Die klassische Geldtheorie kann nicht erklären, weshalb trotz einer signifikanten Ausweitung der Zentralbankbilanzen keine Inflation entsteht. Das ebnet den Boden für eine Theorie, die zu verlockend klingt, um wahr zu sein.
Die Modern Monetary Theory (MMT) ist unter Ökonomen das momentan wohl am heissesten diskutierte Thema. Dabei handelt es sich aber weniger um einen neuen geldtheoretischen Denkansatz als vielmehr um ein populistisches Narrativ zur Erklärung wirtschaftlicher Phänomene, für die die traditionelle Ökonomie keine vernünftige Erklärung zu haben scheint.
Dass linke Kreise innerhalb der Demokratischen Partei in den USA daraus eine Heilslehre gemacht haben, zeigt, dass im politischen Prozess der Gegenwart populistische Erzählungen mehr wert sind als fundierte wissenschaftliche Analysen.
Viele orthodoxe Ansätze der Wirtschaftstheorie haben keine gute Erklärung für das Phänomen Geld und dessen Rolle in einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Man hängt immer noch dem Gedanken nach, Kredite würden dann entstehen, wenn Spareinlagen der Haushalte durch das Bankensystem als Intermediär mit Fristentransformation gesprochen würden.
Die Rolle der Zentralbank besteht in solchen Modellen darin, das Niveau der Zinsen so festzulegen, dass der beschriebene Prozess zu einem gleichgewichtigen und inflationsneutralen Wachstum führt. Doch dieser Erklärungsansatz greift viel zu kurz.
Selbstverständlich dient die Quantitätsgleichung des Geldes nach wie vor dazu, die Phänomene der monetären Wirtschaft darzustellen:
M × V = P × Y
Dabei bezeichnet M die Geldmenge (bestehend aus Bargeld und Bankeinlagen) der Volkswirtschaft, V die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (das heisst, wie oft die Geldmenge umgeschlagen wird), P das Preisniveau und Y das reale Bruttoinlandprodukt.
Die Quantitätsgleichung beschreibt das Verhältnis zwischen den Zahlungsmitteln und den Gütern innerhalb einer Volkswirtschaft. Die linke Seite der Gleichung zeigt die Gesamtnachfrage nach Geld, die rechte Seite das Angebot verfügbarer Güter mit den dazugehörigen Preisen. Beide Seiten müssen identisch sein. Eine weitere Kernaussage der Quantitätsgleichung ist, dass das Preisniveau (die Inflationsrate) längerfristig durch die Geldmenge (bzw. ihre Wachstumsrate) bestimmt wird, da die Umlaufgeschwindigkeit normalerweise stabil ist und das Angebot an Gütern eine obere Grenze hat, die durch Anzahl Arbeitskräfte und vorhandene Technologie bestimmt wird.
Es gilt also: Die Veränderung der Geldmenge, die über das Wirtschaftswachstum hinausgeht, entspricht längerfristig in etwa der Inflationsrate.
So weit die klassische Geldtheorie.
Dieser Theorie stehen jedoch die Tatsachen der letzten zehn Jahre gegenüber:
Es ist offensichtlich, dass die massive Ausweitung der Bilanzsumme der Schweizerischen Nationalbank – sie hat sich seit 2008 mehr als versechsfacht, vgl. Grafik – nicht zu einer signifikanten Erhöhung der Inflation geführt hat.
Das liegt zum einen daran, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (V) seit der Finanzkrise markant zurückgegangen ist – die Gründe dafür sind Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Der zweite Grund liegt in der Tatsache, dass die «inflationstreibende» monetäre Grösse nicht die Bilanzsumme der Zentralbank ist, sondern ein Geldmengenaggregat wie z.B. M2, das sich wesentlich weniger bewegt hat als die Bilanzsumme (vgl. blaue Kurve in der Grafik).
Das Dilemma bleibt: Nach allen Annahmen der klassischen Geldtheorie müsste die Geldpolitik der vergangenen Jahre zu Inflation führen. Doch das geschieht nicht. Die klassische Ökonomie hat keine Erklärung.
