Sie schlagen den Ball ins Netz oder über den Platz, als wäre ihr Gegner das Tennisspiel selbst und nicht der Mann auf der anderen Seite des Netzes.

Charles Ellis argumentierte, dass sich die meisten Tennisspieler dadurch verbessern könnten, wenn sie üben, den Ball sicher über das Netz in die andere Platzhälfte zu schlagen. Wenn man das Verliererspiel spielt, geht der Erfolg an diejenigen, die systematische Fehler beseitigen.

Wenn es um das Denken geht, waren Hayek und Einstein offensichtlich Spieler des intellektuellen «Siegerspiels», das mit Leichtigkeit spektakuläre Gewinne erzielte. Ich schäme mich jedoch nicht, zuzugeben, dass ich als intellektueller Amateur ein Verliererspiel spiele. Es ist daher sehr wertvoll, dumme Fehler nicht zu wiederholen.

Bevor ich zur Selbstgeisselung komme, sollte ich zu meiner Verteidigung sagen, dass ich vor zehn Jahren immerhin etwas richtig gemacht habe: Ich habe zumindest eine Prognose gemacht, die präzise genug war, um falsifizierbar zu sein. Ich hatte eine definierte Variable (Kern-Inflationsrate), einen vorhergesagten Wert (>4%) und einen Prognosezeitraum (10 Jahre).

Das ist schon ein Erfolg angesichts der schwammigen Vorhersagen, die im Investmentgeschäft typischerweise abgegeben werden. Was nützt beispielsweise die typische Ansage eines Bankstrategen, wenn er sagt, das kommende Jahr werde für die «Aktienmärkte anspruchsvoll, mit wahrscheinlich erhöhter Volatilität»? Mit einer derartigen Prognose kann ein Anleger nichts anfangen.

Meine These: Die Staaten sind pleite

Also, kommen wir nun zur Selbstkritik. Meine Vorhersage basierte auf der folgenden These: Die Staaten sind pleite. Wie der Ökonom Jagadeesh Gokhale in einer Reihe von Studien zeigte (die später die Grundlage für das Buch The Government Debt Iceberg bildeten), beträgt die Verschuldung der meisten Staaten ein Vielfaches der offiziell ausgewiesenen Werte, wenn die ungedeckten Kosten der Wohlfahrtsversprechen berücksichtigt werden.

Wir wissen aus der Historie – und dank der Arbeit von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff –, dass Regierungen in der Regel nicht in der Lage sind, Sozialversprechen zu kürzen und deshalb den politisch einfacheren Weg der Schuldenmonetisierung gehen. Es ist einfacher, Geld zu drucken, als Sozialversprechen nicht einzuhalten. Deshalb korrelierte in der Vergangenheit die Häufigkeit von Staatsschuldenkrisen eng mit der von Inflationskrisen.

Als die Zentralbanken ab Ende 2008 mit der Politik des Quantitative Easing (QE) begannen, sah ich eine Wiederholung dieses historischen Musters. Zunächst, so dachte ich, hilft diese neu geschaffene Liquidität den Finanzmärkten, doch nach einer gewissen Zeit müsste sie zwangsläufig zu höheren Inflationsraten führen. Denn, auch das zeigt die Historie, die Notenbanken sind nicht gut darin, eine expansive Politik zurückzufahren, wenn dies Schmerzen in der Wirtschaft verursacht.

Das Narrativ meiner These erschien zwingend und logisch. Doch sie ging nicht auf. Bei näherer Betrachtung komme ich zum Schluss, dass ich vier Hauptfehler gemacht habe.

Fehler Nr. 1: Der Ad hominem-Angriff

Ein Ad hominem-Angriff ist, wenn Sie die Person angreifen, die das Argument vorbringt, und nicht das Argument selbst. Das ist, ich gestehe es, ein sehr peinlicher Fehler, und ich schäme mich dafür.

Auf welche Weise bin ich in diese Falle geraten? Nun, hier ist ein Zitat aus einem Stück, das ich im Januar 2010 für Société Générale geschrieben habe:

«Mein Kollege James Montier ist der Meinung, dass Ben Bernanke der schlechteste Ökonom aller Zeiten ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich James in dieser Sache zustimme, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob nun Bernanke oder doch eher Paul Krugman der schlechteste Ökonom aller Zeiten ist. Normalerweise denke ich, dass fast alle Ökonomen die gemeinsam schlechtesten Ökonomen aller Zeiten sind. Ich habe viel Sympathie für die Idee, dass, wenn die makroökonomische Konsensmeinung sich um etwas sorgt, es wahrscheinlich nicht der Mühe wert ist, sich darum zu kümmern. Wenn sich alle Ökonomen vor Deflation fürchten, mache ich mir lieber Sorgen um die Inflation.»

Wer mich kennt, weiss, dass ich nicht sehr auf Ökonomen stehe – obwohl ich selber einer bin. Aber diese Art von Vorurteilen in meinem Denken zuzulassen, war nicht klug, selbst wenn ich glaube, dass Leute wie Paul Krugman und Ben Bernanke intellektuelle Heuchler sind. Eine Seite eines Streits einzunehmen, nur weil einige Ökonomen auf der anderen Seite standen, war ziemlich dumm.

Fehler Nr. 2: Ablehnung der Prämisse

Angenommen, Sie haben ein Argument A, das zu Schlussfolgerung B führt («wenn A dann B»). Es ist ein Fehler, die Schlussfolgerung zu leugnen, weil die Prämisse nicht wahr ist («nicht A und daher nicht B»).

