Über die Welt fegt eine massive Inflationswelle, das Risiko einer Rezession steigt. Die gigantischen Experimente mit ultraniedrigen Zinsen und massiven Stimulusprogrammen sind fehlgeschlagen. Jetzt übernehmen die Kräfte des Marktes die Kontrolle – und das ist gut so.
«Ich habe viele Jahre damit zugebracht, Inflation zu studieren und mir Sorgen über Inflation zu machen. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir über die erforderlichen Instrumente verfügen, um mit diesem Risiko umgehen zu können, wenn es tatsächlich akut wird.»
US-Finanzministerin Janet Yellen, 5. Februar 2021
«Ich denke, dass sich die Inflationserwartungen mittelfristig ziemlich gut in Grenzen halten.»
US-Finanzministerin Janet Yellen, 15. Juli 2021
«Ich habe mich geirrt, was die Entwicklung der Inflation angeht. Es kam zu unvorhergesehenen und grossen Schocks für die Wirtschaft, welche die Energie- und Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben haben. Zudem kam es zu Versorgungsengpässen, die unsere Wirtschaft stark beeinträchtigt haben, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht umfassend verstanden hatte.»
US-Finanzministerin Janet Yellen, 31. Mai 2022
Anfang April haben wir Angehörige unserer Familie an der amerikanischen Atlantikküste in Maryland besucht. Als wir uns dabei über die aktuelle Konjunkturlage unterhielten, drehte sich das Gespräch um hohe Benzinpreise, steigende Lebensmittelkosten und unterbrochene Lieferketten.
Mein älterer Cousin, der seit Jahrzehnten einen Charterdienst für Angelausflüge anbietet und als Bootskapitän die Chesapeake Bay wie seine Westentasche kennt, fertigt in der Nebensaison massgeschneiderte Angelruten. Die Einzelteile kommen grösstenteils aus Asien. Normalerweise dauert es bloss zwei oder drei Tage, um Bestellungen aus dem Bundesstaat Washington von der Westküste zu ihm nach Maryland zu liefern. Doch nun geht es Wochen. In seinem Geschäft lag folglich ein beträchtlicher Bestand an unfertigen Angelruten herum, weil ein einziges Teil fehlte. Der Beginn der Angelsaison ist nur noch einen Monat entfernt. «Wir sind am Rand eines Desasters», sagte er mir.
Vor wenigen Wochen brach dann an den Börsen die Hölle los: Walmart gab den Abschluss für das erste Quartal bekannt, wobei die Zahlen einen guten Eindruck zur Situation der einkommensschwachen Verbraucher vermitteln – und der Anblick ist nicht schön. Der Wettbewerber Target, der eine zahlungskräftigere Kundschaft als Walmart bedient und ein breiteres Sortiment an Konsumartikeln führt, blieb einen Tag danach mit dem Leistungsausweis weit hinter den Erwartungen zurück.
Wie Jack Hough, Redaktor beim Anlagermagazin «Barron’s», dazu festhielt, «kam es in der kurzen Zeit zwischen den Quartalsberichten von Walmart und Target zu einem starken Stimmungsumschwung an der Börse. Der Abschluss von Walmart wurde zunächst als individuelles Problem interpretiert, die Zahlen von Target deuteten dann jedoch auf ein Problem hin, das die gesamte Branche betrifft». Walmart und Target erlebten den schlimmsten Kurseinbruch innerhalb von zwei Tagen seit dem Crash von 1987, als die Aktien der beiden Unternehmen in der betreffenden Woche um 19 bzw. 29 % einbrachen.
Derzeit scheint es so, dass alle über Inflation besorgt sind, nicht nur die Konsumenten. Inflation steht ganz oben auf der Sorgenliste von CEOs, Ökonomen, Wallstreet-Strategen, Redakteuren von Wirtschaftsmagazinen, der globalen Elite, Wählern und sogar von Politikern und Zentralbankern. In der monatlichen Umfrage des KMU-Verbands NFIB (National Federation of Independent Business) unter Kleinunternehmen nannten 32% Inflation als grösstes Einzelproblem, mit deutlichem Abstand vor der Verfügbarkeit gut ausgebildeter Arbeitskräfte mit 23%. (Der historische Rekordwert von 41% wurde wahrscheinlich bei einer Umfrage in den Siebzigerjahren erreicht.)
