Meinung

Das europäische Wirtschaftsmodell braucht dringend ein Update

Europa droht den Anschluss an wichtige Zukunftsmärkte zu verlieren. Wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten ein attraktiver Standort bleiben wollen, müssen sie ihr Geschäftsmodell für die Welt von morgen neu ausrichten.

Heinz-Werner Rapp
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Die jüngsten Krisen haben die Schwachstellen Europas schonungslos offengelegt. Es fehlt auf nahezu allen wichtigen Politikfeldern erkennbar an strategischer Souveränität und institutioneller Geschwindigkeit. Besonders die Frage, wie sich die EU zwischen den beiden Hegemonialmächten USA und China handels-, industrie- und sicherheitspolitisch positionieren will, gewinnt zunehmend an Brisanz.

Europa hat spätestens mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges bemerkt, dass seine bisherige komfortable Position – eingebettet in einen freien Welthandel, nur den eigenen Werten verpflichtet und weitgehend unbehelligt von geopolitischen Friktionen – in Zukunft nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Die Zeit, in der Europa das Beste aus beiden Welten haben konnte, Sicherheit aus den USA und Exportgewinne aus China sowie zusätzlich noch billige Energie aus Russland, ist nun vorbei.

Bislang scheint Europa auf dieses grundlegende Problem noch keine wirklich überzeugende Antwort gefunden zu haben. Dies erhöht aus Sicht vieler Unternehmer und Investoren die Risiken einer langfristigen Bindung an Europa. Die unübersichtliche geopolitische Situation ist Teil der komplexen globalen Herausforderungen, denen die EU gegenübersteht. Handlungsbedarf besteht bei allen wirtschaftlich relevanten Themen, angefangen bei der Gestaltung der Handelsbeziehungen bis hin zur Sicherheit der europäischen IT- und Energieinfrastruktur (vgl. Grafik).

Quelle: Feri

Schwache Position im neuen geopolitischen Machtgefüge

Europas Wettbewerbsfähigkeit wird seit geraumer Zeit vor allem durch den globalen Trend zur Fragmentierung des Welthandels geschwächt. Die exportorientierte Wirtschaft Europas hat in den vergangenen Jahrzehnten besonders stark von der Globalisierung profitiert. Doch nach einigen Dekaden fast stetig zunehmender Handelsintegration hat die Intensität des grenzüberschreitenden Güterhandels in den letzten zehn Jahren nachgelassen.

Parallel ist die Zahl protektionistischer Massnahmen, insbesondere in Form nicht-tarifärer Handelsbeschränkungen, weltweit deutlich gestiegen. Die Wirtschaftsmächte USA und China grenzen sich immer stärker voneinander ab – nicht nur, um die heimische Wertschöpfung zu sichern, sondern auch, um eine strategische Vormachtstellung entlang ihrer Lieferketten aufzubauen. Europa ist noch dabei, seinen Platz in dieser neuen handelspolitischen Tektonik zu suchen und droht zwischen den sich verhärtenden Blöcken zerrieben zu werden.

Die zunehmende Spaltung der Weltwirtschaft in zwei Hemisphären hat zudem den Wettlauf um die Marktführerschaft bei Zukunftstechnologien deutlich verschärft. Spätestens seit dem Beschluss des «US Inflation Reduction Act» ist klargeworden, dass auch liberale Volkswirtschaften nicht davor zurückschrecken, heimische Kapazitäten mittels massiver staatlicher Subventionierung aufzubauen. China und andere Schwellenländer verfolgen ohnehin schon seit längerer Zeit technologiespezifische Wachstumsziele und setzen dafür hohe Investitionen ein. Die EU-Staaten haben hierauf bislang keine gemeinsame strategische Antwort entwickelt, weder was die Entwicklung eigener komparativer Vorteile noch Art und Umfang staatlicher Förderung anbelangt.

Zwei eindeutige Indizien für die schwache Position Europas im Wettlauf um technologische Führerschaft sind die hohe Abhängigkeit bei der Versorgung mit kritischen Mineralrohstoffen sowie das Fehlen einer eigenständigen europäischen KI-Industrie und -Infrastruktur. Rohstoffe wie Lithium, Kobalt und Seltene Erden sind wesentliche Bestandteile für den Bau von Windrädern, Solaranlagen oder E-Autos und daher unverzichtbar für die grüne Transformation der Wirtschaft. Ihr Abbau und die Verhüttung konzentrieren sich auf wenige Länder, allen voran auf China. Die chinesische Führung hat bereits signalisiert, dass sie sich in Zukunft Eingriffe in die freie Handelbarkeit solcher «kritischen» Rohstoffe vorbehält.

Beim Megatrend Künstliche Intelligenz hinkt Europa hinter den USA und China weit hinterher. Die beiden Supermächte haben allein aufgrund der Menge an Daten, Rechenressourcen und Talenten, die für die Entwicklung dieser Systeme erforderlich sind, einen fast uneinholbaren Vorsprung. Europäische Unternehmen werden daher auch weiterhin von Systemen und Datensätzen abhängen, die in konkurrierenden Wirtschaftsregionen entwickelt werden.

Im Umgang mit China braucht es eine angemessene Risiko-Strategie

Um Europas Werte und Wohlstand in der neuen Weltordnung auch zukünftig zu sichern, muss die EU schnell eine übergreifende europäische Zukunftsstrategie entwickeln. Ausgehend von einer klaren und offenen Analyse der Risiken in den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sollte die EU ein ganzheitliches Risikomanagement etablieren.

