Stereotypen «kultureller Unterschiede» werden gern von autoritären Regierungen herbeigezogen, um in Tat und Wahrheit ganz andere Motive zu verschleiern.
Das berühmte Gedicht von Kipling, East is East and West is West, oft als Sinnbild eines unüberbrückbaren, weil naturgegebenen Unterschiedes zwischen West und Ost zitiert, sagt tatsächlich das Gegenteil, liest man es zu Ende. Genauso verhält es sich mit dem vermeintlichen Gegensatz zwischen einer auf das Wohl der Gemeinschaft konzentrierten Lebensweisheit in Asien und der westlichen, auf das Wohl jedes Einzelnen ausgerichteten Gesellschaft.
Was an der Oberfläche einleuchtend klingen mag, hält näherer Betrachtung nicht stand. Ob West oder Ost, der einzelne Mensch verlangt vom Gemeinwesen im Gegenzug zu seiner Loyalität Sicherheit, aber auch Achtung seiner Menschenwürde durch den Staat.
Insofern unterscheiden sich Demonstrationen der Milk Tea Alliance in Rangun oder Hongkong – meist junge Demonstranten, welche ihre Rechte gegenüber autoritären Regierungen einfordern – nicht grundsätzlich von jenen, die in Washington oder Paris auf der Strasse Black lives matter! skandieren.
Natürlich steht in zahlreichen Gesellschaften Asiens die meist patriarchal organisierte Familie als hauptsächlicher Versorger noch stärker im Vordergrund als vielerorts im Westen, wo staatliche Sozialpolitik diese Rolle teilweise übernommen hat. Das geht aber primär auf unterschiedliche Entwicklungsstadien in Urbanisierung und Staatsverständnis zurück, nicht auf irgendwelche naturgegebenen Merkmale.
Solche Stereotypen werden gern von autoritären Regierungen herbeigezogen, um in Tat und Wahrheit ganz andere Motive zu verschleiern – wie etwa der unbedingte Wille zur alleinigen Macht. Illustriert sei dies mit dem kürzlichen Zuruf eines Chefideologen an die Kader der Kommunistischen Partei Chinas: «The rise of the East and the decline of the West has become a trend.»
Solches passiert übrigens nicht nur in China, sondern, in anderer Form, etwa auch in Ungarn, wo ein autoritärer Chef den Machtanspruch seines Klans mit Appellen an Blut, Boden und Familie bemäntelt.
Für Unternehmen ist daher Vorsicht geboten. Natürlich sind Lebensstil und Vorlieben von einem Ort zum anderen oft grundverschieden. Eine Teezeremonie in Kyoto ist nicht dasselbe wie eine Feierabendrunde in München. Von da aber auf grundlegende Mentalitätsunterschiede zu schliessen, ist ebenso unternehmerisch töricht wie gesellschaftspolitisch gefährlich, da damit autoritärer Propaganda Recht gegeben wird.