Angesichts dieses Konsenses frage ich mich, ob es allmählich zu viele Leute auf der Seite des Boots hat, auf der Sorgen um anhaltend hohe Inflation dominieren. Die Situation erinnert an ein Zitat der Wallstreet-Legende Bob Farrell: «Wenn alle Expertenmeinungen und Prognosen übereinstimmen, dann wird etwas anderes passieren.»
Einige der Befürchtungen um einen hartnäckigen Teuerungsschub sind berechtigt. Viele sind aber übertrieben, zumindest mit Blick auf die absehbare Zukunft. Diverse Faktoren, welche die Preise momentan in die Höhe treiben, sind tatsächlich vorübergehend, während es bei anderen – speziell den hohen Energiekosten – Jahre dauern kann, bis sich die Lage normalisiert. Mit einiger Verspätung geht die US-Notenbank das Problem an, indem sie Anfang Juni damit begonnen hat, ihre Bilanz zu verkleinern.
Greifen Sie sich zum nächsten Akt dieser Aufführung also eine Tüte Popcorn. Er wird aller Wahrscheinlichkeit nach von einer deflationären Entwicklung geprägt sein.
Bevor wir das Thema weiter angehen, ist eine Präzisierung angebracht. Die meisten Leute denken bei Inflation an steigende Preise. Doch welche Preise sind im Detail gemeint? Es gibt nämlich gute und schlechte Preisentwicklungen; je nachdem, wo man im Leben steht.
Für eine Rentnerin, die ihre Liste mit Lebenswünschen abhaken möchte, ist ein Hauch von Inflation bei den Vermögenspreisen eine willkommene Nachricht. Das Gleiche gilt für eine feste Heimwährung in ihrem Land. Bei steigenden Löhnen und Benzinpreisen ist das hingegen weniger der Fall.
Für junge Erwachsene, die sich darauf vorbereiten, eine Karriere zu starten, eine Familie gründen wollen und einen langfristigen Anlagehorizont anstreben, sind niedrigere Aktien- und Immobilienpreise ein Geschenk des Himmels.
Für die Datenspezialisten des US-Statistikamts BLS sind «Verbraucherpreise» weitaus am wichtigsten. Die Preise von Aktien, Anleihen und Immobilien spielen demgegenüber kaum eine Rolle.
Für die promovierten Ökonomen, die für die Zentralbanken arbeiten, schaffen höhere Vermögenspreise (gut) Vertrauen und stimulieren den Konsum. Höhere Verbraucherpreise (schlecht) bewirken ihrer Ansicht nach das Gegenteil.
Die Bedeutung des Begriffs «Inflation» hat sich – wie bei vielen Wörtern – im Lauf der Zeit verändert. Ursprünglich definiert als Zunahme des Geld- und Kreditangebots, ist Inflation heute eine Ursache, steigende Preise eine Folge. Um Missverständnisse zu vermeiden, bevorzuge ich die klassische Definition, die von der alten Schule der österreichischen Ökonomen akzeptiert wird. Wenn ich von steigenden Preisen spreche, verwende ich deshalb Bezeichnungen wie «Preisinflation» oder «Vermögensinflation».
Natürlich ist das Konzept von «guten» und «schlechten» Preisen ein Fehlkonstrukt. In einer Marktwirtschaft bewegen sich Preise entweder frei, oder sie werden durch staatliche Eingriffe verzerrt. Die Zentralbanker stehen auf der Seite der Gegner der freien Preisfindung. Wo ich stehe, wisse Sie ja aus meinen früheren Beiträgen.
Im Zug der Lockdown-Massnahmen zu Beginn der Pandemie haben sich die Lager von Detailhändlern wie Walmart und Target zunächst reduziert. Auf die Engpässe in den Lieferketten hat die Branche dann mit dem Aufbau des Bestands reagiert. In den zwölf Monaten bis Ende März stieg der Lagerbestand im US-Detailhandel um 17,2% und damit deutlich stärker als die Detailhandelsumsätze (+7,3%) und die Preisinflation (CPI-Index: +8,6 %).
