Meinung

Die Geburt des Finanzpopulismus

Die Robinhood-Bewegung der modernen Finanzwelt offenbarte sich, als ein Flashmob von Reddit-Händlern gezielt Aktien hochkaufte. Dass Broker während des Spiels die Regeln zuungunsten der Kleininvestoren änderten, hat nichts mit Diskriminierung zu tun. Dennoch verstärkt es die Nachfrage nach den dezentralen Netzwerken der Kryptoassets weiter.

Pascal Hügli
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Das Handelsgeschäft hat sich über die letzten Jahrzehnte stark verändert. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich Männer in Anzug und Krawatte frenetisch gestikulierend gegenseitig anschreien. Der einst hektische Präsenzhandel gehört heute der Vergangenheit an und der klassische Trading Floor ist längst tot.

Nicht so in der Welt des Cyberspace. In den Tiefen und Weiten des Internets erleben Handelsräume als virtuelle Alternativen gerade ihre Renaissance. Innerhalb von Instant-Messaging-Applikationen wie Telegram oder Discount sowie Internetforen wie Reddit versammeln sich zigtausende von Menschen virtuell und diskutieren über alle möglichen Finanzwerte.

Eine treibende Kraft innerhalb dieser neuen chaotischen Echokammern sind Memes. Dabei handelt es sich um simplifizierte Bilder mit Symbolcharakter. Diese verkörpern eine Tatsache über die reale Welt und werden, sofern sie es in den Ereignishorizont der Viralität schaffen von den Massen im Internet wie ein Lauffeuer verbreitet. Als Masseninstruktionswaffe führen sie nicht selten zur Massenvernichtung der Reputation von Marken, Stars oder Unternehmen.

Mit GameStop den Reichen das Spiel vermiesen

Die Kraft memetischer Kriegsführung wurde vor ein paar Wochen offensichtlich, als sich ein Flashmob von Reddit-Händlern gezielt Institutionen der Wall Street vorknöpfte. Die Preise von sogenannten Meme-Aktien schossen in die Höhe, als eine Welle von Käufern einen Short Squeeze auslöste. So wurde auf einer Subseite von Reddit namens wallstreetbets bekannt gemacht, dass Aktien wie die von GameStop (GME) zu diesem Zeitpunkt besonders stark von gewisse Hedgefonds geshortet wurden. Als Meme passte GameStop vorzüglich, immerhin glaubte man damit, den Bankern und Hedgefonds-Managern das Spiel vermiesen zu können. «Stop the Game» der Finanzeliten mit GameStop also.

Durch den initiierten Preisanstieg sahen sich die Leerverkäufer an der Wall Street gezwungen, im Markt die entsprechenden Aktien zu kaufen, um sich gegen potenzielle unlimitierte Verluste abzusichern. Wie sich zeigte, äusserte sich das schliesslich in einer unkontrollierbaren Preisaufwärtsspirale, die die professionelle Investment-Branche insgesamt 70 Mrd. $ gekostet haben soll und mindestens einen Hedgefonds an den Rand des Kollaps trieb. Während bei institutionellen Investmentfirmen kurzfristig Panik ausbrach, freute sich eine lose Horde unerbittlicher Kleinhändler den Sturm auf die Finanz-Bastille ausgelöst zu haben.

Störung des Spielbetriebs

Deren Jubel währte jedoch nicht lange. Vielmehr verwandelte er sich in Wut, als mehrere Broker den Handel mit gewissen Aktien einschränkten. Den Bannstrahl traf insbesondere Robinhood, das Kunden kurzerhand darin hinderte, Aktien wie $GME, $AMC, $BB, $NOK über seine App zu kaufen. In den Augen vieler Kleinanleger desavouierte der Broker damit seinen eigenen Namen und entpuppte sich als heuchlerischer Lakai der Hochfinanz. Während Kleininvestoren das Ende der freien Märkte beklagten, erbosten sich Finanzanalysten und Hedgefonds-Manager über deren verzerrende Auswirkung auf die Effizienz des Marktes und die Preisbestimmungsmechanismen.

Abseits des Schlachtfeldes lässt sich zusammenfassen: Ein einfacher, wenn auch minutiös geplanter Short Squeeze, hatte sich letztlich zu einer finanzpopulistischen Bewegung gemausert. Noch während der Squeeze in vollem Gang war, gewann der Subreddit wallstreetbets Millionen neue Follower, etwa zwei Millionen an nur einem Tag. Gewiss dürften viele davon nur Mitläufer gewesen sein, die auf das schnelle Geld hofften.

