Meinung

Covid, die Märkte und was als nächstes passiert

Der Umgang mit der Pandemie in den westlichen Industriestaaten, in China und in Japan wird den weiteren Verlauf an den Finanzmärkten massgeblich beeinflussen. Der Versuch einer Bestandesaufnahme in Szenarien.

Louis-Vincent Gave
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In den letzten 18 Monaten war die Entwicklung der Covid-Pandemie die wichtigste Triebkraft für die Entwicklung an den Finanzmärkten. Auch auf die Gefahr hin, eine komplizierte Situation allzu sehr zu vereinfachen, durchliefen die Märkte im Wesentlichen die folgenden Phasen:

  • Phase 1: Covid-Panik. Im März und April 2020, als praktisch alle westlichen Regierungen beschlossen, ihre Bevölkerung abzuschotten, befanden sich die Preise für Aktien, Rohstoffe und Anleihen zeitweise im freien Fall. Als die Liquidität an den Märkten versiegte, entkoppelten sich die Preise von der Realität. Der Höhepunkt der «verrückten Preise» war der 20. April, als der Terminkontrakt für Rohöl der Sorte WTI mit einem Minus von 37.63 $ abschloss.
  • Phase 2: Politikgesteuerte Stabilisierung. Nach der Kernschmelze entstaubten die meisten westlichen Politiker das chinesische Drehbuch von 2008 und begannen mit einer extrem keynesianischen Nachfragepolitik. Die Staatsausgaben und die breite Geldmenge wurden auf ein historisch nahezu präzedenzloses Niveau erhöht, von Grösse und Umfang her nur vergleichbar mit dem Zweiten Weltkrieg. Die Banken in den USA, Frankreich und anderswo wurden vom Staat angewiesen, Kredite an alle und jeden zu vergeben. Die Regierungen sprangen ein, um Lohneinbussen der Arbeitnehmer auszugleichen. Ab April 2020 begannen die Aktienmärkte Fuss zu fassen, angeführt von vermeintlich «antifragilen» Werten wie nachhaltige Energie, Big Tech und Aktien, die vom Home-Office-Trend profitierten.
  • Phase 3: Einführung des Impfstoffs. Die Einführung der ersten Covid-Impfstoffe im Dezember 2020 in Israel, gefolgt vom Vereinigten Königreich und den USA ab Januar, weckte die Hoffnung, dass Impfstoffe die Lösung sein könnten, die den reichen Ländern eine «Herdenimmunität» verleiht. Als die Einführung der Impfstoffe sich ab Februar beschleunigte, wurden Staatsanleihen verkauft, die langfristigen Bondrenditen stiegen. Vergleichsweise günstig bewertete zyklische Aktien aus Sektoren wie Energie, Grundstoffe und Finanzen schnitten besser ab als teure Wachstumswerte. Während dieser Phase teilten sich die fortgeschrittenen Volkswirtschaften in zwei Gruppen auf: Diejenigen, die Impfstrategien anwenden, um sich wieder zu öffnen (Nordamerika und Europa), und diejenigen, die in Sachen Covid an der Nulltoleranz-Politik festhalten (China, Japan, Australien, Neuseeland und die meisten asiatischen Länder).
  • Phase 4: Ausbreitung der Delta-Variante. Anfang Mai schrieb Indien Schlagzeilen mit alarmierenden Bildern von überfüllten Krankenhäusern und Massengräbern. Mitte Mai tauchten Berichte über die «Delta-Variante» auf, die sich als noch ansteckender erwies und gegen die die Impfstoffe weniger wirksam zu sein schienen. Das beendete den «Reflation Trade»; die Renditen von Staatsanleihen begannen zu sinken, das Anlagekapital stürzte sich wieder auf die grossen Wachstumsaktien aus dem US-Technologiesektor. Der Dollar erholte sich, und die FAAMG-Gruppe (Facebook, Apple, Amazon, Microsoft, Google) erzielte eine massive Überperformance.