Clarus, ein kleines Fachhandelsunternehmen mit 400 Mio. $ Jahresumsatz, das sich an Outdoor- und Adventure-Sportler richtet, bietet einen Mikrokosmos zur Anschauung dafür, wie die meisten Detailhändler mit dem Problem der Lieferketten umgehen. Firmenchef John Walbrecht kommentierte den Abschluss zum ersten Quartal mit folgenden Worten:
«Während wir weiterhin eine gute Auftragslage für die Marke Black Diamond verzeichnen, haben Lieferketten- und Logistikprobleme unsere Fähigkeit beeinträchtigt, die gesamte Nachfrage im Outdoor-Segment in Einnahmen umzuwandeln ... Wir gehen davon aus, dass einige der logistischen Herausforderungen, die wir im ersten Quartal erlebt haben, in der zweiten Jahreshälfte nachlassen werden.»
Um den «Einschränkungen in der Lieferkette entgegenzuwirken», hat Clarus den Lagerbestand von 160 auf 215 Tage des Nachfragevolumens ausgebaut. Ob das Unternehmen die Nachfrage richtig eingeschätzt hat oder nicht, ist hier nebensächlich. Tatsache ist, dass die überwältigende Mehrheit der US-Detailhändler ihr Lager auf ein überdurchschnittlich hohes Niveau ausgeweitet hat. Deshalb wird es wahrscheinlich als Nächstes zu einer Welle von Preisnachlässen kommen.
In diesem Zusammenhang hat Target vor wenigen Tagen eine zweite Gewinnwarnung publiziert. Der Konzern hat dabei «zugegeben, dass er einen Berg von unverkauften Beständen abtragen muss», schreibt das Internetportal Investing.com.
Die Warnungen vor einer weltweiten Nahrungsmittelkrise sind übertrieben. Die Getreidepreise unterliegen erfahrungsgemäss Zyklen. Der Preis für Weizen tendierte bereits seit Anfang Jahr stetig nach oben, worauf Russlands Einmarsch in die Ukraine in der ersten Märzwoche einen Anstieg von 60% auslöste. Jeder routinierte Rohstoffhändler weiss: «Das beste Rezept gegen hohe Preise sind hohe Preise.»
Gemäss Shawn Hackett, Chef von Hackett Financial Advisors, planen die Farmbetriebe in den USA diese Saison trotz höheren Treibstoff- und Düngemittelkosten (letztere haben sich im vergangenen Jahr verdoppelt) Sojabohnen auf einer Rekordfläche von 91 Mio. Hektaren anzubauen. Gleichzeitig sehen sich die Konsumenten wegen der hohen Preise dazu veranlasst, auf billigere Alternativen wie zum Beispiel Reis auszuweichen. «Weizen ist im Vergleich zu Reis so überbewertet wie nie zuvor», meint Hackett.
Das Klima in der Finanzwelt ist derweil schon fast apokalyptisch. Anne Richards, CEO von Fidelity International, erörterte die Grundstimmung am Weltwirtschaftsforum in Davos so:
«Ein Thema, bei dem die Gespräche diese Woche wirklich konstruktiv verliefen, ist das Risiko einer Nahrungsmittelkrise. Es steht ganz oben auf der Agenda. Es hat sich gezeigt, dass sich praktisch alle Vertreter politischer und unternehmerischer Einrichtungen mit dem Problem auseinandersetzen, wie wir eine grosse Nahrungsmittelkrise abwenden können.
«The Economist» warnte in der Ausgabe vom 21. Mai vor einer bevorstehenden Hungersnot:
«Mit der Invasion in die Ukraine wird Wladimir Putin das Leben von Menschen weit weg vom Kriegsgeschehen zerstören - und zwar in einem Ausmass, das wohl selbst er letztlich bedauern wird. Der Krieg erschüttert die globale Nahrungsversorgung, die durch Covid-19, den Klimawandel und einen Schock bei den Energiepreisen geschwächt ist ... Die hohen Kosten für Grundnahrungsmittel haben die Zahl der Menschen, die sich vor Hunger fürchten müssen, bereits um 440 Millionen auf 1,6 Milliarden erhöht. Fast 250 Millionen stehen am Rand einer Hungersnot. Wenn sich der Krieg weiter hinzieht und Lieferungen aus Russland und der Ukraine eingeschränkt bleiben, könnten mehrere hundert Millionen Menschen zusätzlich in Armut geraten. Politische Unruhen werden sich ausbreiten, Kinder werden unterentwickelt sein und Menschen werden verhungern.»
