Der Fortschritt der Impfprogramme öffnet – zumindest in der westlichen Welt – allmählich den Weg zurück zur Normalität. Doch ein selbstkritischer Blick in den Spiegel ist notwendig, um Lehren aus der Pandemie zu ziehen.
Die Pandemie zehrt an den Kräften. Seit fünfzehn Monaten hält sie die Welt im Bann, mehr als 3,2 Mio. Menschenleben hat das Coronavirus bis dato gefordert. Die Bilder, zunächst aus Wuhan, dann aus Bergamo, Madrid und New York, aus Brasilien und gegenwärtig aus Indien haben sich ins Gedächtnis gebrannt.
In den westlichen Industrieländern kommen nun zwar die Impfprogramme voran und die Wirtschaft öffnet sich, doch die Pandemie ist alles andere als vorbei. Weltweit betrachtet bewegen sich die täglich gemeldeten Ansteckungs- und Todesfälle gegenwärtig sogar fast auf Rekordniveau. Auf dem afrikanischen Kontinent sind bis dato noch nicht einmal 0,5% der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft.
Die Sehnsucht nach einem Zurück zum Status quo ante ist gross. Man will wieder unbeschwert Menschen treffen können, tanzen, reisen, Konzerte besuchen, ohne Gedanken in einer überfüllten U-Bahn stehen, Eltern und Freunde umarmen, Feste feiern, sich an Konferenzen austauschen.
Diese Sehnsucht ist verständlich. Aber es wäre falsch, rasch zum Leben vor Covid-19 zurückzukehren. Die Welt nach 2020 ist eine andere als zuvor. Gesellschaft und Politik in der Schweiz – das Gleiche gilt für Deutschland – sollten die Erfahrung der Pandemie nutzen für einen ehrlichen, selbstkritischen Blick in den Spiegel, denn wir haben in mehrerlei Hinsicht im Umgang mit dieser Herausforderung versagt.
Daraus lassen sich einige Lehren ziehen.
Die erste Lehre betrifft die mangelhafte Digitalisierung, die sich besonders – aber nicht nur – im Gesundheitssystem zeigte: Ärzte und Behörden, die via Fax kommunizieren, tagelange Verzögerungen in der Erhebung von Fallzahlen, die Unfähigkeit, rechtzeitig funktionierende Registrierungsseiten für die Impfprogramme aufzubauen, um einige wenige Beispiele zu nennen.
Seit Jahren haben Exponenten aus der Gesundheitsindustrie, unter ihnen Roche-CEO Severin Schwan, die mangelnde Digitalisierung des kleinräumigen, kantonal organisierten Gesundheitssystems in der Schweiz kritisiert. 2020 traten diese Schwächen schonungslos ans Licht.
Elektronische Patientendossiers bleiben seit Jahren Wunschdenken. Ein mutiges Impfprogramm, wie es Israel mit Pfizer aufgesetzt hat – und das wertvolle Studiendaten für den Rest der Welt produzierte –, wäre in der Schweiz nur schon aus technischen Gründen nicht möglich gewesen.
Es ist nicht damit getan, wenn sich eine Gruppe älterer Herren jeden Herbst als «Digital Switzerland» selbst feiert: Die Schweiz ist in Sachen Digitalisierung ein Entwicklungsland mit riesigem Aufholbedarf, zum Beispiel auch im Schulsystem. Darin zeigt sich auch eine gewisse Unfähigkeit, von Anderen zu lernen, was zur zweiten Lehre führt.
Sei es in Sachen Lebensqualität, Wettbewerbsfähigkeit oder Attraktivität für Unternehmen: Auf zahlreichen Ranglisten bewegt sich die Schweiz seit Jahren auf Platz eins. Das mag dem Ego schmeicheln, doch die wiederholte Bestätigung, an der Weltspitze zu stehen, führt zu Selbstgefälligkeit und Arroganz. Wer sich an der Spitze sieht, verliert die Demut und sieht keine Notwendigkeit mehr, zu lernen.
Das rächte sich in der Pandemie. Die erste Welle im März 2020 mag die Welt noch unvorbereitet getroffen haben, doch schon im Frühsommer hatte sich eine Art «Best Practice» herausgebildet, wie die Verbreitung des Virus am besten eingedämmt werden kann: Systematisches Testen, rigoroses Nachverfolgen von Ansteckungsketten («Tracing»), klare, durchgesetzte Quarantäneregeln und rasches Handeln im Fall von lokalen Ansteckungsherden («Cluster»-Bekämpfung).
Diese Lehren wurden vorgelebt von Staaten im asiatisch-pazifischen Raum, von Japan über Korea, Taiwan, Vietnam und Singapur bis Australien und Neuseeland. Eine Erkenntnis dieses Vorgehens war, dass es die Notwendigkeit grossflächiger Lockdown-Massnahmen verringert und damit auch für die Wirtschaft weniger schädlich ist.
Doch diese Lehren wurden in der Schweiz bloss halbherzig umgesetzt, meist mit dem Argument, die positiven Beispiele seien halt Inseln oder – eine besonders arrogante Erklärung – die Menschen in Asien seien eben «weniger freiheitsliebend» als wir.
