Meinung

Tektonische Verschiebungen an den Devisenmärkten

2022 war von Erschütterungen an den globalen Finanzmärkten geprägt. Das gilt auch im Devisenhandel, wo die Dominanz des Dollars den Zenit überschritten haben dürfte. Auf diese Entwicklungen sollten Investoren im neuen Jahr achten.

Marc Chandler
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Die Hausse des amerikanischen Dollars scheint mit dem Übergang vom dritten Quartal zum vierten Quartal den Höhepunkt erreicht zu haben. In den letzten drei Monaten des Jahres 2022 legten fast alle Währungen der G10-Staaten mit Ausnahme des kanadischen Dollars mehr als 5% gegenüber dem Greenback zu. Sechs der G10-Währungen werteten sich mehr als 7,5% auf.

Auf solche markanten Verschiebungen folgen oft Phasen der Konsolidierung und Gegentrends. Solche gegenläufigen Bewegungen können eine Gelegenheit zur Anpassung von Positionen an den Devisenmärkten bieten.

Drei zentrale Faktoren sind für die Abschwächung des Dollars verantwortlich, dessen Bewertung nach dem OECD-Standard zur Kaufkraftparität ein historisch hohes Niveau erreicht hatte. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, besteht das Grundkonzept des OECD-Standards darin, dass ein Korb international gehandelter Waren überall gleichviel kosten sollte, wenn man den Preis um Wechselkurse adjustiert.

Ist dies nicht der Fall, reflektiert die Abweichung eine Über- oder Unterbewertung der betreffenden Valuta. In der Regel weichen OECD-Währungen nicht wesentlich mehr als plus/minus 20% von ihrem fairen Wert ab. Im dritten Quartal 2022 waren der Euro und der Yen zum Dollar jedoch um mehr als 45% unterbewertet, und das britische Pfund lag um mehr als 25% unter dem fairen Wert.

EZB eilt dem Fed hinterher

Der erste dieser drei Faktoren war die drastische Erholung des Pfunds. Die Rückkehr der Regierung in London zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik wurde durch den Rücktritt von Premierministerin Liz Truss eingeleitet. In der Folge sagten die Kapitalmärkte den Streik gegen das von Truss angekündigte Konjunkturprogramm mit umfangreichen Steuersenkungen ohne gedeckte Finanzierung ab. Im Zug eines Short Squeeze kam es zu einer massiven Rally, in der das Pfund in weniger als zwei Wochen nach dem Abtritt von Truss über 10% zulegte.

Zweitens gewannen die Märkte an Zuversicht, dass die Inflation in den USA den Zenit überschritten hat und die US-Notenbank den Leitzins in diesem Zyklus auf maximal rund 5% erhöhen wird. Der Mitte Dezember vom Federal Reserve veröffentlichte Konjunkturausblick bestätigte diese Einschätzung. Im Schnitt rechnen die Fed-Mitglieder damit, dass der Leitzins nächstes Jahr auf 5,1% steigt.

Rückblickend wurde die kräftige Avance des Dollars im vergangenen Jahr wohl unverhältnismässig stark durch die Anpassung der Erwartungen an einen zunehmend höheren Leitzins angeheizt. Obschon mehrere Mitglieder aus dem Fed-Gremium momentan dagegenhalten, indizieren die Terminmärkte, dass die US-Notenbank im vierten Quartal 2024 eine erste Zinssenkung vollzieht.

Drittens wurde die Europäische Zentralbank zunehmend hawkish, nachdem sie ihren Zyklus von Zinserhöhungen zu spät eingeleitet hatte. Der Konsens erwartet, dass der Straffungszyklus der EZB im Vergleich zum Federal Reserve länger anhalten und erst Mitte 2023 den Zenit erreichen wird. Dies reflektiert sich bis zu einem gewissen Grad in der Renditedifferenz zwischen zweijährigen Anleihen aus den USA und aus Deutschland.