Nichtsdestotrotz umfasste die Bewegung einen vor allem auf Twitter lautstarken Kern an idealistischen, ideologischen und von Ressentiments getrieben Menschen, die der festen Überzeugung waren, die echte Robinhood-Bewegung der modernen Finanzwelt ins Leben gerufen zu haben. Dass deren Movement jäh gestoppt wurde, interpretierte man aufseiten der Wall Street-Belagerer als regelrechte Kriegserklärung: Einmal mehr sind es die Finanzeliten selbst, die den kleinen Mann daran hinderten, Geld zu verdienen, während die Hedgefonds erneut vor dem Zusammenbruch bewahrt wurden, so das Narrativ.

Liquiditätsengpässe als Bedrohung für das System

Dieses Narrativ wurde in den Gazetten über die vergangenen Wochen rege herumgereicht. Ist es tatsächlich so, dass das aus den sozialen Medien bekannte Phänomen der «Cancel Culture» mit den Einschränkungen von Retail Investoren Einzug in die Finanzwelt gehalten hat? Wer genau hinschaut merkt: Was nach einem orchestrierten Gegenangriff gegen Einzelhändler aussah, war letztlich eine notwendige Massnahme zum Schutz der Broker und womöglich des gesamten Finanzsystems.

So betrafen die Handelsbeschränkungen sowohl den Einzelhandel als auch institutionelle Akteure, da auch viele institutionelle Prime Broker ihren Hedgefonds-Kunden vorübergehend das Kaufen untersagten. Broker wie Robinhood sahen sich in diesem Moment mit Liquiditätsengpässen konfrontiert.

Tatsächlich handelt es sich bei den meisten Brokerage-Konten um sogenannte Margin-Konten. Das bedeutet, dass ein Trader, der diese Konten nutzt, beim Kauf einer Aktie nicht wirklich die Aktie besitzt, sondern bloss einen Vertrag eingeht, der letztlich den Händler an dieser Aktie berechtigt. Üblicherweise betreiben Broker Wertpapierleihe mit Aktien, die ihre Kunden kaufen. Hinter den Kulissen findet also sogenanntes Securities Lending statt. Und ein solches bedeutet immer auch Kredit- und Gegenparteirisiken.

Um letztere in Schach zu halten, gibt es im Aktienhandel sogenannte zentrale Clearingstellen, die die Abwicklungsprozesse (Settlement) von Aktien überwachen. Das Clearing (Verrechnen von Aktien zwischen mehreren Transaktionspartnern) für Aktien dauert in der Regel zwei Tage, in der Fachsprache auch «T+2» genannt. Als die Volatilität rund um GameStop und andere Aktien rasant anzusteigen begann, verlangten die Risikomodelle der zentralen Verrechnungsstelle mehr Sicherheiten (Collateral) von den Brokern, um etwaige Kreditgeschäfte und all deren Verpflichtungen aufrechterhalten zu können. Und sie verlangten diese sofort.

In Hochvolatilitätsphasen sind erstklassige Sicherheiten wie US-Staatspapiere und Liquidität aber gerade rar. Robinhood sah sich deshalb gezwungen, bei der Bank ihre Kreditlinie zu beanspruchen, um so genügend Sicherheiten garantieren zu können. Dass der Broker während des Spiels die eigenen Spielregeln zuungunsten von Kleininvestoren änderte, war somit weniger Verschwörung als vielmehr der Regelkonformität rund um die Besicherungsvorschriften des Clearinghouse geschuldet.

Ein aussichtsloser Kampf

Letztlich dürfte die GameStop-Geschichte für ein paar Kleinhändler ein finanzieller Segen, für Broker eine ziemliche Herausforderung und für nicht betroffene Zuschauer ein unterhaltsames Drama gewesen sein. Auch der Robinhood-Charakter ist ihr nicht gänzlich abzusprechen. Die Schere zwischen Real- und Finanzwirtschaft weitet sich stetig weiter aus. Ereignisse wie jene auf dem Capitol Hill oder das Drama rund um wallstreetbets sind letztlich beides Auswüchse davon. Wie bei jedem Grossereignis heute wird alles ideologisiert, politisiert oder beides.

Hier ist es denn auch, wo das Narrativ in die Irre geht und die wahren Probleme übersieht. Das heutige Finanzsystem ist in einem Masse hochskaliert und gehebelt, so dass sich himmelschreiende Risiken aufgestaut haben – nicht zuletzt aufgrund der beispiellosen Geldmengenausweitung. Unterschiedliche Risikobarometer signalisieren Allzeithochs. Indem die Symptome eines hoch fragilen Finanzsystems ideologisiert werden und der Schwarze Peter gegenseitig hin und her geschoben wird, läuft man Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

Auf Dauer wird die Robinhood-Bewegung von Kleininvestoren im Reich des Sheriffs von Nottingham nicht allzu viel erreichen können. Das gegenwärtige Finanzsystem ist von Natur aus zugunsten institutioneller Grossanleger auslegt. Wenn auch Kleinanleger davon profitieren, profitieren letztlich die grossen Investmentfirmen überproportional.

