Nicht nur Privatpersonen, sondern auch Unternehmen müssen sich in China bald einem datenbasierten Kontrollsystem unterstellen. Das stellt besonders ausländische Unternehmen vor grosse Herausforderungen.
Westliche Medien haben in den vergangenen Monaten viel über das orwellianische Social Credit System (SCS) in China geschrieben. Immer noch weitgehend unbekannt ist dagegen die Tatsache, dass sich ab 2020 nicht nur Privatpersonen, sondern auch Firmen in der Volksrepublik einem Social Credit System unterstellen müssen. Das ist alarmierend, denn für ausländische Unternehmen drohen umfassende Konsequenzen.
Im Kern ist das geplante Unternehmens-SCS eine neuartige Anwendung von Big-Data-Technologie, die laufend Informationen über das Verhalten von Unternehmen sammelt. Diese werden dann durch undurchsichtige Algorithmen verarbeitet, um festzustellen, wie konform die Firmen mit den chinesischen Vorschriften sind.
Basierend auf der Analyse erhalten Unternehmen in jeder von mehreren Dutzend Kategorien eine Bewertung, die sich dann zu einem Gesamtergebnis zusammenfügen.
Mit dem neuen Social Credit System werden Unternehmen in China auf die Einhaltung von Vorschriften konditioniert. Die Anreize sind deutlich gesetzt: Höhere SCS-Werte können zu niedrigeren Steuersätzen, besseren Kreditbedingungen, einem leichteren Marktzugang und mehr Möglichkeiten für öffentliche Aufträge führen.
Niedrigere SCS-Werte führen zum Gegenteil und können im Extremfall bedeuten, dass ein Unternehmen auf schwarze Listen gesetzt wird. So wird beispielsweise die Häufigkeit von Inspektionen davon bestimmt, wie vertrauenswürdig ein Unternehmen ist – und die Vertrauenswürdigkeit wiederum hängt am SCS-Rating.
Betrachtet man die Zollkontrollen als Beispiel, so meldete die chinesische Zollbehörde eine Inspektionsrate von 98,1% für Unternehmen, denen der Staat misstraut. Für Unternehmen mit der höchstmöglichen Vertrauensbewertung liegt die durchschnittliche Rate von Zollkontrollen hingegen bei nur 0,5%.
Was bedeutet das für ausländische Unternehmen in China?
Es wird wesentlich davon abhängen, wie gut sich ein Unternehmen auf das Corporate-SCS vorbereitet. Teile des Gesamtrahmens sind bereits vorhanden, das gesamte System soll bis 2020 einsatzbereit sein, mit weiteren drei bis fünf Jahren für zusätzliche Anpassungen. Das gibt den ausländischen Firmen Zeit, sich vorzubereiten, aber nicht viel.
Unternehmensführer sollten zunächst verstehen, welche Auswirkungen das Corporate-SCS auf ihre übergeordnete Strategie haben wird. In den meisten Märkten halten sich Unternehmen selbstverständlich an die Vorschriften und bleiben wettbewerbsfähig, indem sie den Marktkräften folgen. Der bevorstehende Paradigmenwechsel in der Marktregulierung in China bedeutet jedoch, dass die Wettbewerbsfähigkeit bald ebenso stark von der Einhaltung des Corporate-SCS bestimmt wird wie von den Marktkräften.
Compliance wird nicht mehr eine eigenständige, binäre Frage der Rechtmässigkeit sein, sondern wird zu einem Gradienten auf dem Spektrum von «gutem» bis «schlechtem» Verhalten. Das Social-Credit-Rating wird sich künftig direkt auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auswirken.
Unternehmen müssen noch konkretere Überlegungen anstellen. Die Social Credit Scores von Lieferanten beeinflussen die eigene Bewertung, was eine kontinuierliche Überwachung der Lieferketten entscheidend macht. Die individuellen Social Credit Scores von gesetzlichen Vertretern und hochrangigen Managern wirken sich ebenfalls auf das Firmenrating aus. Global tätige Konzerne werden dadurch gezwungen, darüber nachzudenken, wie sie mit dem persönlichen Verhalten von Mitarbeitern ausserhalb des Arbeitsplatzes umgehen sollen – für viele ein Tabu.
Der vernetzte Charakter des Corporate-SCS erfordert auch, dass Firmen ihre interne Kommunikation verbessern, da die Handlungen einer Abteilung das gesamte Unternehmen ernsthaft beeinträchtigen können.
Ausländische Unternehmen dürften gegenüber lokalen Konkurrenten grundsätzlich benachteiligt sein, da Letztere Vorteile aus ihren engeren Verbindungen zur Regierung ziehen können. Trotzdem stellt das Corporate-SCS auch für chinesische Unternehmen eine grosse Compliance-Herausforderung dar. Viele von ihnen haben in der Vergangenheit Vorschriften – beispielsweise rund um das Thema Emissionen – umgangen, weil sie auf den Schutz lokaler Behörden zählen konnten.
In diesem Licht betrachtet können ausländische Unternehmen positive Aspekte aus dem Corporate-SCS ziehen: Wenn die leidenschaftslosen Algorithmen transparent und diskriminierungsfrei funktionieren, dann kann das neue System dazu beitragen, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.
Internationale Konzerne können sich sogar im Vorteil sehen, da sie in der Einhaltung strenger Vorschriften in den verschiedensten Märkten über einen reicheren Erfahrungsschatz verfügen. Viele von ihnen folgen ohnehin globalen Standards, die die aktuellen Anforderungen in China übertreffen.
Ich kann aus eigener Erfahrung berichten: Nachdem ich einen gründlichen Audit meines eigenen Unternehmens durchgeführt hatte, war ich zunächst schockiert und überwältigt von der Grösse des Corporate-SCS und den Veränderungen, die das System notwendig macht. Aber das Gedeihen in China hat von ausländischen Unternehmen schon immer Geschicklichkeit, Flexibilität und einen pragmatischen Ansatz verlangt.
Das Corporate Social Credit System wird nicht verschwinden. Je früher alle Unternehmen auf dem chinesischen Markt dies erkennen und beginnen, ihre internen Prozesse und externen Lieferanten zu überprüfen, desto besser. Sobald das System vollständig implementiert ist, wird es kein Zurück mehr geben: Alle Marktteilnehmer werden entweder nach dem Score leben oder nach dem Score sterben.