Bei Bannockburn Global Forex gingen wir davon aus, dass die Prämie amerikanischer Treasuries mit zweijähriger Laufzeit gegenüber dem deutschen Pendant den Peak erreichen würde, bevor die Dollarhausse den Höhepunkt markiert. Die Renditedifferenz weitete sich Anfang August mit 277 Basispunkten auf den höchsten Stand seit drei Jahren aus. Danach tendierte sie nach unten und fiel Mitte Dezember auf weniger als 175 Basispunkte. Wechselkurse reagieren dabei oft sensibler auf den Richtungswechsel eines Trends und auf das Tempo der Veränderung als auf absolute Werte.

Bank of Japan schockt die Märkte

Unserer Ansicht nach ist es kein Zufall, dass die Rendite auf zehnjährige US-Staatsanleihen den Zenit mit 4,33% am selben Tag erreichte, als der Dollar das Höchst gegenüber dem Yen mit 151.95 ¥/$ markierte, nämlich am 21. Oktober. Als sich die Bank of Japan dann Ende Oktober zu ihrer Sitzung traf, festigte sich die Rendite auf zehnjährige Treasuries, nachdem sie temporär auf 3,4% gefallen war. Und der Dollar bewegte sich in einer mehrwöchigen Schwankungsbreite von etwa 134 bis 138 ¥/$ seitwärts.

Dann dehnte die Bank of Japan am 20. Dezember überraschend das Zielband ihrer Zinskurvenkontrolle aus, sodass die Rendite auf zehnjährige japanische Staatsanleihen neu plus/minus 50 Basispunkte von 0% abweichen kann. Die Rendite schnellte daraufhin in die Höhe und näherte sich der neuen Obergrenze von 0,5%. Offensichtlich messen die Marktteilnehmer und die Finanzmedien dieser Erhöhung der Obergrenze mehr Bedeutung zu als der gleichzeitig angekündigten Ausweitung der Käufe von Staatsanleihen durch die japanische Zentralbank.

Mit Blick auf 2023 dürften die meisten Zentralbanken der G10-Staaten den Zyklus der Zinserhöhungen gegen Mitte Jahr abschliessen. Der Abbau ihrer Bilanzen hingegen könnte länger dauern. Schwierig abzuschätzen ist, wie gross die Reserven der Zentralbank letztlich sein müssen, damit das Finanzsystem störungsfrei funktionieren kann. Wir vermuten, dass dieses Niveau erst dann ersichtlich wird, wenn es im System zu Stress kommt.

Geopolitische Spannungen halten an

China hat eine dramatische Abkehr von der Null-Covid-Politik vollzogen. Der rasche Anstieg der Infektionen und Todesfälle birgt die Gefahr, dass das Wachstum und möglicherweise auch die Lieferketten erneut gestört werden. Die Märkte erwarten, dass die Regierung in Peking nach der ausgesprochen schwachen Konjunkturentwicklung im vergangenen Jahr eine wachstumsfreundlichere Politik verfolgen wird.

Weitere Spannungen zwischen China und den USA könnten aufflammen, wenn die neue Führung des US-Repräsentantenhauses darauf besteht, Taiwan zu besuchen. Wir sind etwas skeptisch, was die Möglichkeiten der USA betrifft, China weitere Fortschritte in der Halbleitertechnologie zu verweigern. Dies, selbst wenn sich Japan und die Niederlande den amerikanischen Sanktionen anschliessen. Ein Beispiel dazu sind die vergeblichen Bemühungen Washingtons, andere Länder an der Entwicklung der Nukleartechnologie zu hindern, wie im Fall von Nordkorea und dem Iran.

China ist bereits heute in der Lage, Computerchips mit einer Strukturgrösse von 14 Nanometern massenweise zu fabrizieren. Es ist gut denkbar, dass der Volksrepublik auf Grundlage dieses Know-how der nächste Schritt zum 7-Nanometer-Prozess gelingt, der eine Stufe hinter der aktuellen Spitzentechnologie in Taiwan und Südkorea liegt.