Wer grosse Volumen jongliert, erhält niedrige Gebühren. Auch können grössere Teilnehmer eher Einfluss auf das System nehmen und die finanzpolitischen Gegebenheiten zu ihren Gunsten drehen. Das liegt in der Natur der Sache und es ist praktisch unmöglich, dies zu ändern. So dürfte sich auch die GameStop-Sage für viele Kleininvestoren als Negativsummenspiel entpuppt haben, während es vor allem einige Hedgefonds gewesen waren, also genau jene Akteure, auf die man es abgesehen hatte, die mit den Ereignissen mächtig Geld gemacht haben.

Bitcoin als Lösung am Horizont

Eine reale Alternative bietet Bitcoin und dessen dezentrale Kryptowelt. Immer mehr Menschen entdecken letztere und entscheiden sich, mit einem Teil ihres Vermögens in diese neue Welt abzuwandern. Die Nachfrage nach dezentralen Netzwerken ist ungebrochen und wurde durch die jüngsten Geschehnisse einmal mehr verstärkt.

Anders als im derzeitigen Finanzsystem erlauben es Kryptoassets, selbstsouverän über die eigenen Vermögenswerte zu verfügen. Wer seine Kryptowerte eigenhändig mittels Smart-Contract-Software verwaltet, kann von keinem Broker vom Handel abgehalten, geschweige denn aus seinem eigenen Konto ausgesperrt werden. Die Welt sogenannter «non-custodial» digitaler Wallets und sich selbstausführender Smart Contracts auf einer öffentlichen Blockchain ermöglichen dem Individuum die Option auf Selbstverwahrung und ermächtigen es in einer Weise, wie es das in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat.

Mit Bitcoin hat diese neue Welt nicht nur ein neues deflationäres Reserve-Asset, das zensurresistent ist und dessen algorithmisch bestimme Geldpolitik nicht manipuliert werden kann. Auch der Bereich dezentraler Finanzapplikationen (DeFi) zeigt heute schon, wie ein dereinst systemisch stabileres Finanzsystem aussehen könnte. Heute führt ein undurchsichtiges Geflecht von Weiterverpfändungen, Rehypothecation genannt, zu einer langen Kette an immer wieder verpfändeten Vermögenswerten, entlang derer unterschiedliche Parteien einen gültigen Anspruch auf ein und denselben Vermögenswert haben. Die dadurch resultierende Instabilität liesse sich mittels völlig transparenter und vor allem einfach überprüfbarer Smart Contracts auf einer öffentlichen Blockchain zumindest eindämmen.

Abstimmen, aber mit dem eigenen Geld

Der Exodus in diese neue Welt hat bereits begonnen und er dürfte sich weiter fortsetzen. Reddit-Gründer Alexis Ohanian hat es treffend zusammengefasst, als er in einem Interview betonte: «In den USA stimmen wir mit zwei Dingen ab: Mit unseren Stimmen sowie unseren Dollars. Auf den demokratischen Prozess hat das Internet bereits starken Einfluss gehabt. Gerade wird uns gewahr, dass das Internet auch den Abstimmungsprozess mittels Dollar revolutionieren wird.»

Ohanian ist zuzustimmen. Auch wenn es heute vielleicht noch nicht offensichtlich zu sein scheint: Der Capital Riot rundum GameStop dürfte letztlich grössere Auswirkungen auf die Welt haben als der Riot auf Capitol Hill ein paar Wochen zuvor.

Pascal Hügli

Pascal Hügli ist Leiter Research für den Vermögensverwalter Schlossberg&Co. Nebenbei engagiert er sich als Moderator, Debattierer und Dozent an der HWZ, wo er zu den Themen Bitcoin, Kryptoassets und Fintech unterrichtet. In seinem Wirken ist er stets bestrebt darin, die reale Welt möglichst vorbehaltlos zu verstehen und zu deuten.
Pascal Hügli ist Leiter Research für den Vermögensverwalter Schlossberg&Co. Nebenbei engagiert er sich als Moderator, Debattierer und Dozent an der HWZ, wo er zu den Themen Bitcoin, Kryptoassets und Fintech unterrichtet. In seinem Wirken ist er stets bestrebt darin, die reale Welt möglichst vorbehaltlos zu verstehen und zu deuten.