Der Ukrainekrieg hat für die Schweiz erst angefangen. Neben der offensichtlichen humanitären Herausforderung der Ankunft vieler Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet werden die Neutralitätspolitik, die Europapolitik und der Finanzplatz Schweiz durchgerüttelt werden.
Die schweizerische Neutralität ist ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert; im 21. Jahrhundert bleibt davon wenig übrig. Neutralitätsrecht kommt im Ukrainekrieg, wenn es überhaupt noch gelten würde, ohnehin nicht in Betracht. Eine kriegerische Unterstützung der Ukraine durch die Nato und/oder die EU gegen Russland steht nicht zur Diskussion, da sie vom Westen gar nicht angedroht wird. Marginalien, wie der Überflug mit Militärmaterial, sind längst zugunsten einer schweizerischen Politik gegen offene Aggression entschieden worden, so etwa beim Überfall von Saddam Hussein auf Kuwait 1990 und im Zerfall Jugoslawiens in der ersten Hälfte der 90er Jahre.
Neutralitätspolitik ist heute das, was wir dazu erklären. So im Moment die angeblich neutralitätspolitisch bedingte Zurückhaltung des Bundesrates bei der vollen Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland.
Konkret wird vage von Guten Diensten geredet. Solche sind keineswegs nur Neutralen vorbehalten. Sie werden dort, und von jenen geleistet, die in einem gegebenen Moment dazu am besten in der Lage sind. Im Ukrainekrieg – falls ‹Vlad the Mad›, der verrückte Putin also, überhaupt an solchen interessiert ist – wäre dies allenfalls Israel, das sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland gewichtige Beziehungen, auch militärischer Natur, unterhält. Das Nato-Mitglied Norwegen leistet dank solider finanzieller Unterfütterung immer wieder Gute Dienste zwischen zwei verfeindeten Parteien, die nicht mehr direkt miteinander verkehren.
Die Übernahme von Schutzmachtmandaten – so etwa zwischen westlichen Mächten und Russland, falls diese ihre diplomatischen Beziehungen abbrechen – wie sie nun der Schweiz durchaus zufallen könnten, aber auch die Gastgeberrolle von Genf als möglicher Ort von allenfalls in der Zukunft anstehenden Friedensgesprächen, haben beide kaum mit Neutralitätspolitik zu tun.
Wie immer die offizielle Schweiz sich zum Krieg in der Ukraine verlauten lässt und was sie konkret tut, hat Russland kaum eine andere Wahl, als für diese beiden traditionell schweizerischen Hilfeleistungen die Schweiz zu wählen. Damit ist die Offenhaltung einer schweizerischen ‹Notbotschaft› in Kiew durch das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) im Moment jedenfalls eine richtige Massnahme. Das alles hat aber nichts mit Vermittlung zu tun.
Ausgerechnet im Moment grösster Anspannung in Europa veröffentlicht der Bundesrat seine Vorschläge zur Neuregelung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Der vorgeschlagene Weg des Bundesrates geht zu wenig weit, da zuerst, vor der Verhandlung über Sachbereiche, institutionelle Fragen gelöst werden müssen, die nachher allenfalls in das vom Bundesrat vorgeschlagene Gesamtpaket einfliessen könnten.
Das ist heilige Einfalt helvetischer Bürokratie eines Landes, das nicht regiert, sondern verwaltet wird. Nun haben wir also auf dem schweizerischen Kreuzweg nach Europa erfolgreich drei grosse Hürden aufgerichtet: Die weiterhin ungenügende Bereitschaft, auf der von Brüssel seit Jahren geforderten Ebene zu verhandeln – die Schweiz ist auf eine volle Teilnahme am Binnenmarkt ungleich stärker angewiesen als umgekehrt. Dann die Weigerung, die EU-Massnahmen gegen Russland voll zu übernehmen, und schliesslich noch das ungerechtfertigte und unzeitgemäße Referendum gegen den schweizerischen Frontex-Beitrag.
Im Wirtschaftsverkehr mit Russland ist die Schweiz ein Schwergewicht. Diese Bedeutung reicht vom Handel mit russischen Rohwaren über russische Beteiligungen an schweizerischen Unternehmen bis hin zur Rolle von Russen und russischen Banken auf unserem Finanzplatz. Dagegen wirkt die offizielle Beteuerung, Umgehungsgeschäfte von westlichen Boykotten verhindern zu wollen, schnell lächerlich, Die Russen sind längst hier, sie müssen nicht mehr neu zu Umgehungsgeschäften in die Schweiz kommen.
Wenn wir russischen Interessen wirklich weh tun wollen, und zudem verhindert werden soll, dass via die Schweiz die russische Kriegsmaschinerie geschmiert wird, müssten jetzt Massnahmen ganz anderer Grössenordnung beschlossen werden. So etwa das sofortige Verbot aller Aktivitäten der russisch beherrschten Ölhandelsfirma Gunvor in Genf, die Schliessung aller russischen und russisch beherrschten Banken in der Schweiz, das vorläufige Einfrieren aller russischen Konten auf schweizerischen Banken, die Sequestrierung aller russischen Beteiligungen an schweizerischen Unternehmen, ungeachtet von Aliasstrukturen, wie sie der notorische Putinfreund Viktor Vekselberg nach 2014 errichtet hat.
Wenn die Schweiz das nicht von sich aus tun will, dann werden wir wohl nach und nach dazu gezwungen werden. Die westlichen Massnahmen gegen Russland sind nämlich noch längst nicht fertig. Wenn neue Gräuelbilder aus Kiew ankommen, wenn Präsident Wolodimir Selenski und seine Regierung ermordet oder gefangen genommen werden, wenn eine illegale Marionettenregierung in der Ukraine mit grossen Säuberungen anfängt, dann wird der bevorstehende Ausschluss Russlands aus dem Geldüberweisungssytem Swift nur den Anfang bilden.
Will das die grosse Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizer wirklich? Wollen sie, dass im Namen von Finanzinteressen, die Schweiz einmal mehr in der amoralischen Schmuddelecke und auf offiziellen schwarzen Listen westlicher Regierungen landet?
Insbesondere das zweite sollte allen Marktteilnehmern am Wirtschaftsstandort Schweiz zu denken geben: Wenn wir einmal mehr auf den traditionellen Gleisen des ‹non olet› weiterfahren, droht Ungemach. Dies würde zum wiederholten Mal passieren, nach der Affäre um Holocaustgelder und der – wie die ‹Suisse Secrets› der Credit Suisse zeigen – ungebrochenen Tendenz der Vermögensverwalter, kriminelles und schmutziges Geld ungeachtet der immer wieder beteuerten Sorgfalt anzunehmen. Wann lernt die Schweiz, ihrem eigenen Verständnis als demokratischer Rechtsstaat in jeder Beziehung gerecht zu werden? Es ist Zeit dafür.