Peking wird die Subventionen für den Chipsektor erhöhen. Beachtenswert ist diesbezüglich, dass der CHIPS Act in den USA rund 52 Mrd. $ für die staatliche Unterstützung der amerikanischen Halbleiterindustrie vorsieht. Berichten zufolge bereitet Peking gegenwärtig ein neues Paket im Umfang von 1 Bio. Yuan (rund 144 Mrd. $) vor, um die heimische Chipfabrikation zu beschleunigen. Ausserdem macht China dank der Akkumulation enormer Datenmengen rasche Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz und dürfte in diesem Bereich weiterhin eine Führungsrolle einnehmen.

Aufrüstung in Europa und Japan

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat geopolitische und wirtschaftliche Auswirkungen, die man in Moskau, Washington, Brüssel, Peking oder Tokio wohl kaum für möglich gehalten hätte. Russlands Image als militärische Grossmacht hat einen Dämpfer erlitten. Die Ukraine wird vermutlich weiterhin über das Potenzial verfügen, Raketenangriffe auf russisches Staatsgebiet zu lancieren, auch wenn die ukrainische Bevölkerung dafür einen hohen Preis zahlen müsste.

Ironischerweise ist es eine Fraktion der republikanischen Parteiführung in Washington, welche die anhaltende militärische Unterstützung der USA für Kiew kritisiert. Derweil ist der Nato-Verbund grösser geworden und wird eine stärkere Präsenz in Europa demonstrieren.

Weil die europäischen Länder, speziell Deutschland, ihren Etat für Verteidigungsausgaben erhöhen, werden sie sich dafür an die US-Rüstungsindustrie wenden. Amerika wird auch einen Teil der Gaslieferungen ersetzen, die Europa bisher aus Russland bezogen hat.

Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine stärkt die Kräfte in Europa, die nicht oder nicht mehr daran glauben, dass man durch Handel eine Liberalisierung totalitärer Regime fördern kann. Dazu zählt auch China. Ausserdem haben der Krieg in der Ukraine und Chinas konfrontative sowie angriffslustige «Wolf Warrior»-Diplomatie im asiatisch-pazifischen Raum dazu geführt, dass Tokio die Militärausgaben erhöht.

Die militärische Aufrüstung Japans war bereits seit einer Generation ein Bestreben in der Führung der konservativen liberaldemokratischen Regierungspartei. Konkret will Tokio die Ausgaben für Rüstung auf 2% des Bruttoinlandprodukts erhöhen und sich Waffensysteme für einen militärischen Gegenschlag verschaffen.

Rückkehr zu «Great Moderation»?

Was die Aussichten zur Konjunktur anbelangt, halten viele Marktteilnehmer eine Stagflation angesichts des hohen Preisdrucks und der schwachen Wachstumsimpulse für das wahrscheinlichste Szenario in neuen Jahr. Unserer Meinung nach fragt sich jedoch, ob hier nicht eine Momentaufnahme mit einem Film verwechselt wird.

Es wird zwar nicht gerne gesagt. Auf mittlere Sicht rechnen wir aber eher mit einer Rückkehr zur «Great Moderation». Ein solches Umfeld mit langsamem Wachstum und niedrigem Inflationsdruck hat die Volkswirtschaften der G10-Staaten vor den Systemschocks der letzten Jahre geprägt.

Investoren und Medien nehmen zyklische Trends jedoch häufig als strukturelle Gegebenheiten wahr. Wenn wir mit unserer Einschätzung richtig liegen, dann wird die Inflation in den kommenden Quartalen tendenziell sinken, sofern es nicht zu einem erneuten Schock kommt. Das Tempo des rückläufigen Trends könnte sich ab Mitte 2023 sogar beschleunigen.

Für die flacheren und längeren Konjunkturzyklen, die mit der «Great Moderation» einhergehen, waren in der Vergangenheit mehrere Ursachen verantwortlich. Dazu gehören die zunehmende Bedeutung des weniger zyklischen Dienstleistungssektors, der Umstand, dass Anpassungen an Lebenshaltungskosten weniger in Arbeitsverträgen berücksichtigt wurden, die effizientere Bewirtschaftung von Lagerbeständen sowie die Globalisierung.

