Auf den ersten Blick fällt die Bilanz der Russland-Sanktionen ernüchternd aus. Ein Einlenken im Krieg gegen die Ukraine ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Der Energiepreisschock hat Europa dagegen schwer zugesetzt. Was bedeutet die Situation für die Kapitalmärkte?
Vor etwa sieben Monaten haben die EU, die USA sowie zahlreiche weitere Industrieländer damit begonnen, vielfältige Sanktionen gegenüber Russland zu verhängen. Es steht bereits fest, dass die Massnahmen einen Teil der Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, nicht erreicht haben. Die Sanktionen werden der russischen Wirtschaft zwar langfristig erheblichen Schaden zufügen, kurzfristig aber haben sie Russland kaum geschwächt, das im Jahr 2022 Rekordeinnahmen im Energiegeschäft und einen gewaltigen Aussenhandelsüberschuss erzielen dürfte.
Die meisten Ökonomen waren sich schon im Vorfeld weitgehend einig, dass Sanktionen ihre Wirkungen in der Regel nur über viele Jahre entfalten können. Russlands Wirtschaft wird – soweit die Sanktionen beibehalten werden – auf lange Sicht erheblich Schaden nehmen und in seiner Entwicklung zurückgeworfen werden. Westliche Unternehmen haben sich weitgehend aus dem Land zurückgezogen.
Dass Technologieimporte aus den westlichen Ländern untersagt sind, erschwert wohl heute schon die Produktion beispielsweise im Luftfahrt- oder Automobilbereich. Zudem wurden russische Finanzinstitute einschliesslich der Zentralbank vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten, sodass russische Unternehmen vielfach den Zugang zu den entwickelten Märkten verloren haben.
Vor allem für die russischen Energieunternehmen wird es auf lange Sicht ein erheblicher Nachteil sein, dass sich westliche Abnehmer Schritt für Schritt von Importen aus Russland unabhängig machen. Die Hoffnung, dass sich der Verlust etablierter Absatzmärkte ohne weiteres durch intensivere Handelsbeziehungen zu China, Indien sowie zu anderen Schwellenländern kompensieren liesse, wird wohl enttäuscht werden. Diese Länder werden Zugeständnisse fordern, und sie haben bei weitem nicht die Zahlungskraft der OECD-Länder.
Kurzfristig sieht das Bild allerdings ganz anders aus. Russland wird zwar 2022 und 2023 wohl einen deutlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts verzeichnen, aber weder ist die Finanzierung des Krieges durch die Sanktionen wesentlich erschwert worden, noch haben die Sanktionen die politischen Entscheidungen erkennbar beeinflusst. Da der Energiebereich von den Sanktionen nicht in vollem Umfang betroffen war, sind die Exporterlöse Russlands stark gestiegen und bewegen sich im Jahr 2022 auf Rekordwerte zu.
Russland exportiert zwar mengenmässig weniger Öl, Kohle und Gas in die westliche Welt, aber der Preisanstieg für diese Energieträger überkompensiert den Rückgang bei weitem. Der Preisanstieg wurde auch dadurch verstärkt, dass auf internationaler Ebene monatelang über Sanktionen und mögliche Energieembargos gegenüber Russland diskutiert wurde, die tatsächlichen Importmengen aber nur moderat zurückgingen. Und was Russland im Westen nicht absetzen konnte, floss nach Asien und in andere Schwellenländer, die Russland nahestehen. So sind die russischen Exporterlöse nach Aussagen der Zentralbank deutlich stärker gestiegen als erwartet. Zusammen mit rückläufigen Importen wird dies den Leistungsbilanzüberschuss Russlands in diesem Jahr auf einen Rekordwert von voraussichtlich 250 bis 300 Milliarden Dollar ansteigen lassen.
Derzeit wird auf internationaler Ebene über Preisobergrenzen für russisches Öl und russisches Gas gesprochen, um die Einnahmen Russlands und den Preisauftrieb in den Abnehmerländern zu deckeln. Tatsächlich könnten solche Instrumente einen noch umfänglicheren Lieferstopp Russlands zur Folge haben, denn Putin hat deutlich gemacht, dass Russland sich nicht an die Verträge halten wird, wenn solche Sanktionen ergriffen werden, und kein Öl und Gas an Firmen liefert, die einen Preisdeckel verlangen.
Eine besondere Bedeutung hat hierbei der Gasmarkt. Es ist zwar richtig, dass die EU die Importe an russischem Gas in den Sommermonaten auf einen Anteil von etwas unter 10% zurückführen konnte. Deutschland erhält nur noch geringfügige Mengen von Gas aus Russland und hat seine Speicher aufgefüllt. Das ist ein guter Erfolg, der allerdings nicht zur Entwarnung Anlass geben kann. Denn in den Wintermonaten wird die Nachfrage nach Gas sehr stark ansteigen und es werden dann erhebliche Einsparungen oder gar Rationierungen nötig sein, wenn die Lieferungen aus Russland, wie nicht anders zu erwarten ist, ausbleiben.
Überdies gibt es in Europa zahlreiche Länder, die trotz der Einsparaktivitäten und neuer Lieferanten noch immer stark von russischer Energie abhängig sind und aufgrund der Energiepreiserhöhungen schon am Rande einer Rezession stehen. Dazu zählen osteuropäische Volkswirtschaften wie Bulgarien, Ungarn und die Tschechische Republik, aber auch Finnland und Österreich. Ein abrupter Lieferstopp für alle EU-Länder würde die Energiekrise durch Preiserhöhungen für Gas und Strom erheblich verstärken.