Das erfordert intern die Bereitschaft zur Ressourcenbündelung und -kooperation. Dabei geht es jedoch nicht um Risikoreduktion durch Abschottung. Denn Wohlstandssicherung setzt für Europa voraus, auch zukünftig an den Vorzügen der internationalen Arbeitsteilung wie Spezialisierung und Ressourcenzugang teilhaben zu können. Die damit verbundenen externen Risiken sollten jedoch gesenkt werden. Das erfordert wirtschaftlich wie regulatorisch die vertiefte Kooperation mit verlässlichen Partnern, um unter dem Dach gemeinsamer Handels- und Wettbewerbsregeln den Zugang zu Innovation und Zukunftsressourcen zu sichern.

Um die strategische Autonomie der EU zu wahren und die Tendenz zur Blockbildung nicht zusätzlich zu befeuern, sollten Allianzen möglichst pragmatisch-sachbezogen und in themenabhängig wechselnden Konstellationen angegangen werden. Aus demselben Grund sollte die EU auch von einer Politik der generellen Entkopplung von China absehen. Die Aussenwirtschaftsbeziehungen sollten vielmehr nach dem Prinzip eines zielgerichteten «De-Risking» unter dem nüchternen Gesichtspunkt des Risiko-Rendite-Verhältnisses betrachtet werden.

Die EU muss einig und entschlossen auftreten

Grundsätzlich kann Europa im globalen Wettbewerb nur bestehen, wenn die Mitgliedstaaten in strategischen Fragen an einem Strang ziehen. Momentan erschweren jedoch zahlreiche hausgemachte Strukturprobleme eine bessere EU-interne Kooperation.

Die offen ausgetragenen Dauerkonflikte zwischen der EU und «problematischen» Mitgliedern wie Polen und Ungarn sind insofern besorgniserregend. Denn hier geht es längst nicht mehr nur um wirtschaftliche Interessengegensätze, sondern um Grundfeste der EU, sowohl hinsichtlich der Verteilung der Entscheidungskompetenzen zwischen Brüssel und der nationalen Ebene als auch der Natur der Grundrechte der EU-Bevölkerung.

Zum anderen bedarf es zukünftig mehr denn je eines funktionierenden Binnenmarkts als Instrument der Entwicklung und Selektion von Zukunftslösungen «Made in Europe» durch wettbewerbliche Erkundung. Auch dafür müssen in einem sich technologisch radikal verändernden Umfeld die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das beginnt beim Aufbau einer neuen Energieinfrastruktur und endet bei Abstimmungen zu KI-Regeln.

Deutschland kommt als Schlüsselakteur in den industriellen Wertschöpfungsketten dabei eine besondere Verantwortung zu. In strategischen Fragen sollte die Bundesregierung Kompromissfähigkeit zeigen und Alleingänge vermeiden. Zugleich sollte sie ihr Gewicht dafür in die Waagschale werfen, dass auch künftig ein regelbasierter Binnenhandel die Produktivkräfte lenkt und kein Subventionswettrüsten zwischen den Mitgliedstaaten einsetzt.

Unternehmer und Investoren schauen genau hin

Dass Europa, und insbesondere Deutschland, auf den Ranglisten langfristig orientierter Investoren und Unternehmer bei vielen kritischen Standortfaktoren immer weiter zurückfällt, stellt der Arbeit der EU ein verheerendes Zeugnis aus.

Europas bisheriges «Geschäftsmodell» steht unter Druck und benötigt dringend ein Update. Wenn die EU im industriepolitischen und technologischen Wettlauf mit den USA und China nicht den Anschluss verlieren will, muss sie Entschlossenheit und Mut für neue Ideen aufbringen, die nicht nur zukunftsgerichtet und lösungsorientiert sind, sondern in einer zunehmend konfliktgeladenen Welt auch der Realität standhalten. Damit das Vertrauen von Investoren und Unternehmern wieder zurückgewonnen werden kann, müssen die offensichtlichen Strategiedefizite auf zentralen Politikfeldern überwunden werden.

Dieser Artikel basiert in Teilen auf einer aktuellen Studie mit dem Titel «Quo Vadis, Europa? Globale Herausforderungen, Interne Defizite, Handlungsaufträge», die das Feri Cognitive Finance Institute in Kooperation mit dem CEP, Centrum für Europäische Politik, erstellt hat.

Heinz-Werner Rapp

Dr. Heinz-Werner Rapp ist Vorstand beim unabhängigen Multi Asset-Investmenthaus FERI mit Standorten in Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz und war von 2006 bis 2023 CIO der FERI-Gruppe. 2016 gründete er das FERI Cognitive Finance Institute als strategisches Forschungszentrum und kreative Denkfabrik der FERI-Gruppe. Seine aktuellen Interessen- und Analyseschwerpunkte sind Komplexitätstheorie, progressive Trends sowie systemische Risiken als Folge weltweit exzessiver Notenbankpolitik. Rapp hat an der Universität Mannheim Wirtschafts- und Rechtswissenschaften studiert und 1994 dort über psychologisch geprägtes Anlegerverhalten promoviert.
Dr. Heinz-Werner Rapp ist Vorstand beim unabhängigen Multi Asset-Investmenthaus FERI mit Standorten in Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz und war von 2006 bis 2023 CIO der FERI-Gruppe. 2016 gründete er das FERI Cognitive Finance Institute als strategisches Forschungszentrum und kreative Denkfabrik der FERI-Gruppe. Seine aktuellen Interessen- und Analyseschwerpunkte sind Komplexitätstheorie, progressive Trends sowie systemische Risiken als Folge weltweit exzessiver Notenbankpolitik. Rapp hat an der Universität Mannheim Wirtschafts- und Rechtswissenschaften studiert und 1994 dort über psychologisch geprägtes Anlegerverhalten promoviert.