Die Meinung

Chuck Prince und wir: Gedanken über den Wert der Demut

An den Finanzmärkten ist Gier und Selbstgefälligkeit, manchmal auch Angst zu sehen – aber kaum je die wichtigste Charaktereigenschaft, die jeder Investor haben sollte: Demut. Sie schützt vor Selbstüberschätzung und lehrt, in Szenarien zu denken.

Mark Dittli
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«Wenn die Musik stoppt, was die Liquidität an den Märkten betrifft, dann wird’s kompliziert. Solange aber die Musik spielt, muss man aufstehen und tanzen. Wir tanzen noch.»

Mark Dittli

Mark Dittli ist Geschäftsführer und Chefredaktor von The Market. Er ist seit zwanzig Jahren Wirtschaftsjournalist, davon war er sechs Jahre Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft» und berichtete während fünf Jahren als Korrespondent aus New York. Seine Spezialgebiete sind makroökonomische Themen, Wirtschaftsgeschichte und Schweizer Aktien.
Mark Dittli ist Geschäftsführer und Chefredaktor von The Market. Er ist seit zwanzig Jahren Wirtschaftsjournalist, davon war er sechs Jahre Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft» und berichtete während fünf Jahren als Korrespondent aus New York. Seine Spezialgebiete sind makroökonomische Themen, Wirtschaftsgeschichte und Schweizer Aktien.

Mit dieser Aussage ging Charles «Chuck» Prince in die Geschichte ein. Der damalige CEO der amerikanischen Grossbank Citigroup äusserte sie Anfang Juli 2007 in einem Interview mit der «Financial Times». Wenig später nahm die Finanzkrise ihren Lauf, Citigroup sowie zahlreiche weitere Banken lagen bald in Trümmern – und Prince wurde zum Symbol des selbstgefälligen Bankers, der blind und ahnungslos ins Verderben raste.

Mehr als zehn Jahre mit boomenden Finanzmärkten sind seither vergangen. Die Krise ist, wenn überhaupt, nur noch blasse Erinnerung.

Es ist einfach, die Aussage von Chuck Prince im Rückblick als naiv zu belächeln. Doch sie ist lehrreich, denn sie legte die Attribute der drei nach wie vor häufigsten – und gefährlichsten – Handlungsmuster an den Finanzmärkten offen:

  • Erstens zeigte Prince die ausgeprägte Angewohnheit des Menschen, den aktuell gefühlten Zustand in die Zukunft zu extrapolieren; die Musik spielt, also wird sie auch morgen spielen. Ergo tanzen wir.
  • Zweitens litt Prince, wie die meisten Teilnehmer an den Finanzmärkten, an Selbstüberschätzung; ich werde es vor allen anderen Tänzern realisieren, wenn die Musik stoppt. Ergo werde ich rechtzeitig handeln können.
  • Drittens liess er sich in seinem Tun und Denken vom sogenannten Karriererisiko leiten, der wichtigsten aller Triebfedern in der Welt der Finanzmärkte; wenn alle anderen tanzen, kann ich es mir gar nicht leisten, unkonventionell im Abseits zu stehen.

Der Blick auf die Gegenwart zeigt, dass sich daran nichts geändert hat.

«Die Zinsen können nicht steigen»

Das heutige Äquivalent zur Aussage von Chuck Prince lautet ungefähr so: «Sollten die Zinsen einmal kräftig steigen, wird’s kompliziert. Aber ich sehe keinen Grund, weshalb die Zinsen steigen sollten. Also tanze ich.»

Man hört die Aussage vom Pensionskassenmanager, dessen Anlageperformance in den vergangenen Jahren vor allem dank Buchgewinnen im Bondportfolio geglänzt hat. Man hört sie von der Anlagestrategin, die ihre Prognose für weitere Avancen an den Börsen mit dem Argument der Risikoprämie untermauert. Man hört sie vom Investor, der auf der Suche nach Rendite in zunehmend exotische, illiquide Marktsegmente vorstösst. Man hört sie auch von der Notenbankerin, die die aktuelle Geldpolitik als die alternativlos Richtige darstellt.

2007 war es der Glaube an die Effizienz der Märkte und an die unfehlbare Präzision der Risikomodelle, der das konventionelle Denken einte. Heute ist es der fest verankerte Glaube, dass die Zinsen noch für sehr lange Zeit nicht steigen werden. Um es in ironischer Anlehnung an Irving Fisher, den wohl grössten amerikanischen Ökonomen der Zwanziger- und Dreissigerjahre, auszudrücken: Die Marktteilnehmer sind der festen Ansicht, dass die Zinsen ein permanent niedriges Plateau erreicht haben.

Auch heute sind die von Prince vorgelebten Handlungsmuster und Denkfehler im Spiel: Die Extrapolation der als stabil empfundenen Gegenwart in die Zukunft; die Selbstüberschätzung der Investoren in der Frage des Timings; das Karriererisiko, das den Grossteil aller professionellen Marktteilnehmer zu konventionellem Handeln zwingt.

Das sollte zu Denken geben.

