Meinung

Die Weltwirtschaft steht an der Schwelle zur Stagflation

Hohe Inflation und schwaches Wachstum prägen das Wirtschaftsbild in den USA und Europa. Die Parallelen zu den Siebzigerjahren sind offensichtlich. Das stellt Investoren vor erhebliche Herausforderungen.

Ronald-Peter Stöferle
Drucken

«Vorübergehend»: Kein anderes Wort nahmen Notenbanker dies- und jenseits des Atlantiks bis vor wenigen Monaten häufiger in den Mund, um die seit Sommer 2021 über 2% liegenden Inflationsraten zu kommentieren.

Isabel Schnabel, Mitglied des EZB-Direktoriums, hatte noch Ende November 2021 den Standpunkt vertreten, dass die Inflation in der Eurozone im Dezember 2021 ihren Höhepunkt erreichen würde. Sie sah keine Anzeichen dafür, dass die Inflation «ausser Kontrolle gerät». Noch im September 2021 prognostizierte die EZB, dass die Inflation 2022 im Durchschnitt bei 1,7% und 2023 gar nur mehr bei 1,5% liegen würde.

So kann man sich irren, wenn der Wunsch der Vater der Prognose ist.

Vor wenigen Wochen merkte EZB-Präsidentin Christine Lagarde an, dass die EZB nicht von einem Abrutschen der Eurozone in eine Stagflation ausgehe. Doch auch diese Prognose wird sich als Irrtum erweisen, nicht nur in der Eurozone, sondern auch in den USA und in vielen weiteren Ländern.

Selbst ohne den Krieg in der Ukraine wäre das Risiko für eine Stagflation sehr hoch gewesen. Der Krieg und die sich verfestigende Sanktionsspirale führen unausweichlich in ein stagflationäres Szenario.

Stagflation – Was ist das?

Der Begriff «Stagflation» bezeichnet jenen ökonomischen Zustand, in dem eine wirtschaftliche Stagnation und eine spürbar hohe Inflation zusammentreffen. Geprägt wurde der Begriff vom britischen Abgeordneten und späteren Finanzminister Iain Macleod, der ihn 1965 zum ersten Mal verwendete. Im Sommer 1970 griff er ihn wieder auf, als in Grossbritannien die Inflation die Marke von 6% erreicht hatte und die Wirtschaft im ersten Quartal 1970 um 0,9% schrumpfte. Im Lauf der stagflationären Siebzigerjahre ging der Begriff sodann in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.

Gängige Definitionen der Stagflation sind eher qualitativ gehalten. Zum Zweck der besseren Operationalisierbarkeit wollen wir eine eigene, objektiv messbare, quantitative Definition vornehmen.

  • Das Wachstum einer Volkswirtschaft definieren wir als «stagnierend», sofern das reale Wirtschaftswachstum im Jahresvergleich weniger als 1% beträgt.
  • Die Inflation erachten wir als erhöht, sofern sie im Jahresvergleich die 3%-Marke überschreitet.

Die Daten erheben wir auf Quartalsbasis. Beide Bedingungen müssen zumindest in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen erfüllt sein, um eine Stagflation ausrufen zu können.

Zudem haben wir eine «Stagflationsstärke» berechnet. Hierbei kalkulieren wir die Stärke der Stagflation als Summe der Abweichung der zwei Variablen Inflation und BIP-Wachstum von ihren jeweiligen Zielmarken, unter der Bedingung, dass die proprietäre Stagflationsdefinition hält. Die Skala wurde anschliessend normalisiert, so dass der maximale Wert der Stagflationsstärke 1 beträgt.

Verfehlter Fokus auf Angebotsschocks

Auf Grundlage dieser Definition gab es in den USA in den vergangenen 60 Jahren insgesamt fünf stagflationäre Phasen (graue Balken in der untenstehenden Grafik). Vier davon fanden in einem Zeitraum von 14 Jahren zwischen 1970 und 1983 statt, eine weitere, schwache, Stagflation trat Anfang der Neunzigerjahre auf. Auf Grundlage aktueller Prognosen kündigt sich nun eine weitere Stagflationsperiode an.