Hier die gute Nachricht: Wirtschaftsmagazine wie «The Economist» und «Bloomberg Businessweek» haben ein enormes Talent dafür, solche düsteren Warnungen auf dem Höhepunkt einer Hausse an den Rohstoffmärkten auszusprechen. Der Krieg in der Ukraine wird sich irgendwann erschöpfen (eine Prognose zum genauen Zeitpunkt liegt ausserhalb meiner Kompetenz). Und wenn Publikationen wie die britische Zeitung «The Guardian» titeln: «Die Banken sind 2008 zusammengebrochen – und unser Lebensmittelsystem steht kurz davor, das gleiche Schicksal zu erleiden», dann sind niedrigere Lebensmittelpreise und eine lange Phase mit Überschüssen so gut wie sicher.
Richard Farr von Merion Capital Group – ein aufmerksamer Marktbeobachter, wenn es um die Ausgaben der Haushalte geht – gibt hierzu nüchtern zu bedenken: «Für den Transport von jedem Lebensmittelartikel wird Erdöl benötigt». In den USA gilt das besonders für diejenigen Lebensmittel, bei denen Transport und Verpackung die grössten Kosten verursachen.
Für die Energiekrise gibt es keine schnelle Lösung. Jon Faber, Präsident von Pason Systems, fasst die fundamental bullischen Aussichten für den Preis von Rohöl in seinem Aktionärsbrief vom 28. April folgendermassen zusammen:
«Während die weltweite Nachfrage nach Öl weitgehend auf das Niveau von vor der Pandemie gestiegen ist, ist der Ausstoss aller wichtiger Förderregionen nicht nur geringer als vor der Pandemie, sondern tendiert in einigen Fällen sogar nach unten. Die US-Lagerbestände an Rohöl und Petroleumprodukten gehen weiter zurück und liegen bereits unter dem 5-Jahres-Tief. Die USA haben Pläne angekündigt, bis zu sechs Monate lang eine Million Fass Öl pro Tag aus den strategischen Reserven freizugeben; ein Vorhaben, das die Lager bei vollständiger Umsetzung auf den niedrigsten Stand seit 1984 reduzieren würde. Die Produktion auf dem amerikanischen Festland steigt zwar leicht an, liegt aber immer noch fast 10% unter dem Niveau von vor der Pandemie. Der Bestand an erschlossenen, aber noch nicht produktionsbereiten Ölquellen in den USA ist in 21 aufeinanderfolgenden Monaten gesunken und befindet sich nun auf dem niedrigsten Stand seit Anfang 2013.»
«Die Herausforderungen bei der Ölversorgung könnten sich dadurch verschärfen, dass in den letzten fünf Jahren zu wenig in langfristige Förderprojekte investiert wurde. Die Fähigkeit der Energiebranche, schnell auf die zunehmenden Versorgungsengpässe zu reagieren, wird durch einen Mangel an Arbeitskräften und Equipment weiter eingeschränkt.
(Die Hervorhebung habe ich nachträglich hinzugefügt.)
Obschon die Bohraktivitäten in Nordamerika wieder zunehmen, liegt die Zahl der aktiven Förderstandorte nach Angaben der Sevicegesellschaft Baker Hughes immer noch 24% unter dem Niveau von vor der Pandemie.
Auf internationaler Ebene plant Chevron, die Investitionsausgaben bis 2022 um mehr als 50% auf 12,1 Mrd. $ zu erhöhen. Das sind noch immer weniger als die 14,1 Mrd. $ an Investitionen im Jahr 2019, und es ist deutlich geringer als das Allzeithoch von 38 Mrd. $ im Jahr 2013. Die integrierten Ölkonzerne, die durch die Krise in der Fracking-Industrie in den Jahren nach 2014 in Schwierigkeiten geraten sind und von Umweltaktivisten unter Druck gesetzt werden, überlegen es sich zweimal, ihr Explorationsbudget zu erhöhen.