Die Illusion von Wissen

An den Finanzmärkten sind drei Wesenszüge in der Regel im Überfluss vorhanden: Gier, Selbstgefälligkeit und, in jeweils kurzen und intensiven Phasen, Angst. Aber eine Eigenschaft ist immer rar: die Demut.

Das überrascht nicht. Es ist nicht einfach, sich einzugestehen, dass man im Grunde genommen wenig über die Funktionsweise des komplexen, adaptiven Systems der Wirtschaft weiss.

Besonders schwer fällt dieses Eingeständnis in der typischerweise von selbstbewussten Männern dominierten Welt der Banken und der Finanzmärkte, wo sich die Prognostiker jeweils zum Jahresende gegenseitig mit punktgenauen Vorhersagen überbieten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Prognosen in der Regel einen erbärmlich schlechten Leistungsausweis haben.

Dabei wäre gerade heute eine gesunde Portion Demut besonders angebracht, denn: Woher nehmen wir überhaupt die Gewissheit, dass die Zinsen noch lange nicht steigen werden? Wir wissen ja noch nicht einmal den Grund für das niedrige Zinsniveau.

Für die Einen sind die Notenbanken dafür verantwortlich, die mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik die kurz- und langfristigen Zinsen bewusst in die Tiefe manipulieren. Für die Anderen liegt der Grund in einem globalen Sparüberschuss, der, bedingt durch demographische Effekte und die abnehmende Kapitalintensität der Dienstleistungswirtschaft, das natürliche Zinsniveau dauerhaft gesenkt hat. Die objektiv feststellbare Ursache aber kennen wir nicht.

Der Faden lässt sich weiter drehen: Woher nehmen die heutigen Marktteilnehmer die Gewissheit, dass Inflation keine Gefahr mehr darstellt? Und, woher nehmen die an den Schalthebeln der Notenbanken sitzenden Männer und Frauen die Gewissheit, dass sie das Richtige tun, zumal sie sich in der Geldpolitik schon seit Jahren auf völlig unbekanntem Territorium bewegen?

Wenn sie ehrlich sind, wissen sie es nicht.

Demut bedeutet das Eingeständnis des Nichtwissens. Sie hilft, die eigenen Beschränkungen zu kennen und den Zweifel – er ist die Basis für die Vernunft – am Leben zu erhalten. Denn wie schon der 2018 verstorbene Astrophysiker Stephen Hawking lehrte: Der grösste Feind des Wissens ist nicht die Ignoranz, sondern die Illusion von Wissen.

Das befreiende Eingeständnis des Nichtwissens

Was tun damit? Ein aus dem demütigen Eingeständnis des Nichtwissens gezogener Zweifel an der aktuell herrschenden «Wahrheit» an den Finanzmärkten ist keineswegs mit der Warnung vor einem baldigen Crash gleichzusetzen.

Er bedeutet primär bloss, dass man sich seiner Denkfehler bewusst wird. Dass man die Gefahr erkennt, die entsteht, wenn man die Gegenwart in die Zukunft extrapoliert. Dass man sich eingesteht, das Timing für den möglichen Ausstieg nicht besser erwischen zu können als der Durchschnitt aller anderen Marktteilnehmer. Und dass man als professioneller Investor versteht, wie schwierig es aus Gründen des Karriererisikos ist, aus dem konventionellen Mainstream auszuscheren.

Vor allem aber öffnet das Eingeständnis des Nichtwissens den Weg, in Szenarien statt in «Wahrheiten» zu denken. Ein Szenario für die kommenden ein, zwei Jahre kann durchaus «more of the same» sein: Inflation ist kein Thema, die Zinsen bleiben tief, und die Notenbanken eilen jedes Mal zur Hilfe, sobald die Börsen vom kleinsten Beben erschüttert werden. Party on.

Ein anderes Szenario behandelt aber die Rückkehr der Inflation, etwa ausgelöst durch einen überraschend kräftigen Anstieg des Ölpreises oder durch steigende Löhne, wie sie derzeit bereits in den USA, in Osteuropa oder in China zu beobachten sind und bis anhin noch in den Gewinnmargen der Unternehmen absorbiert wurden. In diesem Szenario bilden sich zwei Subszenarien; eines, in dem die Zentralbanken die inflationäre Entwicklung lange und bewusst ignorieren, und eines, in dem sie rasch und beherzt mit einer Straffung der Geldpolitik reagieren.

Ein weiteres Szenario befasst sich mit der Möglichkeit eines abrupten Vertrauensverlustes der Märkte in eine Währung beziehungsweise in die Politik einer Notenbank, ein anderes mit einem plötzlichen Versiegen der Liquidität in einzelnen Segmenten der Finanzmärkte.

Der Sinn des Denkens in Szenarien ist nicht, das «richtige» Szenario zu prognostizieren, da, wie erwähnt, Prognosen zum künftigen Verhalten komplexer, adaptiver Systeme in aller Regel unnütz sind.

Nein, der Sinn liegt vielmehr darin, mit einem robusten Portfolio zu arbeiten und gewappnet zu sein, wenn es anders kommt, als es der Mainstream erwartet. Und dann zumindest ein kleines bisschen weniger dumm dazustehen als die Anderen.