Die Russen waren eine wichtige Quelle für Bitcoin-Verkäufe. Ihr Rückzug aus Kryptowährungen wurde unterschätzt. Weitere Fehlannahmen wie die Unkorreliertheit und die dezentrale Natur von Bitcoin haben die Anleger ebenfalls Geld gekostet.
In den letzten sechs Monaten hat Bitcoin 50% seines Wertes verloren. In letzter Zeit haben viele Kommentatoren seinen Fall mit dem Absturz des Terra-Stablecoins in Verbindung gebracht, zusätzlich zu Inflation und Kriegsunsicherheit. All dies sind Faktoren, die sich gegenseitig verstärken. Aber einige Faktoren wiegen schwerer als andere.
Ein Faktor, der unterschätzt wird, ist die Abhängigkeit des Bitcoins von der Liquidität. Wenn wir Grafiken der Bilanz der US-Notenbank Fed, der amerikanischen Leitzinsen und des Bitcoin-Preises übereinanderlegen, sehen wir deutlich, dass die eindrücklichen Bewegungen von Bitcoin stattfanden, als die Fed-Bilanz in die Höhe schoss und die Zinsen auf 0% sanken.
Mit anderen Worten: Das Geld, das in Bitcoin und andere Kryptowährungen fliesst, ist zu einem grossen Teil billiges geliehenes Geld. Mit den jüngsten Zinserhöhungen und der Drosselung der Ankäufe von Vermögenswerten durch die US-Notenbank sehen wir, dass der Bitcoin-Kurs auf sein Niveau von vor der Pandemie zurückfällt. Es gibt kaum etwas, das aussagekräftiger ist als diese Grafik.
Eine weitere wichtige Erklärung ist, dass viel russisches Geld aus Angst vor Sanktionen aus Bitcoin geflossen ist. Russen und Weissrussen haben sich seit März in grosser Eile aus Bitcoin zurückgezogen und Milliarden von Dollar der virtuellen Währung liquidiert, um sie an Orten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) in Bargeld oder Immobilien umzuwandeln, da sie auf der Suche nach sicheren Häfen für ihr Geld waren. Einem Bericht von Reuters vom 11. März zufolge «hat eine Krypto-Firma [in den VAE] viele Anfragen von Schweizer Brokern erhalten, die darum bitten, Milliarden von Dollar an Bitcoin zu liquidieren, weil ihre russischen Kunden befürchten, dass die Schweiz ihr Vermögen einfrieren wird».
Wir reden hier nicht von ein paar Millionen Dollar. Die Anfragen beliefen sich auf 2 Mrd. $ oder mehr, und einem Bericht von Reuters zufolge beantragte ein einziger russischer Kunde sogar die Liquidierung von Bitcoin im Gegenwert von 6 Mrd. $. Das sind gigantische Summen, die den Markt bewegen. Seit dem 29. März ist der Bitcoin-Preis um 37% gefallen. Bis dahin war er im Jahresverlauf unverändert geblieben.
Uns wurde immer wieder gesagt, dass in Krisensituationen Geld in den Bitcoin fliehen werde. Die anfängliche Vorhersage war, dass das Einfrieren russischer Vermögenswerte eine Bewegung in Bitcoin auslöse, während die Ukrainer ebenfalls in Kryptowährungen fliehen würden. Das Argument beruhte auf der Überzeugung, dass Kryptowährungen die sicherere Option seien. Doch die Erwartung stellte sich als falsch heraus. Die Ukrainer haben zwar in bescheidenem Umfang Geld in Kryptowährungen gesteckt, aber bei den Russen war das Gegenteil der Fall. Es wurde schnell klar, dass Kryptowährungen keine Möglichkeit zur Umgehung von Sanktionen darstellten.
In der Schweiz erklärte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im März, dass Krypto-Vermögenswerte denselben Sanktionen unterliegen, die die Schweiz gegen russische Bankguthaben verhängt hat, so dass Krypto-Vermögenswerte auch hierzulande eingefroren werden würden. Weltweit folgten die grossen Börsen Coinbase und Binance den Massnahmen und verpflichteten sich, sicherzustellen, dass ihre Plattformen nicht zur Umgehung von Sanktionen genutzt werden.
Die Russen sind seit einigen Jahren sehr grosse Investoren in Bitcoin, aber das war zu Spekulationszwecken. Als die Lage brenzlig wurde, suchten sie Sicherheit in Bargeld und Immobilien in neutralen Ländern. Bitcoin und andere Kryptowährungen dienten als Transitwährung, um den Rubel zu verlassen und auf diskrete Weise in andere Vermögenswerte zu investieren. Das ist eine Lektion, die durch diese Krise wieder einmal bestätigt wurde: Bitcoin wird nicht als sicherer Hafen wahrgenommen. Er diente der Spekulation und wurde als Durchgangsvehikel zu sicheren Häfen genutzt.
Es gab eine Reihe weiterer Fehleinschätzungen, was die Bewertung von Bitcoin angeht. Der Bitcoin wird immer noch zu oft als unkorreliert zu Aktien betrachtet, obwohl er durch dieselbe Quelle der günstigen Liquidität aufgebläht wird; er wird als dezentralisiert betrachtet, obwohl er sehr stark von den Regeln der Kryptobörsen abhängig ist. Mitte Mai warnte Coinbase seine Nutzer, dass sie ihre Krypto-Bestände verlieren könnten, sollte das Unternehmen in Konkurs gehen.
Die optimistische Sichtweise hat auch das Tempo der Massenakzeptanz überschätzt. Nachdem Bitcoin am 12. November 2021 den Stand von 64’400 $ erreicht hatte, mehrten sich die Prognosen, dass er schon bald die 100’000-$-Marke erreichen würde. Auf einen Bericht des Datenanbieters Bloomberg im Dezember folgte eine Goldman-Sachs-Prognose im Januar. Die Annahmen gaben dem Wachstum des Nutzermarktes mehr Gewicht als den Auswüchsen des spekulativen Handels. Das Krypto-Universum zählt nun mehr als 10’000 verschiedene Kryptowährungen, von denen einige eine Marktkapitalisierung von nicht mehr als 138 $ aufweisen. Vielleicht bringt diese Säuberung eine willkommene Selektivität zurück.