Wie wird die nächste Marktphase aussehen?

Damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Die offensichtliche Frage, mit der sich Anleger heute befassen, lautet, ob Phase vier ein stabiles Gleichgewicht darstellt oder ob die Märkte zwangsläufig eine Phase fünf erleben werden - und wenn ja, wie diese aussehen wird.

Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir zunächst sowohl die jüngsten positiven Nachrichten von der Covid-Front als auch die negativen Entwicklungen betrachten.

Positive Nachricht Nr. 1: Die Delta-Variante scheint weniger tödlich zu sein als frühere Virusvarianten. Das Vereinigte Königreich war früh von der Delta-Variante betroffen, und die Zahl der Covid-Fälle stieg entsprechend stark an (blaue Kurve in der Grafik). Glücklicherweise führte dies jedoch nicht zu den gleichen Sterblichkeitsraten (rot) wie in früheren Covid-Wellen.

Das könnte daran liegen, dass das Coronavirus zwar ansteckender, aber weniger tödlich wird, wie es bei Viren oft der Fall ist. Es könnte auch sein, dass die durch Impfstoffe aufgebaute Immunität die Auswirkungen von Covid für die meisten Menschen abgefedert hat. Oder es kann sein, dass das Gesundheitssystem bessere Medikamente und Verfahren für den Umgang mit schwerkranken Menschen gefunden hat. Was auch immer der Grund ist – und es können alle genannten Gründe sein –, die sinkenden Sterblichkeitsraten sollten die politischen Entscheidungsträger ermutigen, die Lockdown-Massnahmen aufzugeben.

Positive Nachricht Nr. 2: Schweden hat möglicherweise die Herdenimmunität erreicht. In der Frühphase der Pandemie wurde die schwedische Politik aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht von Politikern bestimmt, sondern vom leitenden Epidemiologen Nils Anders Tegnell. Dies führte zur merkwürdigen Situation, dass ein Grossteil der liberalen Weltmedien Schweden beschimpfte, weil es «nicht der Wissenschaft folgte», obwohl es das einzige Land war, dessen Politik von einem Wissenschafter bestimmt wurde.

Ein Teil von Tegnells Argumentation war, dass Schweden, wenn es auf grossflächige Lockdown-Massnahmen verzichtet, die Herdenimmunität schneller erreichen würde. Die gute Nachricht ist, dass Schweden (rote Kurve) während der aktuellen Delta-Welle kaum einen Anstieg der Infektions- und Todesfälle verzeichnet hat:

Der eigentliche Test wird allerdings erst im Herbst und Winter stattfinden, wenn die Schweden wieder in ihre Häuser zurückkehren, wo sich Keime leichter verbreiten.

Die Erfahrungen Schwedens haben möglicherweise dazu geführt, dass Nachbarn wie Dänemark und Norwegen kürzlich die meisten Covid-Beschränkungen aufgehoben haben. Dieser skandinavienweite Trend der «Rückkehr zur Normalität» kann als ermutigend angesehen werden.

Positive Nachricht Nr. 3: In den meisten reichen Ländern hat sich gezeigt, dass Covid bei der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter weniger tödlich ist als zunächst befürchtet. Als die Krankheit zum ersten Mal auftrat, gaben ihre unbekannte Natur und ihre Auswirkungen Anlass zu grosser Sorge. Würde sich Covid als ebenso tödlich erweisen wie das erste Sars-Virus von 2003? Würde die Krankheit die Gesundheitssysteme zum Kollaps bringen, wie es in den ersten Wochen in Norditalien geschah? Würde sie für junge und alte Menschen in grosser Zahl tödlich enden?

Heute, nach 18 Monaten Datenerhebung, haben sich einige der Bedenken zerstreut, besonders was die Tödlichkeit von Covid für Menschen unter 65 Jahren betrifft. In den meisten westlichen Ländern wäre es schwierig, eine statistisch signifikante Auswirkung auf die Sterblichkeit der 15- bis 64-Jährigen zu finden (leider gilt dies nicht für ältere Menschen, für die sich Covid als sehr tödlich erwiesen hat).