Auch innerhalb der heutigen Eurozone (EA-19) ist das Bild recht ähnlich. Drei Stagflationsphasen registrieren wir zwischen 1974 und 1983, in eine weitere schwach ausgeprägte Stagflation fiel die Eurozone ebenfalls Anfang der Neunzigerjahre. Die Prognosen deuten nun ebenfalls auf eine weitere Periode mit niedrigem Wachstum und gleichzeitig erhöhten Inflationsraten hin.

Die ausgeprägten Stagflationsperioden in den Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre wurden durch Angebotsschocks wie die beiden Ölkrisen ausgelöst. Die für offensichtlichen geopolitischen Spannungen hatte damals – wie auch heute – zur Folge, dass sich der Fokus der öffentlichen Debatte zunächst ausschliesslich auf die Angebotsschocks als Ursache der Stagflation richteten.

Der monetären Dimension wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Tatsache ist jedoch, dass ohne markanten Geldüberhang infolge einer vorherigen exzessiven Ausweitung der Geldmenge ein Anstieg des allgemeinen Preisniveaus in dem extremen Ausmass nicht denkbar wäre. Schliesslich würden höhere Preise bei bestimmten Gütern im Fall einer relativ konstanten Geldmenge zu sinkenden Preisen bei allen anderen Gütern führen.

Parallelen und Unterschiede zu den Siebzigerjahren

Was die Stagflationsphasen der Siebziger und der frühen Achtzigerjahre mit der heraufziehenden Stagflation 2.0 gemeinsam haben – abgesehen vom Zusammentreffen einer schwächelnden Wirtschaft und einer erhöhten Inflationsrate –, und was das historische Original von der Neuauflage fünfzig Jahre später trennt, stellen wir in folgender Tabelle für die USA gegenüber:

Aktuell liegt die Inflation in allen bedeutenden Volkswirtschaften über dem jeweiligen Inflationsziel der Zentralbanken von meist 2%, mittlerweile sogar in Japan. Und auch wenn aufgrund des Basiseffekts sowie gewisser Entspannungen in den Lieferketten der Höhepunkt der aktuellen Inflationswelle bevorstehen könnte, so werden die Inflationsraten auf längere Zeit erhöht bleiben und sich über dem Inflationsziel der Zentralbanken bewegen.

Schliesslich ist die Geldpolitik in vielen Teilen der Welt noch immer als sehr locker zu bezeichnen, sofern eine ernsthafte Straffung überhaupt schon in Angriff genommen worden ist. Der vielerorts extrem enge Arbeitsmarkt wird unweigerlich die Preis-Lohn-Spirale auslösen, auch wenn der gewerkschaftliche Organisationsgrad heute niedriger ist als in den Siebzigern. Doch der strukturelle Arbeitskräftemangel verleiht den Arbeitnehmern auch ohne gewerkschaftliche Unterstützung genügend Verhandlungsmacht.

Der Konjunkturhimmel verdunkelt sich

Die Wachstumsraten der Wirtschaft liegen derzeit noch über unserem proprietären Zielwert von real 1% im Jahresvergleich, wobei die Betonung auf «noch» liegt. Denn der Konjunkturhimmel verdunkelt sich merklich.

Das liegt zum einen daran, dass er nur aufgrund des meist kaum beachteten Basiseffekts bei den Wachstumsraten aufgehellt schien. Denn die Rückkehr zur Normalität nach den breitflächigen Beeinträchtigungen durch die Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie schien ja nur deswegen als Wachstum auf, weil zuvor durch die Lockdowns wirtschaftliche Aktivitäten, vor allem im Dienstleistungssektor, unterbunden wurden.

Daher ist es auch keine Überraschung, dass Italien im ersten Quartal 2022 nur knapp eine Rezession vermeiden konnte, nachdem es 2021 vom renommierten «Economist» als vermeintliche Wachstumslokomotive der Eurozone noch zum «Country of the Year» gewählt wurde. Das Wachstum 2021 war grösstenteils dem Basiseffekt im Vergleich mit dem miserablen Jahr 2020 zu verdanken.

Zum anderen muss daran erinnert werden, dass sich kurz vor Ausbruch der Pandemie die Weltwirtschaft schon seit längerer Zeit auf einem sinkenden Wachstumspfad befand. Im zweiten Halbjahr 2019 hatte das Federal Reserve bereits mit drei Zinssenkungen versucht, die Konjunktur wieder zu stimulieren. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Weltwirtschaft heute fundamental auf kräftigeren Beinen steht als Anfang 2020.