In der Berichterstattung der Massenmedien erscheint es so, als ob die Globalisierung das schwache Glied in dieser Kette von Argumenten sei. Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September wird uns gesagt, die Globalisierung sei am Ende. Das ist nicht der Fall.

Trends wie «Nearshoring» und «Friendshoring» führen sicherlich dazu, dass Teile von Lieferketten verlagert werden. Auch können protektionistische Massnahmen ausländische Direktinvestitionen anstelle von Exporten begünstigen. Dank der Automatisierung und anderer technologischer Fortschritte besteht jedoch weiterhin Spielraum für Effizienzverbesserungen in der Produktion und Preisfindung.

Eine Konsequenz davon ist, dass die gegenwärtige Anspannung auf dem Arbeitsmarkt in den G10-Ländern davon ablenken könnte, dass in Zukunft vermutlich eher ein Mangel an Arbeitsplätzen besteht. Hierbei geht es uns aber nicht darum, das Argument zu wiederholen, dass repetitive Arbeiten in Fabriken durch Automatisierung ersetzt werden. Vielmehr wird sich der technologische Fortschritt auch auf die Landwirtschaft, die Arbeit im Büro und die wichtigsten Berufe im Dienstleistungssektor auswirken.

Aus einer kurzfristigeren Perspektive lenkt der Fokus auf Knappheiten auch in anderer Hinsicht ab. Die Tatsache, dass die Löhne nicht mit der Inflation Schritt halten, bedeutet, dass die reale Rendite des Faktors Arbeit sinkt. Dadurch wird es für Haushalte schwieriger, die Lebenshaltungskosten zu decken, womit das Risiko eines synchronen Wirtschaftsabschwungs in Nordamerika und Europa steigt.

Bei diesem Gastbeitrag handelt es sich um eine Übersetzung des jüngsten Marktausblicks von Marc Chandler. Die englische Originalfassung ist unter diesem Link abrufbar.

Marc Chandler

Marc Chandler ist Chefstratege und Partner beim Broker Bannockburn Global Forex. Er befasst sich seit über dreissig Jahren mit den Devisenmärkten und zählt zu den profiliertesten Experten, wenn es um die makroökonomische Grosswetterlage geht. In Chicago aufgewachsen, hat Chandler einen Studienabschluss in internationaler Wirtschaftspolitik und Geschichte an der Northern Illinois University und der University of Pittsburgh gemacht. Heute lehrt er als Dozent an der New York University. Von 2005 bis 2018 war er für die Devisenstrategie der Privatbank Brown Brothers Harriman & Co verantwortlich. Zuvor arbeitete er in gleicher Funktion für HSBC Bank USA sowie Mellon Bank. Unter dem Titel «Political Economy of Tomorrow» hat er 2017 sein zweites Buch veröffentlicht. Er verfasst den populären Marc to Market Blog.
Marc Chandler ist Chefstratege und Partner beim Broker Bannockburn Global Forex. Er befasst sich seit über dreissig Jahren mit den Devisenmärkten und zählt zu den profiliertesten Experten, wenn es um die makroökonomische Grosswetterlage geht. In Chicago aufgewachsen, hat Chandler einen Studienabschluss in internationaler Wirtschaftspolitik und Geschichte an der Northern Illinois University und der University of Pittsburgh gemacht. Heute lehrt er als Dozent an der New York University. Von 2005 bis 2018 war er für die Devisenstrategie der Privatbank Brown Brothers Harriman & Co verantwortlich. Zuvor arbeitete er in gleicher Funktion für HSBC Bank USA sowie Mellon Bank. Unter dem Titel «Political Economy of Tomorrow» hat er 2017 sein zweites Buch veröffentlicht. Er verfasst den populären Marc to Market Blog.