Ich weiss, das klingt etwas wirr. Betrachten Sie diese Aussage: «Peter ist ein Mann. Männer mögen Autos.» Und nun lassen Sie uns die Hypothese «Anna mag Autos» bewerten. Da Anna kein Mann ist, wissen wir, dass die Prämisse falsch ist. Doch es wäre absurd, deshalb zur Konklusion zu kommen, dass Anna keine Autos mag, da sie kein Mann ist.

Offensichtlich ist das ein vereinfachtes Beispiel, aber diese Denkfalle taucht in der realen Welt oft auf ganz subtile Weise auf, selbst während sehr rationalen Diskussionen.

Ein Gegenargument zu meiner Inflationsthese, das ich früher sehr oft hörte, lautete so: «Das Problem heute ist, dass die Zentralbanken keine Inflation erzeugen können, obwohl sie es wollen. Daher ist es auch unwahrscheinlich, dass sich Inflation einstellt.»

Dieses Argument kann als fehlerhaft angesehen werden, wenn man bedenkt, was passieren würde, wenn das Fed ein Bankkonto für jeden US-Bürger eröffnen und eine Billion Dollar einzahlen würde. Was denken Sie, was dann mit der Inflationsrate geschähe? Antwort: Sie würde explodieren. Die Zentralbanken können jederzeit Inflation erzeugen, wenn sie es wirklich wollen.

Ich denke, es ist klar, dass die Prämisse – «Zentralbanken können keine Inflation erzeugen» – falsch ist. Ich bin in die Falle geraten, zu sagen, dass, da die Prämisse nicht wahr war, auch die Schlussfolgerung («Inflation ist unwahrscheinlich») falsch sein musste. Das ist ein Fehler, den ich sehr häufig gemacht habe.

Fehler Nr. 3: Der monokausale Irrtum

In diese Falle tappt man, wenn man sagt «A verursacht B, daher wird B nur von A verursacht». Ich hatte mich so sehr auf die Politik des Gelddruckens der Zentralbanken und auf die Zahlungsfähigkeit der Staaten konzentriert, dass ich die vielen anderen möglichen Erklärungen ignorierte, die die Inflation beeinflussen könnten. Einstein hatte Recht, als er sagte, Phantasie sei wichtiger als Wissen.

Im Extremfall, wie mein Billionen-Dollar-Denkversuch zeigte, wird das Drucken von Geld die Inflation antreiben. Aber die meisten Situationen sind nicht extrem, und daher müssen auch andere Kräfte berücksichtigt werden. Die Globalisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, die Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaft oder die Alterung der Gesellschaft waren alles glaubwürdige Treiber der in den vergangenen Jahrzehnten erlebten Disinflation. Ich ignorierte sie alle.

Fehler Nr. 4: das Zahnbürstenproblem

Menschen haben eine Vorliebe für ihre eigenen Ideen. Wissenschaftler haben einen Namen für diesen Denkfehler – sie sprechen vom Zahnbürstenproblem, weil Theorien wie Zahnbürsten sind: Jeder bevorzugt seine eigenen.

Ich habe mich, um es simpel zu sagen, in meine Hypothese, in mein Narrativ der kommenden Inflation verliebt. Ich genoss es, mein Narrativ zu präsentieren, zu argumentieren und mehr Argumente zu finden, um zu bestätigen, dass dies allein das Wichtigste war, was jeder verstehen musste.

Ich trieb in eine Komfortzone, wo die vertraute Wärme meiner eigenen Erzählung einfacher war als die unangenehme Verletzlichkeit, die man akzeptieren muss, wenn man mit der Realität ringt. All diese Fehler – der Ad hominem-Angriff, das Verleugnen von Prämissen und die vereinfachte monokausale Erklärung eines komplexen Sachverhalts – wurden zu meinen Navigationshilfen, mit denen ich mir einredete, dass ich richtig lag.

Simpel, aber nicht einfach

Wenn wir ehrlich sind, erkennen wir, dass wir diese Fehler immer wieder begehen. Ich sehe Leute an den Finanzmärkten, die eine These verteidigen, weil sie es zugelassen haben, dass ihre Persönlichkeit unverrückbar mit dieser These verbunden wird: Ich sehe die Gold-Enthusiasten, die das gleiche Zeug sagen, das Gold-Enthusiasten seit den frühen Achtzigerjahren sagen, ohne sich zu überlegen, welches Ereignis sie veranlassen würde, ihre Meinung zu ändern. Ich sehe Value-Investoren, die das gleiche Mantra über die gegenwärtige Irrationalität der Märkte wiederholen, ohne sich zu hinterfragen, weshalb sie in den vergangenen Jahren einen grossen Teil der Gewinne an den Aktienmärkten verpasst haben. Ich sehe Makro-Manager, die sich beschweren, dass das Fed die Volatilität so sehr komprimiert hat, dass sie kein Geld mehr verdienen können.

Wir tun es alle. Das Mittel gegen diese Denkfallen sollte offensichtlich sein: verlangsamen; so viele Argumente wie möglich objektiv bewerten; sie entpersonalisieren; vorsichtig sein, was man mit einer abgelehnten Prämisse macht.

Es klingt alles so simpel, aber es ist nicht einfach. Es erinnert an die Tiefe von Richard Feynmans Erkenntnis: «Das erste Prinzip der Wissenschaft ist es, sich selbst nicht zu täuschen. Das zweite Prinzip ist, dass du die am einfachsten zu täuschende Person bist.»