Betrachtet man die Gesamtzahl der Todesfälle durch alle Ursachen, so liegt die Sterblichkeitsrate der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Frankreich auf einem generationenübergreifenden Tiefstand. Das Gleiche gilt für Schweden, und auch in Deutschland ist kaum ein nennenswerter Covid-Effekt bei der Sterblichkeit dieser Bevölkerungsgruppe festzustellen:

So weit zu den positiven Nachrichten. Werfen wir nun einen Blick auf die negativen Entwicklungen.

Negative Nachricht Nr. 1: Leider machten nicht alle reichen westlichen Länder die gleichen Erfahrungen wie Schweden, Frankreich und Deutschland. In Italien, Spanien und Grossbritannien kam es zu einem statistisch signifikanten Anstieg der Sterberaten in der erwerbsfähigen Bevölkerung, sowohl in der ersten Welle im Frühjahr 2020 als auch im Winter 2021. Und obwohl die wöchentliche Sterblichkeit im Vereinigten Königreich, Italien und Spanien mittlerweile weitgehend wieder den historischen Durchschnittswerten entspricht, dürften die Erfahrungen der letzten beiden Jahre die politischen Entscheidungsträger dazu veranlassen, sich vor einem dritten Covid-Winter zu fürchten.

Noch extremer ist die Situation in den USA, wo die Zahl der Todesfälle in der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter über dem historischen Durchschnitt liegt und weiterhin hoch ist. Vor der Covid-Krise starben in den USA jede Woche durchschnittlich 13'326 Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren. Mit Covid stieg diese Zahl signifikant, und heute liegt sie immer noch bei 14'200:

Vielleicht hatten die USA einfach nur Pech. Vielleicht hat Covid inhärente Schwächen im amerikanischen Gesundheitssystem offenbart oder die besondere Anfälligkeit der USA aufgrund der hohen Komorbiditäten, die auf weit verbreitete Diabeteserkrankungen, Fettleibigkeit und Opioid-Abhängigkeiten zurückzuführen sind.

Negative Nachricht Nr. 2: Die beunruhigende Entwicklungen in Israel. Als die Covid-Impfstoffe im Dezember 2020 auf den Markt kamen, weckten die Erfahrungen in Israel die Hoffnung, dass die Lockdown-Massnahmen ein Ende haben würden. Neun Monate später verzeichnet Israel erneut einen Anstieg der Covid-Infektionen, der die seiner Nachbarländer übertrifft. Noch besorgniserregender ist, dass das Land mehr neue Fälle verzeichnet als im Januar 2021.

Während in Israel im August letzten Jahres wöchentlich 1000 neue Covid-Fälle pro Million Einwohner registriert wurden, sind es heute 7000. Leider steigt mit der Zahl der Infektionen auch die Zahl der Todesfälle. Während im August letzten Jahres in Israel zehn Covid-Todesfälle pro Woche und Million Einwohner verzeichnet wurden, ist diese Zahl in den letzten Wochen trotz der Impfstoffe auf etwa 20 pro Woche gestiegen.

Das bedeutet, dass die Hoffnung, durch Impfung eine Herdenimmunität zu erreichen, möglicherweise verfrüht war.

Negative Nachricht Nr. 3: Der isländische Covid-Anstieg. Ein Grund für die israelische Covid-Welle könnte sein, dass die Sommer in Israel unerträglich heiss sind. Das veranlasst die Menschen, sich in den Häusern aufzuhalten, wo sich Covid leichter ausbreiten kann.