In einem solchen Erklärungsnotstand machen sich Heilslehren wie die Modern Monetary Theory immer gut. Tatsächlich kann der Denkansatz der MMT einige der Phänomene, die wir gegenwärtig erleben, abbilden: Zentralbanken, die Staatsdefizite finanzieren und Obligationen aufkaufen, eine Konjunktur, die – besonders in den USA – brummt, relativ niedrige Arbeitslosenzahlen, niedrige Konsumentenpreisinflation und historische Tiefstzinsen.
Was sind nun die wichtigsten Elemente der MMT? Zunächst einmal wird betont, dass staatliche Verschuldung nicht per se schlecht ist, sondern gleichzeitig ja auch Volksvermögen darstellt. Und je grösser die staatliche Verschuldung ist, desto höher ist auch das Volksvermögen.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass der moderne Staat, bestehend aus Regierung und Zentralbank, unbegrenzt Ausgaben tätigen und durch Schuldpapiere mit Nullzins finanzieren kann, die durch die Zentralbank gekauft werden. Dies kann in beliebigem Ausmass geschehen, solange die Regierung es in eigener Währung tut. Ein Staat mit einer eigenen Zentralbank und der Möglichkeit, sich in seiner eigenen Währung zu verschulden, kann definitionsgemäss nicht bankrottgehen. Allerdings wird empfohlen, diese Politik ausschliesslich zur Erreichung von Vollbeschäftigung zu verfolgen.
Mit anderen Worten: Man konsolidiert die Bilanz von Zentralbank und Staat, die Politik definiert die notwendigen fiskalischen Massnahmen zur Erreichung von Vollbeschäftigung und finanziert sie in beliebigem Ausmass über die Notenpresse. Sollte dieser Prozess, so die Argumentation, zu einer «zu heissen» Wirtschaftsaktivität und Inflation führen, würden Steuern erhoben, die dem privaten Sektor Kaufkraft entziehen, womit die Inflationsdynamik reduziert würde. Brave New World.
Haben wir diese Argumente nicht auch schon gehört? Die zentrale Planungsstelle, die weiss, welche Projekte zu fördern sind, um Vollbeschäftigung zu erreichen, und die dann auch genau weiss, welche Steuern gegebenenfalls wie zu erheben sind, um die Inflationsdynamik zu bremsen.
Selbstverständlich, das klingt gut. Aber die Argumente der MMT blenden alle Erkenntnisse der Historie, der politischen Ökonomie und der Verhaltensökonomie aus, die uns zeigen, dass weder allwissende zentrale Planungsstellen noch alle Akteure in einer Volkswirtschaft so funktionieren, wie man es auf dem Reissbrett von ihnen erwartet.
Diese Annahmen werden der Komplexität der wechselseitigen, adaptiven Abläufe in einer Volkswirtschaft niemals gerecht.
Der Versuch, durch Gelddrucken Staatsausgaben zu finanzieren, wurde schon mehrmals durchgespielt. Es grüssen: die Weimarer Republik, das frühere Jugoslawien, Argentinien, Venezuela und Simbabwe, um nur einige zu nennen. In allen Fällen kam es zu einer Hyperinflation und zu einem Kollaps der Währung.
In Japan experimentieren Staat und Zentralbank schon seit einigen Jahren mit Elementen der MMT. Es stimmt, Japan hat bisher keine zu hohen Inflationsraten erlebt, und das Ziel Vollbeschäftigung wurde erreicht. Dennoch leidet das Land seit mehr als zwanzig Jahren unter wirtschaftlicher Anämie.
Eine Zusammenfassung der möglichen unerwünschten Konsequenzen einer MMT-Politik:
Aus dieser Analyse wird deutlich: Auch die Modern Monetary Theory wird wirtschaftliche Strukturprobleme wie niedriges Wachstum (ist das wirklich ein Strukturproblem?), hohe Schulden und wachsende Ungleichheit nicht lösen können.
Die Geldpolitik ist das Schmiermittel der Volkswirtschaft, kann aber weder die Leistungsfähigkeit dauerhaft erhöhen noch Strukturprobleme beheben. Eine Rückkehr zu einem planwirtschaftlichen Wirtschaftssystem ist nicht die Lösung.