Preisdeckel oder Importembargos für Energie aus Russland werden wohl kaum Änderungen an der russischen Kriegspolitik auslösen. Der Ausfall an Deviseneinnahmen wäre für Russland angesichts der hohen Devisenpolster für einige Zeit verkraftbar. Für die Finanzierung des Krieges spielen sie ohnehin nicht die ausschlaggebende Rolle. Die langfristige Schwächung der russischen Volkswirtschaft durch dauerhafte niedrige Energieexporte in die Märkte der OECD-Länder wären allerdings gravierend.
In Anbetracht der jüngsten Eskalation des Konflikts und der Teilmobilmachung Russlands darf man jedoch bezweifeln, dass diese Langfristwirkungen im politischen Kalkül Putins eine Rolle spielen. Möglicherweise wird darauf vertraut, dass man die Energielieferungen in befreundete Staaten wie China und Indien langfristig entsprechend erhöhen könnte.
Die Umlenkung von Handels- und Kapitalströmen ist bereits in vollem Gange. China hat seine Exporte nach Russland über die Jahre massiv ausgebaut und ist schon vor dem Krieg der mit weitem Abstand grösste Lieferant Russlands geworden; eine Position, die vor zwanzig Jahren noch Deutschland innehatte.
Die Bündnisse zwischen Russland und China sowie die mit anderen autokratischen Staaten werden deutlich stärker, auch wenn die jüngste Eskalation im Ukrainekrieg etwa in China politisch missfällt. Die Aussicht auf günstige Energie- und andere Rohstoffimporte aus Russland ist für viele Schwellenländer äusserst positiv, denn sie verspricht höheren Wohlstand und neue Wettbewerbsvorteile gegenüber den entwickelten Volkswirtschaften.
Wenn sich die Entwicklung so fortsetzt, wie das sich in diesem Jahr abzeichnet, werden sich die Handelsströme und die Kapitalströme etwa zwischen Russland, China und den ihnen politisch und wirtschaftlich nahestehenden verbündeten Staaten intensivieren. Und gleichzeitig werden die demokratischen Länder des Westens zusammen mit entwickelten Volkswirtschaften Asiens den Handel und den Kapitalverkehr untereinander intensivieren. Die Globalisierung wird nicht enden, aber ihr Muster ändern.
Man muss sich wohl darauf einstellen, dass die Kämpfe in der Ukraine für geraume Zeit weitergehen werden. Sanktionen werden die Situation kurzfristig wohl kaum verändern, eher militärische Misserfolge der russischen Armee. Da ein Waffenstillstand und politische Verhandlungen nicht absehbar sind, müssen sich insbesondere die europäischen Länder auf eine längere Phase der Belastungen und der Energieknappheit einstellen. Die Bereitschaft der Bevölkerung, harte Einschränkungen aufgrund der Sanktionen und der Gegenreaktionen zu akzeptieren, wird allerdings auf die Probe gestellt werden.
Sanktionen, die den Adressaten nicht entscheidend schwächen und nicht zu politischen Zugeständnissen bewegen, aber gleichzeitig den Initiator wirtschaftlich stark treffen, werden immer schwerer vermittelbar werden. Wirtschaftspolitisch wird das zur Folge haben, dass noch weitere Entlastungspakete für die privaten Haushalte und die betroffenen Unternehmen verabschiedet werden dürften. Das wird zu zunehmender Verschuldung der öffentlichen Haushalte führen und damit sehr langfristige Auswirkungen der Ukrainekrise zur Folge haben.
Eine Lockerung der Sanktionen steht derzeit politisch nicht zur Debatte, da keine Verhandlungsangebote Moskaus gegeben sind. Die langfristigen Schäden für die russische Wirtschaft scheinen keine Bereitschaft zum Umsteuern auszulösen und kurzfristig ist der wirtschaftliche Druck für Russland verkraftbar. Die Krise wird über militärische und politische Prozesse gelöst werden müssen, nicht über Sanktionen. Gelingt das in naher Zukunft nicht, wird Russland mit seinem gewaltigen Rohstoffreichtum immer stärker zum Verbündeten Chinas und anderer autokratischer Staaten werden.
Die Unsicherheit über den Ukrainekonflikt und die Versorgungslage sowie die Preisentwicklung an den Energie- und Rohstoffmärkten wird auf unbestimmte Zeit anhalten.
Dies sowie die Erwartung einer rezessiven Entwicklung vor allem in den europäischen Volkswirtschaften sollte in den Bewertungen der Börsen allerdings schon weitgehend enthalten sein. Sie haben ja zuletzt erheblich nachgegeben.
Das Drohpotenzial Russlands hat mit den rückläufigen Marktanteilen an der Energieversorgung der westlichen Länder stark abgenommen. Insofern dürfte auch ein Anhalten des Konflikts einer späteren Erholung der Kurse nicht im Wege stehen. Entscheidend dafür ist die Aussicht auf einen Rückgang der derzeit sehr hohen Inflationsraten und damit die Erwartung einer weniger restriktiven Geldpolitik. Diese Entwicklungen sind nicht völlig unabhängig von der Entwicklung in der Ukraine, aber doch in viel stärkerem Masse von der weltwirtschaftlichen Entwicklung und der Ausrichtung der wichtigsten Zentralbanken abhängig.