Am 3. Juni verabschiedete die Europäische Union ein sechstes Paket von Sanktionen. Dazu zählt ein partieller Boykott gegen russisches Öl, der ab Dezember und ab dem kommenden Februar für Importe auf dem Seeweg in Kraft treten soll. Als Kompromiss für EU-Mitgliedstaaten wie die Slowakei, Ungarn und die Tschechische Republik sind Pipeline-Importe von Rohöl und Petroleumprodukten ausgenommen. Ziel der EU ist es, die Öllieferungen aus Russland um 90% zu senken. Diese Massnahme wird die Nachfrage nach Importen aus den USA, aus Westafrika und aus dem Nahen Osten erhöhen, mit denen die Angebotslücke geschlossen werden soll.
Die Sanktionen verschärfen das wachsende Problem der «Energiearmut» in Europa. Martha Meyers von der Right to Energy Coalition meint dazu: «Die Reaktion der EU... scheint extrem unempfänglich hinsichtlich der finanziellen Belastung für Menschen, deren Energieverbrauch im Moment unter dem Durchschnitt liegt.» In Spanien litten letztes Jahr 10 bis 15% der Bevölkerung unter Energiearmut; also noch bevor die Energiekosten über 60% stiegen. Nun reagiert das Land mit Massnahmen wie Subventionen und Preiskontrollen, die zum Scheitern verurteilt sind.
Positiv zu vermerken ist, dass die Staaten der OPEC+ die Produktion im Mai nach zwei Monaten des Rückgangs wieder erhöht haben. Gemessen am Hoch von vor dem Krieg ist das Fördervolumen um etwa 3% zurückgegangen, weit weniger als die negativen Schlagzeilen vermuten lassen.
Die Zerstörung der Nachfrage dürfte auch die Energiepreise unter Druck setzen. Auf Basis des gleitenden Durchschnitts der letzten vier Wochen ist der Verbrauch von Benzin in den USA auf den niedrigsten Stand für diese Jahreszeit seit 2013 gesunken, abgesehen vom Einbruch unmittelbar nach Beginn der Pandemie im Jahr 2020. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass sich bei der Reisetätigkeit seit zwei Jahren ein Nachholbedarf aufgestaut hat.
In Nordamerika bleibt das Angebot an Erdgas aus ähnlichen Gründen eingeschränkt, zumal die Bohraktivitäten auf das niedrige Niveau von vor der Pandemie gesunken sind. In China hingegen wird Erdgas bei der Stromerzeugung durch Kohle substituiert. (Die grüne Revolution hat sich in der Volksrepublik nicht in gleichem Mass durchgesetzt wie im Westen.)
Ed Morse, Leiter des Research-Teams für Rohstoffe bei Citi, geht davon aus, dass «China voll auf Kohle setzt» und in diesem Jahr 13,5% mehr verbrennen wird als 2021. In den nächsten beiden Jahren sollen es jeweils 100 Mio. Tonnen sein. Darüber hinaus stieg die Binnenproduktion von Erdgas 2021 um 6 bis 7% und wird 2022 voraussichtlich um 8 bis 10% zunehmen.
«China benötigt dadurch weniger Importe von Erdgas», sagt Morse. «Das wird an den internationalen Märkten zu einer Entspannung führen, womit für Europa erheblich mehr Gas zur Verfügung steht. Wir rechnen deshalb mit einem allmählichen Rückgang der europäischen und globalen Gaspreise und damit auch der Preise in den USA.»
Der Immobilienboom von 2021 ist vorbei. In den USA ist der Zins für eine durchschnittliche Festhypothek mit dreissig Jahren Laufzeit von 3,11 auf 5,23% gestiegen. John Burns Real Estate Consulting geht davon aus, dass die Hypothekenzahlung für ein durchschnittliches Eigenheim hauptsächlich wegen der höheren Zinsen dieses Jahr um 39,4% zunimmt.
Die Research-Firma führt monatlich eine Umfrage unter Betreibern von Holzlagern durch. Im April gaben nur 12% der Befragten an, dass der Lagerbestand an Bauholz und Holzplatten «leicht» oder «sehr knapp» sei. Vor zwei Monaten waren es noch 40%. Das Inventar an neuen Häusern ist im vergangenen Jahr bis April von 4,7 auf 9 Monate der Nachfrage gestiegen (und seitdem hat es sich mit grosser Sicherheit weiter erhöht).