In Island ist das Gegenteil der Fall, wo die Menschen im Juli und August lange Tageslichtstunden im Freien verbringen. Doch auch in Island ist es in den letzten Wochen zu einem deutlichen Anstieg der Covid-Fälle gekommen. Das steht im Widerspruch zu den Erfahrungen des Sommers 2020. Es widerspricht wohl auch den Erwartungen der Regierung in Reykjavik, die im Frühjahr eine grosse Impfkampagne durchgeführt hatte: Zwischen dem 31. März und dem 30. Juni stieg die Impfquote von 13% auf 75%. Trotzdem stiegen einige Wochen später die Fälle sprunghaft an:

Zugegeben, Island ist ein kleines Land mit 356'000 Einwohnern, so dass man versucht sein könnte, seine Erfahrungen als statistisch nicht aussagekräftig abzutun. Andererseits könnten politische Entscheidungsträger in anderen Ländern zum Schluss kommen, dass Island ein «Laborexperiment» zur Bewertung der Wirksamkeit von Impfstoffen durchgeführt hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die unterschiedlichen Ergebnisse in verschiedenen Ländern dazu führen, dass alle möglichen Strategien in der Pandemiebekämpfung durch den Verweis auf unterschiedliche Standorte gerechtfertigt werden können. Länder wie Dänemark, die ihre Wirtschaft wieder öffnen, können auf die Erfahrungen Schwedens verweisen. Sie können argumentieren, dass Covid in Krankenhäusern besser behandelt werden kann und dass ein «Leben mit Covid» möglich ist, da die Gesundheitssysteme nicht Gefahr laufen, überwältigt zu werden.

Die Befürworter einer Nulltoleranz-Politik können dagegen auf Israel oder Island verweisen, dass Impfstoffe offenbar nicht die erhoffte Herdenimmunität bewirken und kein Allheilmittel zur Verhinderung neuer Infektionen sind.

Werden sich also die grossen Volkswirtschaften der Welt angesichts des bevorstehenden Winters dazu entschliessen, «mit Covid zu leben»? Oder wird es in der nördlichen Hemisphäre stattdessen zu weiteren Schliessungen, Versorgungsunterbrüchen und anhaltender wirtschaftlicher Unsicherheit kommen?

Die Antwort auf diese Fragen könnte am Ende von den Wählern gegeben werden.

Umschwung in der öffentlichen Meinung

In der Tat schienen die Wähler in den ersten Phasen der Pandemie Politiker zu unterstützen, die harte Massnahmen gegen Covid versprachen. In Neuseeland wurde die Partei von Jacinda Ardern im Oktober 2020 entschieden wiedergewählt, während in den USA im November 2020 Joe Biden gewann.

Neun Monate später könnte die Begeisterung für die «Covid-Falken» in der Politik jedoch abflauen. Wenn Gavin Newsom als Gouverneur von Kalifornien um sein Amt fürchten muss, oder wenn Justin Trudeau bei den Parlamentswahlen in Kanada am 20. September seinen Posten verliert, könnten andere westliche Politiker zum Schluss kommen, dass ein übertrieben harter Ansatz im Umgang mit Covid kein garantierter Weg zum Wahlerfolg ist.

Wenn man sich in der Welt umschaut, scheint dies der Fall zu sein:

  • Die USA haben sich für ein «Leben mit Covid» entschieden. Sie haben eine höhere Sterblichkeitsrate als die meisten anderen Länder in Kauf genommen, und ihr Gesundheitssystem ist im Grossen und Ganzen nicht zusammengebrochen. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein starker Anstieg sowohl der Infektionen als auch der Todesfälle erforderlich, damit die USA ihren Kurs ändern. Und da die Delta-Welle ihren Höhepunkt erreicht haben könnte, wird es den Demokraten schwer fallen, ihre Politik ein Jahr vor den Zwischenwahlen zu ändern – zumal Bidens Sympathiewerte nach dem Fiasko in Kabul stark gesunken sind. Dies setzt natürlich voraus, dass die neue «Mu-Variante» nicht verheerender ist als ihre Delta-Vorgängerin.
  • In Kanada würde ein Sieg der Konservativen wahrscheinlich Provinzen wie Quebec und British Columbia, die auf «Impfpässe» bestehen, dazu bewegen, ihre Pläne zu überdenken.
  • In Frankreich hat Emmanuel Macron das Argument für seine Wiederwahl im kommenden April damit begründet, dass er ein Covid-Falke ist. Die Proteste gegen die von der Regierung verordneten Covid-Pässe nehmen jedoch weiter zu. Französischen Krankenschwestern, Feuerwehrleuten und anderen Arbeitnehmern, die den Impfstoff verweigern, droht der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Das könnte zu einer Krise führen: Angesichts des derzeitigen Personalmangels ist es unwahrscheinlich, dass Krankenhäuser und Pflegeheime auch nur einen zehnprozentigen Verlust an Arbeitskräften verkraften können.
  • Die skandinavischen Länder haben sich jedenfalls dafür entschieden, mit Covid zu leben, während es in Deutschland unwahrscheinlich ist, dass die Sozialdemokraten ihren wahrscheinlich ersten Wahlsieg seit fast zwei Jahrzehnten am 26. September mit der Ankündigung eines neuen Lockdowns feiern werden.
  • Im Vereinigten Königreich hat Boris Johnson seine Glaubwürdigkeit an die Einführung des Impfstoffs geknüpft, so dass jeder neue Lockdown negative Folgen für Johnson hätte (zumindest wäre dies der Fall, wenn die Labour-Partei halbwegs brauchbar wäre).

In Europa und Nordamerika dürfte der Trend daher zu einem «Leben mit Covid» gehen.

In Asien herrscht Nulltoleranz

In Japan ist die Lage unsicherer. Der Rücktritt von Premier Yoshihide Suga, der wegen «schlechter Covid-Politik» über die Klinge springen musste, eröffnet seinem Nachfolger eine diffizile Situation. Immerhin hat Japan unter den Staaten der G7 im Verhältnis zur Bevölkerung die mit Abstand wenigsten Covid-bedingten Todesfälle zu verzeichnen:

Wenn das Erzielen der besten Ergebnisse der industrialisierten Welt in Japan als Misserfolg gewertet wird, stellt sich die Frage, wie denn ein Erfolg aussehen müsste. Wird sich der nächste Premier veranlasst sehen, das Land beim ersten Hauch der winterlichen Grippesaison abzuriegeln, um sicherzustellen, dass die Zahl der Covid-Todesfälle die von Suga gesetzte niedrige Messlatte nicht übersteigt?

In China muss sich die politische Führung nicht um die Wählergunst sorgen. Sie könnte also an ihrem wirtschaftlich selbstmörderischen «Null-Covid»-Kurs festhalten. Doch Chinas Wirtschaft hat sich deutlich verlangsamt, und sowohl auf dem Immobilienmarkt als auch auf den Märkten für hochverzinsliche Schuldtitel treten Spannungen auf. Die Investitionsausgaben und der Konsum lahmen.

Als Reaktion darauf könnte Peking a) die Geldpolitik lockern, um angeschlagenen Unternehmen eine Atempause zu verschaffen, oder b) die Nulltoleranz-Politik in Bezug auf Covid aufgeben. Die Konjunkturabschwächung und der begrenzte Spielraum für geldpolitische Lockerungen sprechen eigentlich für Variante b). Derzeit gibt es jedoch kaum Anzeichen dafür, dass Peking die Covid-Beschränkungen lockern wird. Schlimmer noch: Das Politbüro könnte der Meinung sein, dass zumindest die Aufrechterhaltung der Reisebeschränkungen bis nach den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking einige kurzfristige wirtschaftliche Schmerzen wert sein könnte.

Big Tech oder Zykliker und Schwellenländer?

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Finanzmärkte?