Im Gegenteil, die ökonomische Lage hat sich deutlich verschlechtert. Die Lieferkettenprobleme sind wesentlich hartnäckiger als ursprünglich angenommen. Die Zero-Covid-Politik der Regierung Chinas erweist sich für die Weltwirtschaft als echter und wiederkehrender Hemmschuh. Der Ukraine-Krieg und die Sanktionspolitik gegen Russland verteuert nicht nur die Preise für Energie und Nahrungsmittel, sondern erhöht auch deren Volatilität.

Die sich auf dem höchsten Niveau seit 40 Jahren befindliche Inflation mindert die Realeinkommen und reduziert in weiterer Folge die Nachfrage, auch wenn die erhöhte Sparneigung während der Pandemie den Konsumenten vielfach noch erlaubt, ihr reales Konsumniveau zu halten. Doch dieses Polster wird angesichts der rasanten Teuerung schneller aufgebraucht sein, als es den Konsumenten lieb sein dürfte. In den USA ist die Sparquote bereits deutlich unter das Vor-Corona-Niveau gefallen.

Jerome Powell ist nicht Paul Volcker

Ein «Paul Volcker Moment» zur Beendigung der Inflation ist im Unterschied zu den frühen Achtzigerjahren heute allerdings undenkbar. Die allgemeine Verschuldung ist heute deutlich höher als vor 40 Jahren. Das bedeutet, ein markanter Zinsanstieg würde von den drei Sektoren Staat, Unternehmen und private Haushalte zumindest einen, wenn nicht gar mehrere ernsthaft ins Wanken bringen, je nach länderspezifischer Ausgestaltung der gesamtgesellschaftlichen Verschuldung.

Auch wenn der aktuelle Vorsitzende des Fed, Jerome Powell, vor wenigen Wochen seiner Bewunderung für seinen Vor-Vor-Vor-Vorgänger Paul Volcker Ausdruck verlieh, so wird Powell kein zweiter Volcker werden, so wie Danny DeVito kein zweiter Brad Pitt ist.

Wie schon nach dem heftigen Rücksetzer an den Finanzmärkten im Dezember 2018 so wird sich Powell auch dieses Mal als Taube im Gefieder eines Falken erweisen. Wenn es hart auf hart kommt – und das wird es –, wird Powell wieder eine 180-Grad-Wende hinlegen.

Für Anleger stellt dieses Umfeld eine grosse Herausforderung dar. Die konkreten Konsequenzen der Stagflation auf die verschiedenen Assetklassen und Sektoren werden wir in einem nachfolgenden Artikel in wenigen Wochen im Detail erläutern.

Dieser Beitrag ist eine adaptierte Fassung aus dem aktuellen «In Gold We Trust»-Report.

Ronald-Peter Stöferle

Ronald-Peter «Ronnie» Stöferle ist Partner von Incrementum und zuständig für Research und Portfoliomanagement. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und Finance in den USA und an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach seinem Abschluss arbeitete er bei der Erste Group im Research, wo er 2007 erstmals den «In Gold We Trust»-Report publizierte. Seit 2013 ist er Lektor am Scholarium in Wien sowie Vortragender an der Wiener Börse Akademie. 2014 hat er das Buch «Österreichische Schule für Anleger» und 2019 das Buch «Die Nullzinsfalle» veröffentlicht. Er ist verheiratet und stolzer Vater dreier Töchter.
Ronald-Peter «Ronnie» Stöferle ist Partner von Incrementum und zuständig für Research und Portfoliomanagement. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und Finance in den USA und an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach seinem Abschluss arbeitete er bei der Erste Group im Research, wo er 2007 erstmals den «In Gold We Trust»-Report publizierte. Seit 2013 ist er Lektor am Scholarium in Wien sowie Vortragender an der Wiener Börse Akademie. 2014 hat er das Buch «Österreichische Schule für Anleger» und 2019 das Buch «Die Nullzinsfalle» veröffentlicht. Er ist verheiratet und stolzer Vater dreier Töchter.