Die globalen Aktienmärkte haben sich von ihren Tiefstständen im Herbst 2022 erholt und einige Aktien erreichten sogar neue Höchststände. Bullen und Bären streiten über das wahrscheinlichere Szenario. Die monetären Indikatoren raten zur Vorsicht.
Trotz mannigfaltiger Probleme haben sich die Aktienindizes von ihren Tiefstständen im Herbst erholt – erstaunlich stark in Europa, wenn man den Euro Stoxx 50, den Dax oder den französischen Cac 40 betrachtet. Wer die Kommentare der Finanzmarktexperten liest, erkennt wieder mehr Optimismus und Sorglosigkeit. Die meisten sind sowieso Daueroptimisten und fühlen sich durch die fulminante Avance der letzten Monate bestätigt in ihrer Religion.
Die grossen Umbrüche in der Geopolitik, im Welthandel und im Finanzsystem, die uns im Verlauf dieses Jahrzehnts vor grosse Herausforderungen stellen werden, bleiben vorerst ausgeblendet. Aber das ist die Natur der kurzfristig orientierten Börse.
Der neue Optimismus wird genährt, weil die erwartete Rezession in den USA bisher ausgeblieben ist. Zudem hat Europa den Winter punkto Energieversorgung besser überstanden als befürchtet, nicht zuletzt, weil es der mildeste Winter seit Jahrzehnten war.
Dementsprechend sind der befürchtete Energiemangel und die Rationierungen für die Bürger in Europa weitgehend ausgeblieben. Selbst der Preis für Erdöl und Erdgas hat sich in den letzten zwölf Monaten trotz Krieg zurückgebildet. Jedoch zahlen die Europäer heute sehr viel mehr für ihre Energie als noch vor der Pandemie, was mit der ideologisch verblendeten Energiepolitik Deutschlands, aber auch der Schweiz und einigen anderen europäischen Staaten zu tun hat. Die Folgen dieser Politik werden uns noch jahrelang schmerzen.
Die Erträge der Unternehmen sind bisher grosso modo besser ausgefallen als befürchtet. Aber die Konsensschätzungen der Analysten werden auch laufend reduziert, denn die Finanzchefs der Unternehmen steuern die Erwartungshaltung so, dass die Gewinne bei Veröffentlichung positiv überraschen können.
Derzeit gibt es zwei Lager in der Beurteilung der Märkte. Die eine Gruppe meint, dass es keine Rezession geben werde und gleichzeitig die Inflation und die Zinsen weiter fallen werden – und deshalb glaubt sie an weiter steigende Aktienkurse. Die andere Gruppe erwartet eine Rezession mit Ertragseinbrüchen der Unternehmen, fallender Inflation und fallenden Zinsen.
Aber Achtung: Bleibt die Rezession tatsächlich aus, dann dürfte die Inflation kaum mehr viel tiefer fallen und nach einigen Monaten sogar wieder anziehen, denn dann würden Rohstoffpreise wieder steigen, der Arbeitsmarkt ausgetrocknet bleiben und die konjunkturell bedingte Nachfrage hoch bleiben.
In diesem Szenario müssten die Notenbanken die Zinsen anheben und die Geldpolitik weiter verknappen, um die Inflation zu brechen, was nur mit schwächerer Nachfrage möglich ist, denn Notenbanken können das Angebot von Gütern und Dienstleistungen nicht erhöhen. Ein solches Szenario würde für günstig bewertete (Value) und zyklische Aktien sprechen. Diese sind jedoch in den wichtigsten Indizes der Hauptmärkte weniger stark gewichtet als defensive Aktien und Wachstumswerte.
Dieses konjunkturell positive, geldpolitisch aber negative Szenario würde also für jenen Teil des Marktes positiv sein, der weniger Einfluss auf Indizes wie S&P 500, Nasdaq 100, SMI oder Cac 40 hat. Dagegen würden ein Dax und Euro Stoxx 50 am meisten profitieren.
Im zweiten Szenario, wenn es zu einer Rezession kommen sollte, sieht es anders aus. Die Erträge der Unternehmen, besonders in zyklischen Sektoren, würden entsprechend leiden. Im Durchschnitt brechen selbst bei einer sanften Rezession in den USA die Unternehmensgewinne um etwa 25% ein, was heute nicht eingepreist ist. In diesem Szenario würden jedoch auch die Zinsen und Renditen von Obligationen fallen.