Diese Überheblichkeit war schon vor der Pandemie nicht angebracht, doch mit der Pandemie muss sie endgültig zu Grabe getragen werden.
Die dritte Lehre betrifft die Erkenntnis, dass uns die Fähigkeit, in grossen Dimensionen zu denken, abhandengekommen ist. Gesellschaft und Politik der Schweiz haben die Pandemie nie wirklich als «echte» Krise angesehen. Der Finanzminister bedauerte primär, dass sein Schuldenabbau der vergangenen Jahre zunichte gemacht würde.
Die Schweiz ging wie ein kleiner Buchhalter mit der Pandemie um, und nicht wie eine Nation, die eine existenzielle Herausforderung zum Anlass nimmt, das Beste aus sich herauszuholen.
Man gab sich mit dem Mittelfeld, mit dem «gut genug», zufrieden. Weder in der Entwicklung noch in der Finanzierung von Impfstoffen spielte das Land, obwohl Heimat einer erstklassigen Pharma-, Biotech- und Finanzindustrie, eine führende Rolle. Warum eigentlich? Die Schweiz wollte nicht zu früh, zu viel oder sogar die falschen Impfstoffe bestellen. Monatelang trauten die verantwortlichen Personen der Wirkungsweise der mRNA-Impfstoffe nicht, und offenbar wollten sie auf keinen Fall eine Fehlinvestition eingehen.
Dabei wären die damit verbundenen Geldbeträge im Vergleich mit den Kosten der Lockdown-Massnahmen lächerlich klein gewesen. «In den USA ist man im Gegensatz zu Europa noch bereit, an Ideen zu glauben und in sie zu investieren, bevor ihr Funktionsbeweis erbracht ist», sagte Uğur Şahin , Co-CEO der deutschen BioNTech, kürzlich in einem Interview.
Es ist zu einem erheblichen Teil dem mit mehr als 12 Mrd. $ ausgestatteten «Operation Warp Speed»-Programm der Trump- Regierung zu verdanken, dass im Dezember 2020, nur gerade elf Monate nach der erstmaligen Sequenzierung des Genoms des Sars-CoV-2-Virus, erste Impfstoffe auf den Markt gekommen sind. Was für eine Ironie: Trump, dieser abscheuliche Mensch, hat mehr für die weltweite Bekämpfung des Coronavirus getan als alle europäischen Politikerinnen und Politiker zusammen.
Die Schweiz hätte, wenn sie es gewollt hätte, problemlos das Kapital aufwerfen können, um die Entwicklung von Impfstoffen zu unterstützen, zu beschleunigen und Produktionskapazitäten bereitzustellen. Sie hätte sich weltweites Ansehen erarbeiten können, das keine PR-Kampagne jemals erreichen kann. Dass ein derart grosser Wurf nicht einmal diskutiert wurde, zeigt, wie ambitionslos die Schweiz geworden ist. «Gut genug» reicht offenbar.
Die vierte Lehre schliesslich betrifft die Erkenntnis unserer Unfähigkeit, langfristig zu denken. Die Pandemie war zwar eine akute Krise, aber sie war kein «schwarzer Schwan», dessen Existenz die Menschheit vollkommen überrascht hat. Auch die wellenförmige Dynamik einer Pandemie war hinlänglich bekannt. Doch in geradezu grotesker Weise haben zahlreiche Politiker im Land bewiesen, dass sie nicht einmal ein grundlegendes Verständnis von exponentiellem Wachstum haben und nicht fähig sind, zwei Monate in die Zukunft zu blicken. Lieber übten sie sich in plumpem Populismus, etwa die SVP mit ihrem absurden Vorwurf der «Diktatur».
Das ist bedenklich, denn die grössten nationalen und globalen Herausforderungen, mit denen unser politisches System fertig werden muss, sind langfristiger Natur, unterliegen einer nicht-linearen Entwicklung, und ihre Tragweite geht weit über den normalen, vierjährigen Politikzyklus hinaus: Die wohl grösste innenpolitische Herausforderung der Schweiz für die kommenden Jahre ist es, eine nachhaltige, für die jungen Generationen faire Neuordnung des Vorsorgesystems zu finden. Und die grösste Herausforderung für die Welt ist der Klimawandel.
Beide Herausforderungen – und sie sind keineswegs die einzigen – sind deutlich sichtbar. Sie lassen sich nicht mehr abstreiten. Beide benötigen generationenübergreifende Solidarität in der Gesellschaft. Und beide brauchen politische Weitsicht, Mut und die Ambition, in grossen Dimensionen zu denken.
Doch das sind genau die Attribute, die im Zusammenhang mit der Pandemie in der Schweiz, in Europa, ja in den meisten liberalen Demokratien westlicher Prägung zum Teil kläglich vermisst wurden.
Das muss zu Denken geben. Covid-19 war ein Weckruf. Er darf – bei aller Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Leben vor der Pandemie – nicht wirkungslos verhallen.