Halbleiterpreise
Im Chipsektor zeichnet sich eine massive Angebotsschwemme ab. Während einige Analysten Halbleiter als «Basiskonsumgut des nächsten Jahrzehnts» bezeichnen, deuten die Zeichen für den erfahrenen Branchenberater Robert Maire auf grössere Probleme hin:
«Der gesamte Sektor, nicht nur die Hersteller von Equipment zur Halbleiterproduktion, wird sich an einem Punkt mit Überkapazitäten konfrontiert sehen. Wenn man all die Kapazität der neuen Fabriken zusammenrechnet, von denen Intel, Micron, Samsung und TSMC (Taiwan Semiconductor) sprechen, werden wir mit Halbleitern überschwemmt werden ... Wir erleben die Mutter aller Zyklen oder einen Super-Duper-Zyklus.»
Weiter sagt mir Maire:
«Oft geht vergessen, dass es sich bei der Halbleiterindustrie um eine ausgesprochen zyklische Branche handelt, die laufend zwischen Über- und Unterangebot schwankt. Gegenwärtig befinden wir uns in einem ausgedehnten Aufwärtszyklus, der irgendwann enden wird ... wahrscheinlich auf nicht sehr schöne Weise ... vor allem, wenn die Nachfrage nachlässt.»
Nach Angaben der Research-Firma IC Insights sind die Investitionsausgaben der Branche im vergangenen Jahr um 34% gestiegen und sollen 2022 um weitere 14% wachsen. TSMC, der weltgrösste Auftragsfertiger, plant, seine Investitionen um 40% auf satte 42 Mrd. $ zu erhöhen. Für die nächsten drei Jahre hat sich der Konzern Investitionen im Umfang von 100 Mrd. $ vorgenommen.
Verzweifelte Zeiten verlangen nach verzweifelten Massnahmen. Der Teuerungsschub kommt in der breiten Bevölkerung nicht gut an. Das bedeutet, dass die gegenwärtig regierende Partei in den USA, die bei den Zwischenwahlen vom November voraussichtlich eine Niederlage einstecken muss, damit beginnt, wirtschaftlich vernünftige Ideen zu erwägen.
Konkret überlegt sich die Regierung von US-Präsident Biden, einige der von Trump eingeführten Strafzölle auf chinesische Importe aufzuheben. Auch plant sie, die von Trump verhängten Sanktionen gegen Venezuela zu lockern, dem Land mit den grössten Ölreserven der Welt.
Die Reaktion aus dem anderen Lager ist wenig überraschend. Das Fachmagazin OilPrice.com berichtet:
«Die Opposition hat Bidens Vorgehen umgehend kritisiert. Senator John Barrasso, der ranghöchste Republikaner im Senatsausschuss für Energie und Naturressourcen, spricht sich entschieden gegen die Lockerung der Sanktionen gegen Venezuela aus. Er erklärt: ‹Die Erfahrung mit dem Kauf russischer Energie sollte Präsident Biden eine Lehre gewesen sein, dass es gefährlich ist, Energie von Tyrannen zu kaufen.›»
Die Zentralbanken verlieren die Kontrolle über ihr jahrzehntelanges Experiment der Nullzinspolitik (ZIRP). Interventionisten betreiben deshalb Schadensbegrenzung und versuchen, die Schuld von sich zu weisen. Ein Artikel in «The Economist» aus der Ausgabe vom 14. Mai mit dem Titel «Grisly Reality: Der Grund für den Absturz des amerikanischen Aktienmarktes» ist ein typisches Beispiel dafür:
«Je härter das Fed intervenieren muss, desto wahrscheinlicher ist, dass es eine Rezession auslösen wird. Der Krieg in der Ukraine hat die Energiepreise in die Höhe getrieben. Und Chinas Null-Covid-Politik schadet der Wirtschaft und trägt zu den Problemen bei den Lieferketten rund um den Globus bei.»
Für Nicht-Interventionisten wie mich verwechseln die Redakteure des «Economist» Ursache und Wirkung. Die extrem niedrigen Zinssätze haben einen ungesunden Boom ausgelöst, der unhaltbar und zerstörerisch war. Die Politik der NATO-Erweiterung und acht Jahre geprägt von Devestitionen im Bereich fossiler Brennstoffe sind mit der russischen Invasion in die Ukraine eskaliert. Die Zero-Covid-Politik von Chinas Parteichef Xi ist lediglich eine Fortsetzung der bisherigen Abschottungstaktik gegenüber dem Westen.