Ob die damit verbundene Erhöhung der Bewertung (fallende Zinsen = höhere Bewertung, und umgekehrt) diesen Einbruch der Unternehmensgewinne auffangen würde, ist unwahrscheinlich. Es käme in diesem Szenario also nochmals zu einem Taucher an den Börsen, und zwar vorlaufend zur Konjunktur. Denn ist die Rezession einmal als Tatsache erkannt, dann beginnen die Aktienkurse bereits wieder zu steigen, weil die Notenbanken dann wieder massiv Liquidität ins System einschiessen und diese in Risikoanlagen fliesst.
Warum sind denn die Aktienindizes von den Tiefstständen im Herbst überhaupt gestiegen? Das hat mit speziellen Vorkommnissen zu tun. In den USA finanzierte die Regierung ihre Auslagen, seit die Schuldenlimite erreicht wurde, primär nicht mehr mit neu ausgegebenen Staatsanleihen, sondern von ihrem Konto bei der Zentralbank (Fed), dem sogenannten Treasury General Account (TGA). Damit wurde vorher vom Fed sterilisiertes Geld wieder dem Finanzsystem zugeführt.
Und dann kam im März mit dem Kollaps der Silicon Valley Bank die Bankenkrise, die das Fed dazu veranlasste, dem System mehr als 300 Mrd. $ an Liquidität zuzuführen. Die grossen «Money Center»-Banken in den USA, die im Umfeld der Finanzkrise Zuflüsse von Depositen erfuhren, vergaben Kredite an Finanzgesellschaften, die damit wiederum Wertpapiere kauften, weil sie die Entwicklung als bullish beurteilten.
Abgesehen von den USA wurde dem Finanzsystem auch in China und Japan in hohem Masse Liquidität zugeführt. Zusammen ergibt das mehrere hundert Milliarden Dollar an Neugeld im System, das Anlagemöglichkeiten suchte. Weil die EZB zurückhaltender war, festigte sich der Euro, und besonders amerikanisches Kapital suchte Anlagen an den optisch günstiger bewerteten europäischen Aktienmärkten. Für Europa sprach zudem die These, dass die exportorientierten Unternehmen vom Ende der Null-Covid-Politik in China profitieren würden.
Die europäischen Aktienmärkte werden primär vom amerikanischem Kapital bewegt. Ist in den USA ein Feiertag, dann herrscht an Europas Börsen Flaute. Sollten sich diese Gelder, aus welchen Gründen auch immer – Rezession? Enttäuschung über Chinas Erholung? –, von den europäischen Märkten wieder zurückziehen, dann kann es so schnell wieder abwärts gehen wie vorher aufwärts.
Angesichts der erfreulichen Entwicklungen der letzten Monate herrscht wieder deutlich mehr Zuversicht an den Märkten. Einzelne Umfragen zeigen den höchsten Optimismus seit Anfang Februar 2022, andere seit November 2021. Das sind zumindest Warnzeichen, dass die Börse in den kommenden Monaten keine Einbahnstrasse sein wird.
Die grosse Sorglosigkeit zeigt erhöhte Risiken und Anfälligkeit für eine grössere Korrektur nach unten. Sollten die Konjunkturdaten noch zwei bis drei Monate gut ausfallen, dann besteht das Risiko von weiteren Zinserhöhungen. Zudem ist das Konto der US-Regierung beim Fed bereits von 1000 Mrd. auf aktuell noch 100 Mrd. $ gesunken. Nach dem «Tax Day» vom 18. April dürfte das Konto der Regierung wieder mit Steuereinnahmen gefüllt werden, welche dem Finanzsystem entzogen werden. Damit ist der Effekt der grossen Liquiditätszufuhr für einige Zeit vorbei. Und damit könnten an den Börsen die Anschlusskäufe aus dieser Perspektive fehlen.
Im Zyklus sind die Abläufe sehr komplex. Zuerst werden Geld- und Fiskalpolitik expansiv gefahren, und die daraus entstehende Überschussliquidität fliesst in Vermögenswerte aller Art. Mit zeitlicher Verzögerung verbessert sich die Konjunktur, aber dieser nachhinkend steigen die Preise für Güter und Dienstleistungen, also die Inflation. Was die Notenbanken dann in ihrer meist nicht erfolgreichen Feinsteuerung anpeilen, ist eine Reduktion der Teuerung. Sie versuchen, die «weiche Landung» der Konjunktur – ohne Rezession – zu organisieren.
Weiche Landungen, das zeigt die Historie, gibt es aber in der Regel nicht. Entweder kommt es zu einem Konjunkturabschwung mit Rezession und einem Rückgang der Unternehmensgewinne – oder es gibt gar keine Landung und der Zyklus wird verlängert mit entsprechenden Konsequenzen für die Inflation.
