Meinung

Ein Gespenst geht um in der digitalen Welt

Die digitale Transformation wird auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet. Mit reichlich Verzögerung und relativ unbemerkt, aber unverkennbar folgen politische Reflexe, die an die erste industrielle Revolution erinnern: Tech-Firmen kommen vermehrt unter politischen Druck.

Nicolas Zahn
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Technologischen Umbrüchen folgen seit jeher entsprechende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umbrüche. Angesichts der Geschwindigkeit des technologischen Wandels im digitalen Zeitalter, fällt es der Politik und der Gesellschaft jedoch schwierig, Schritt zu halten, und neue Produkte und Geschäftsmodelle setzen sich oft durch, Jahre bevor deren Auswirkungen auf die Gesellschaft klar und entsprechende politische Diskussionen geführt werden.

Deshalb besteht im digitalen Zeitalter auch stärker die Gefahr, dass das politische Pendel in Extreme ausschlägt, um für die verpasste Zeit zu kompensieren. So galten z.B. soziale Medien lange als demokratiefördernd bis sie plötzlich als demokratiefeindlich galten und auf eine Phase zurückhaltender Regulierung folgt nun ein wahrer Polit-Aktivismus.

Digitale Technologien haben in den letzten Jahrzehnten zu tiefgreifenden Umwälzungen geführt, von der Disruption gewisser Industrien hin zur Hinterfragung staatlicher Institutionen. Angesichts dieses Wandels blieb es bisher politisch relativ ruhig. Das Aufkommen neuer Ideologien und politischer Strömungen, wie das zur Zeit der ersten industriellen Revolution zuerst mit den «Maschinenstürmern» und später dem Kommunismus als Gegenstück zum «Manchester Capitalism» der Fall war, blieb aus. Bis jetzt.

Kritischer Diskurs erstarkt

Doch wer genauer hinschaut, kann seit einigen Jahren das Erstarken eines kritischen Diskurses feststellen, der sich bewusst marxistischer Terminologie und Analyseperspektiven bedient. Angefangen bei den «Maschinenstürmern 2.0», den «Neo-Luddites» über kritische Berichterstattung zu den klimatischen Auswirkungen von Big Tech oder schlechten Arbeitsbedingungen, hin zur Renaissance von Gewerkschaften in den USA und Klagen wegen fehlender Bezahlung von Künstlerinnen und Künstlern, deren Inhalte als Trainingsdaten für künstliche Intelligenz genutzt werden.

Neben dem rasanten Tempo des technologischen Fortschritts dürfte auch die Natur digitaler Dienstleistungen ihren Beitrag leisten, dass diese politische Gegenreaktion stark verzögert und bisher eher in Nischen stattfindet.

Denn wir haben es nicht mit rauchenden Schornsteinen und Sieben-Tage-Wochen zu tun, sondern sehen uns aufgeräumten Interfaces auf schön designten Geräten gegenüber. Der persönliche Eindruck vieler Leute in Bezug auf Tech-Firmen ergibt sich nicht aus der Perspektive der Arbeiterin, sondern der Perspektive des Nutzers. Und jene Personen, die bei Tech-Firmen arbeiten, ähneln in unserer Wahrnehmung eher den Fabrikbesitzern denn dem Proletariat.

Doch langsam bröckelt die Fassade und es wird klar, dass hinter digitalen Dienstleistungen nicht nur komplexe Lieferketten sondern auch Menschen – oft ausserhalb Europas und der USA – stehen, die gemäss Kritikern bereits für Social Media und nun erneut für künstliche Intelligenz ausgebeutet werden.

Obwohl Sozialisten früher im technologischen Fortschritt, insbesondere bei der Digitalisierung, die Rettung sahen, so eignet sich die aktuelle digitale Wirtschaft viel besser, um sich erneut als Alternative zu präsentieren und empfundene Missstände anzuprangern.

Für Tech-Firmen ist der politische Gegenwind nichts Neues und sie haben sich z.B. mit entsprechend steigenden Ausgaben für Lobbying bisher recht erfolgreich gegen allzu starke Änderungen der Rahmenbedingungen gewehrt. Diese Gegenwehr war jedoch stets auf einzelne, konkrete Politprojekte wie Fragen des Datenschutzes oder des Kartellrechts beschränkt.

Wenn die historische Parallele zur industriellen Revolution stimmt, dann steht eine viel fundamentalere Herausforderung bevor und die Tech-Firmen müssen sich fragen, was sie aus der Geschichte lernen können: auf Konfrontation gehen und möglichst lange an aktuellen Ideen festhalten oder einen Gegenentwurf erarbeiten, der die Leute, die zunehmend enttäuscht scheinen von den Versprechungen aus dem Silicon Valley, wieder überzeugt? Denn auch im digitalen Kapitalismus wird das «Manchester»-Stadium nicht ewig anhalten.

Nicolas Zahn

Nicolas Zahn arbeitet als selbständiger Digitalisierungsexperte und als Digital Trust Expert bei der Swiss Digital Initiative. Zuvor war er für die IT-Beratung Elca und die Credit Suisse tätig. Er ist spezialisiert auf die Schnittstelle zwischen Politik und Technologie und hat sich unter anderem in Singapur und Estland mit der digitalen Transformation des öffentlichen Sektors beschäftigt. Seit seinem Studium der internationalen Beziehungen befasst er sich ausserdem mit geopolitischen und regulatorischen Entwicklungen. Zahn ist Mitglied der Think-Tanks foraus und reatch sowie der Operation Libero.
Nicolas Zahn arbeitet als selbständiger Digitalisierungsexperte und als Digital Trust Expert bei der Swiss Digital Initiative. Zuvor war er für die IT-Beratung Elca und die Credit Suisse tätig. Er ist spezialisiert auf die Schnittstelle zwischen Politik und Technologie und hat sich unter anderem in Singapur und Estland mit der digitalen Transformation des öffentlichen Sektors beschäftigt. Seit seinem Studium der internationalen Beziehungen befasst er sich ausserdem mit geopolitischen und regulatorischen Entwicklungen. Zahn ist Mitglied der Think-Tanks foraus und reatch sowie der Operation Libero.