Ein Zusammenbruch ist immer schmerzhaft, aber notwendig. Wenn die Märkte die natürliche Ordnung der Dinge wiederherstellen, muss man damit rechnen, dass dieser Prozess unberechenbar verläuft. Er liefert damit die perfekte Ausrede dafür, um die Kräfte des Marktes zum Sündenbock zu machen. «The Economist» will uns dazu bringen, den Bärenmarkt zu fürchten, doch dieser erledigt bloss die schmutzige Arbeit:
«Die andere Frage ist, ob die Turbulenzen an den Finanzmärkten letztlich die wirtschaftlichen Probleme verstärken, anstatt sie nur zu beeinflussen ... Ein heftiger Einbruch der Vermögenspreise kann sich nicht nur negativ auf die Vorsorgeersparnisse der Leute und auf die Aktienkurse von Unternehmen auswirken, sondern auch auf den Zugang zu Krediten.»
Es ist viel einfacher, den armen Lakaien, die mit der Administration des Systems beauftragt sind, die Schuld zu geben, als dem System selbst. Die Zentralbanker sind nicht allein für das Debakel verantwortlich. Die eigentliche Ursache: Bürokraten im Verwaltungsapparat, die sich über die Marktsignale hinwegsetzten, um die anfängliche Bedrohung durch das Coronavirus zu bewältigen.
Die grossangelegten und planlosen Top-Down-Interventionen – von der Schliessung von Unternehmen bis hin zu den 6,4 Bio. $ an Konjunkturprogrammen (bei denen der überwiegende Teil an Partikularinteressen floss) – wurden von der Trump-Regierung lanciert. Unter Präsident Biden wurden sie fortgesetzt. Als neue Finanzministerin wiederholte Janet Yellen bei ihrer Anhörung am 18. Januar 2021 die Ratschläge von Wirtschaftsexperten beider Seiten des politischen Spektrums:
«Gerade jetzt, wo die Zinsen auf einem historischen Tief sind, ist es das Klügste, was wir tun können, in grossem Stil zu handeln. Ich glaube, dass die Vorteile die Kosten bei weitem überwiegen werden; vor allem wenn es uns darum geht, Menschen zu helfen, die schon sehr lange mit Schwierigkeiten kämpfen.»
«Die Schlüsselfrage ist, ob die Zentralbanken weiterhin die Ereignisse kontrollieren können oder ob die Ereignisse den Spiess umdrehen und beginnen, die Zentralbanken zu kontrollieren. Wir tippen auf das zweite Szenario.»
Jim Grant, «Grant’s Interest Rate Observer», 20. September 2019
Während die berauschende Wirkung der massiven Stimulusprogramme der letzten zwei Jahre nachlässt, sind die Zentralbanken dieser Welt machtlos, etwas dagegen zu unternehmen. Die Märkte können und werden sich an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. Die Ressourcen aber, die durch diese tragischen Fehler vergeudet wurden, sind für immer verloren. Jeder Versuch, zu intervenieren, wird die Verschwendung nur noch vergrössern.
Deflation ist die instinktive Reaktion des Marktes auf eine besonders heimtückische Form der Geldinflation, die zu Blasen bei den Vermögenspreisen führt. Der künstlich erzeugte Boom ist verführerisch und lockt gegen das Ende Kleinanleger an. Der Abschwung erfüllt seine wichtige Funktion: Er stellt die Preise wieder ins Lot, lenkt knappes Kapital zu seiner besten Verwendung um und bringt die Wirtschaft wieder in eine gesunde Verfassung.
Hoffentlich werden die richtigen Lehren gezogen. Eine davon ist, dass die Experimente mit den grossen Stimulusprogrammen von 2008 und 2020 dieses Debakel verursacht haben. Die Interventionisten haben genug Schaden angerichtet. Es ist höchste Zeit, ihre Ideen auf die Müllhalde der Geschichte zu befördern. Vive le laissez-faire!
Das Fed mag gegenwärtig einen Kampf gegen die Inflation führen, der sich wahrscheinlich bereits erledigt hat. Das spielt aber kaum noch eine Rolle. Die Ereignisse haben nun die Kontrolle übernommen.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus «The Coffee Can Portfolio», einem Investmentbulletin, das der Verfasser in loser Folge publiziert.