Die Märkte erwarten derzeit meines Erachtens wieder einmal das Unmögliche, nämlich die sanfte Landung mittels einer erfolgreichen Feinsteuerung der Notenbanken. Aber waren es nicht gerade die Zentralbanken, die in den letzten 25 Jahren mit ihrem Versuch von Feinsteuerung so viel Schaden angerichtet haben? Dotcom-Blase und Absturz von 2000 bis 2003, Immobilienblase und Absturz samt Finanzkrise 2008, historisch beispiellose Geldschöpfung ab 2009, negative Zinsen ab 2014, gefolgt 2022 vom grössten Einbruch der Anleihenmärkte seit Jahrzehnten. Das sind keine gesunden Entwicklungen.
Die Welt ist heute eine andere als noch 2021. Der Krieg in der Ukraine teilt die Welt, die grosse Globalisierung läuft jetzt rückwärts. Auch ist im Zuge der Pandemie eine grosse Zahl von Berufstätigen vor allem in den USA frühzeitig in den Ruhestand gegangen, und deshalb fehlen Arbeitskräfte an vielen Orten.
Die Teuerung hat die Realeinkommen der Bürger geschmälert, gerade die unteren 50% der Einkommensschichten müssen den Gürtel enger schnallen. Die Unternehmen haben das Beste aus der Situation gemacht: Sie haben wo sie nur konnten die Preise erhöht. Die jährliche Veränderungsrate der Teuerung fällt jetzt, aber die Inflation dürfte sich nur temporär entspannen, denn die Teilung der Welt in zwei Blöcke, die Verhärtung des Konflikts der beiden Grossmächte USA und China mit ihren Vasallen und Alliierten, wird die Organisation der Lieferketten erschweren. Darauf reagieren die Unternehmen mit höheren Preisen, um ihre Margen zu verteidigen. Das hat bis jetzt sehr gut funktioniert.
Der Bondmarkt in den USA zeigt seit Mitte des letzten Jahres eine inverse Zinsstruktur, die kurzfristigen Zinsen sind höher als die langfristigen. Das führt besonders im Bankensystem zu Problemen, denn Banken finanzieren einen Teil ihrer langfristigen Ausleihungen kurzfristig. Die schwächsten Glieder im Bankensystem sind bereits zerbrochen. Wenn sie mit dieser Situation konfrontiert werden, dann erhöhen die Banken ihre Standards für Kreditbegehren. Mit anderen Worten wird das Geld teurer und knapper.
Dieser Prozess läuft nun ab und wird mit der Zeit die Konjunktur in den USA bremsen. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit dürften die Probleme im Lauf der zweiten Jahreshälfte auf den Tisch kommen und die Konjunktur dann bis deutlich ins Jahr 2024 hinein unangenehm überraschen, mit entsprechenden Rückgängen bei den Unternehmensgewinnen.
In der Eurozone ist die Zinskurve nur bei den als besser wahrgenommenen Schuldnerstaaten invers, während für Länder wie Griechenland und Italien die Renditen für zehnjährige Staatspapiere deutlich über den Geldmarktsätzen liegen. Aber die EZB, die wie andere Notenbanken von der hohen Inflation überrascht wurde, will die Zinsen weiter anheben. Auch das Fed steuert eine weitere Erhöhung an.
In der zeitlichen Abfolge läuft die Geldpolitik der Konjunktur und diese der Inflation voraus. Wenn die Zentralbanken nun also aufgrund der stark gestiegenen Inflation die Geldpolitik anziehen, dann entspricht das einem Chauffeur, der beim Vorwärtsfahren nur in den Rückspiegel schaut.
Deshalb haben Notenbanken mit dem Versuch der Feinsteuerung im Lauf der Zeit mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Und deshalb ist das Risiko gross, dass auch dieses Mal etwas schief gehen und die Konjunktur ab dem Spätsommer 2023 bis ins Jahr 2024 hinein enttäuschen wird. Ob die Analysten dann immer noch so bullish sind, wenn sie laufend die Gewinnschätzungen für die Unternehmen reduzieren müssen, bezweifle ich. Deshalb meine Erwartung einer Korrektur an den Börsen.
Die gute Nachricht dabei: Wenn der Schaden offensichtlich ist, also voraussichtlich gegen Ende des laufenden Jahres und danach, werden die Notenbanken und möglicherweise auch die Fiskalbehörden wieder Vollgas geben und damit die nächste grosse Hausse an den Märkten auslösen. Die Achterbahnfahrt geht weiter.