Meinung

Das Ende der Panik

Die Phase der Panik ist am 23. März zu Ende gegangen. Nun dürfte eine Bodenbildung mit hohen täglichen Kursschwankungen folgen. Danach wird sich die Hausse unter Führung der Technologie- und Gesundheitswerte fortsetzen.

Alfons Cortés
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In der NZZ vom 27. März erschien unter dem Titel «Finanzmärkte reagieren wie Sandhaufen» ein sehr gut recherchierter Artikel von Patrick Herger. Darin befasst sich der Autor mit komplexen Systemen, beleuchtet insbesondere eine Arbeit von Per Bak und zieht die richtigen Schlüsse – mit Einschränkungen. Und auf diese möchte ich eintreten, weil sie von eminentem praktischem Wert sind.

Die Einsichten aus der Systemtheorie nicht nur von Per Bak, sondern auch von Zeitgenossen wie Professor Didier Sornette, sind sehr wichtig für die Erkennung von in breiten Indizes wie dem S&P erreichten Kursspitzen, die einhergehen mit einer endogenen Struktur, welche den Markt für exogene Schocks öffnet. Banale Nachrichten können einen Kurssturz verursachen, dessen Ausmass in keinem Verhältnis zur Nachrichtenlage steht und nicht berechenbar ist.

Herger schreibt auch, dass Finanzmärkte zu einer besonderen Kategorie von komplexen Systemen gehören, und führt an: «Diese Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf einen Zustand hin entwickeln, bei dem Ereignisse, die sonst unabhängig voneinander sind, plötzlich korreliert sein können.» Andere haben für Systeme, die diesen Zustand erreicht haben, die Metapher verwendet, ein Strohhalm könne den Rücken des Kamels brechen, und wieder andere sprechen vom Flügelschlag eines Schmetterlings über dem Amazonas, der einen Sturm in New York auslöse.

Nun die Einschränkungen:

  1. Mit Hilfe von Physikern entwickelte Konzepte haben in diesem Jahrhundert sowohl die Tops des S&P 500 aus dem Jahr 2000 als auch 2007 erkennen lassen. Als es jedoch darum ging, die Einstiegsignale einfacher markttechnischer Ansätze im März 2003 und im März 2009 zu erkennen und umzusetzen, scheinen sie versagt zu haben. Jedenfalls haben sich ihre Protagonisten damals nicht zu Wort gemeldet. Das liegt meines Erachtens daran, dass sich Marktteilnehmer in Tops ganz anders verhalten als in Bodenbildungen. Die folgenden zwei Beispiele zeigen, was ich meine: Zum Ausgleich des Bärenmarktes im S&P 500 von August 2000 bis März 2003 brauchte besagter Index fünfzig Monate. Zum Aufwiegen der Baisse von Oktober 2007 bis März 2009 vergingen 48 Monate. Mit anderen Worten: Das Abwärtsmomentum ist jeweils höher als das Aufwärtsmomentum, ausser wenn spekulative Blasen entstehen. Das Aufwärtsmomentum dauert jedoch in aller Regel in funktionierenden marktwirtschaftlichen Systemen viele Jahre länger als das Abwärtsmomentum.
  2. Der Ansatz von Per Bak et al differenziert nicht. Der Ansatz geht nur von der Makroebene aus. Dass die Mikroebene keinen Erkenntnisgewinn bringt, ist klar. Der Erkenntnisgewinn kommt von der Meso-Ebene. Die Differenzierung ist entscheidend, weil Sektoren sich sehr oft über Monate einem Bärenmarkt entziehen können. Das trifft sogar auf grössere Korrekturen zu. So betrug der Rückschlag seit Jahresbeginn 18,7% für den S&P 500 und 20,7% für den MSCI Welt. Gleichzeitig haben der MSCI Information Technology 11,6%, der MSCI Healthcare knapp 10,9% und der DJ US Software lediglich 2,7% verloren. Mit anderen Worten: Sektoren, die dem herrschenden Narrativ folgen, das seit Mitte 2007 Schumpeter'sche schöpferische Zerstörung heisst, haben deutlich weniger verloren als die breiten Indizes, und dies, nachdem sie seit Mitte 2007 vielmehr zugelegt haben als alle anderen Sektoren.

Worum es geht

Aus meiner Sicht sind für den langfristigen Erfolg an der Börse – und das heisst für zehn Jahre und mehr – folgende Punkte am Wichtigsten:

  1. Überhaupt einzusteigen, insbesondere an Brennpunkten wie im März 2003 und im März 2009, worauf damals etliche meiner Kolumnen hingewiesen haben. Ansätze, die nur den Ausstieg signalisieren, aber zum Einstieg nichts zu sagen haben, sind für sich alleine wenig hilfreich.
  2. Erst auszusteigen, wenn ein Bärenmarkt begonnen hat, weil sonst die lukrativste Phase, die als spekulative Blasen bekannt ist, verpasst wird.
  3. Korrekturen, die stets gut und gerne 20% bis 30% an Performance kosten können, von Bärenmärkten zu unterscheiden. Schockartige Korrekturen können sehr rasch wieder ausgebügelt werden, und innert Monaten können sich die Trends, die vor der Korrektur bestanden, fortsetzen.
  4. Es geht nicht nur um die praktische Arbeit mit den Erkenntnissen aus der Systemtheorie, sondern es geht auch darum, wichtige Erkenntnisse aus Behavioral Finance zu nutzen. Dazu gehört in aller erster Linie der ganze Fundus zum Thema Narrative, in hervorragender Tiefe recherchiert von Professor und Nobelpreisträger Robert Shiller.