Die Kombination aus Chinas Konjunkturabschwächung und dem Null-Covid-Ansatz, der im asiatisch-pazifischen Raum zu beobachten ist, ist ein wichtiger Grund, weshalb seit Mai Value-Aktien und zyklische Titel wieder in Rückstand gerieten, während die als antifragil geltenden grossen Tech-Werte der FAAMG-Gruppe wieder gesucht wurden.

Mit Blick auf die nächste Marktphase sehe ich drei Szenarien:

  1. China verlangsamt sich weiter und zieht alle Schwellenländer nach unten. Die chinesischen Behörden begegnen der Verlangsamung mit Zinssenkungen und weisen die Banken an, Kredite zu vergeben. Die Renditen chinesischer Anleihen sinken, der Renminbi steigt nicht weiter an, sondern fällt gar geringfügig gegenüber den wichtigsten Währungen. Das bedeutet, dass China wieder Deflation exportiert. In diesem Szenario haben Rohstoffe zu kämpfen. Der Dollar bleibt fest. US-Wachstumsaktien entwickeln sich weiterhin besser als der Markt.
  2. Chinas Politiker erklären den Sieg über Covid und beginnen, die Beschränkungen zu lockern, bis hin zum Wegfall der internationalen Reisebeschränkungen nach den Winterspielen im Februar. Der Renminbi erholt sich. Die Zinskurven in der ganzen Welt werden steiler. Der Dollar fällt. Rohstoffpreise steigen. Schwellenländer, Finanzwerte und zyklische Aktien entwickeln sich besser als der Gesamtmarkt. Der «Reflation Trade» kehrt zurück.
  3. Statt dass China seine Covid-Beschränkungen aufhebt, führen die USA und/oder Europa sie während der winterlichen Grippesaison wieder ein. Dieses Szenario ist aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich, aber es hat das Potenzial, die Märkte zu erschüttern. In diesem Szenario würde die Verschuldung der westlichen Staaten noch einmal massiv ansteigen, und die Aktienkurse dürften von ihrem hohen Niveau korrigieren. In diesem Szenario wären chinesische Staatsanleihen und Edelmetalle wahrscheinlich das einzige, was man besitzen sollte.

Gegenwärtig arbeitet der Markt mit Szenario 1, während die Wahrscheinlichkeit für Szenario 3 eher gering ist: Nachdem der «Delta-Test» ohne grosse Opferzahlen überstanden wurde, werden die Politiker in den USA und Europa nicht so schnell wieder Bevölkerungsgruppen abriegeln, die zu Protesten neigen – was freilich nur gilt, sofern keine neue, tödlichere Virusversion auftaucht.

Damit bleibt Szenario 2 als mögliche positive Überraschung für die Märkte übrig. Aus heutiger Perspektive würde ich jedoch sagen, dass das frühestens Anfang 2022 der Fall sein wird.

Louis-Vincent Gave

Louis-Vincent Gave ist Gründungspartner und CEO von Gavekal Research, die er gemeinsam mit Charles Gave und Anatole Kaletsky 1999 in London ins Leben gerufen hatte. Im Jahr 2002 verliess er das Londoner Büro und kehrte nach Hongkong zurück, wo er zuvor als Finanzanalyst für Paribas gearbeitet hatte. Louis hat einen Bachelor-Abschluss von der Duke University, und an der Nanjing University hat er Mandarin studiert. Zudem war er Oberleutnant in einem Gebirgsjägerbataillon der französischen Armee.
Louis-Vincent Gave ist Gründungspartner und CEO von Gavekal Research, die er gemeinsam mit Charles Gave und Anatole Kaletsky 1999 in London ins Leben gerufen hatte. Im Jahr 2002 verliess er das Londoner Büro und kehrte nach Hongkong zurück, wo er zuvor als Finanzanalyst für Paribas gearbeitet hatte. Louis hat einen Bachelor-Abschluss von der Duke University, und an der Nanjing University hat er Mandarin studiert. Zudem war er Oberleutnant in einem Gebirgsjägerbataillon der französischen Armee.