Ist diesmal alles anders?

Als Antwort würde ich sagen: Für mich ja, ein pandemisches Ereignis wie das aktuelle habe ich in meinen 49 Börsenjahren nicht erlebt.

Abstrahiert man von der Pandemie auf das Wesentliche, nämlich die Unmöglichkeit des Festnagelns bestimmter Eckwerte, so gibt es in der Geschichte der Börsen durchaus Analogien. Diese hat Barton Biggs, der von 1996 bis 2003 von den Lesern des Magazins «Institutional Investor» zum «Top Global Strategist» gewählt wurde, in seinem 2007 erschienenen Buch «Wealth, War and Wisdom» in ganz hervorragender Weise für die Zeit ab 1929 aufgearbeitet.

Daraus kann man entnehmen, dass die untersuchten Märkte mit ganz wenigen Ausnahmen – wie der französischen Börse – in dunkelsten Zeiten des Kriegsgeschehens wie Phönix aus der Asche aus Tiefstmarken aufgestiegen und günstigere Entwicklungen des Krieges mit deutlichen Kursavancen vorweggenommen haben. Auf Seite 332 des 333-seitigen Buches, in welchem er das Verhalten von unbebautem Land, Immobilien, Gold, Obligationen und Aktien in Krisen beschreibt, die einiges erschreckender und verheerender waren als die aktuelle Pandemie, kommt er zum Schluss: «In my considered but not necessarily correct opinion, a family or individual should have 75% of its wealth in equity investments.»

So schätze ich die Lage ein

Aus meiner Sicht ist die Panikphase am 23. März zu Ende gegangen. Was jetzt folgt, bezeichneten die legendären Markttechniker Harry Laubscher, Justin Mamis und Alan Shaw als «backing and filling». Gemeint sind tägliche Kurssprünge in beide Richtungen, ohne dass sich von Woche zu Woche noch allzu viel bewegt. Das ist der Ansatz einer Bodenbildung, aus welcher zu einem etwas späteren Zeitpunkt wahrscheinlich Kurserholungen einsetzen. Diese dürften vorübergehend besonders gebeutelte Sektoren und Industrien begünstigen. Auf mittlere Frist werden Information Technology und Healthcare die herausragenden Sektoren bleiben.

Wichtig bleibt zu beobachten, wie die Kurse auf Nachrichten reagieren. Eher positiv wäre, wenn die Kurse auf sich verdüsternde Konjunkturprognosen nur ganz kurz abrutschen, um sich danach gleich wieder zu erholen. Das wäre das Signal, dass man den Auguren nicht wirklich Glauben schenkt.

Auch dazu hat Barton Biggs etwas zu sagen. Mit Rückgriff auf Isaiah Berlin unterscheidet er zwischen Igel und Füchsen: Igel wissen viel über wenig, Füchse wenig über viel. Anleger müssen Füchse sein, nicht Igel. Man soll sich mit der Wissenschaft beschäftigen. Wissenschaft ist reduktionistisch. Wir Anleger müssen uns bücken, die reduzierten Einzelteile aufheben und das, was zusammenpasst, zu einem kongruenten Bild zusammenfügen – zu einem Narrativ.

So ähnlich sieht es auch Robert Hagstrom in seinem ausgezeichneten Buch «Investing: The Last Liberal Art», in welchem er sich für ein Netzwerk aus mehreren Disziplinen stark macht. Es ist äusserst lesenswert!

Alfons Cortés

Alfons Cortés ist seit März 1971 professionell an der Börse unterwegs. Bis Juni 2017 war er Geschäftsführender Partner von UnifinanzTrust reg., Vaduz. Seit Juli 2017 ist er Senior Partner im Unternehmen und für den Bereich Research zuständig. Diesem hat er von Anbeginn seiner Tätigkeit an besonderes Augenmerk zukommen lassen. Daraus erwuchs die prominente Position des Unternehmens in der Anwendung von Behavioral-, Neuro- und Evolutionary Finance. Cortés hat nicht nur als Vermögensverwalter und Analyst, sondern auch als Mitglied von Anlageausschüssen institutioneller Anleger über Jahrzehnte Erfahrungen mit den Finanzmärkten gesammelt. Er schreibt jeden zweiten Donnerstag eine Kolumne für The Market.
Alfons Cortés ist seit März 1971 professionell an der Börse unterwegs. Bis Juni 2017 war er Geschäftsführender Partner von UnifinanzTrust reg., Vaduz. Seit Juli 2017 ist er Senior Partner im Unternehmen und für den Bereich Research zuständig. Diesem hat er von Anbeginn seiner Tätigkeit an besonderes Augenmerk zukommen lassen. Daraus erwuchs die prominente Position des Unternehmens in der Anwendung von Behavioral-, Neuro- und Evolutionary Finance. Cortés hat nicht nur als Vermögensverwalter und Analyst, sondern auch als Mitglied von Anlageausschüssen institutioneller Anleger über Jahrzehnte Erfahrungen mit den Finanzmärkten gesammelt. Er schreibt jeden zweiten Donnerstag eine Kolumne für The Market.