Das Umfeld ist derzeit äusserst anspruchsvoll. Dennoch zeichnet sich keine breite Baisse ab, dafür ist der Markt zu heterogen. Treiber sind allerdings Unternehmensnachrichten und nicht Makrodaten.
Man muss wohl etwa neunzig Jahre zurückblicken, um eine Epoche vorzufinden mit einer vergleichbaren Ballung an Problemen, die sich zu Katastrophen auswachsen könnten, wie heute. Kein Wunder, ist Pessimismus weit verbreitet.
Katie Martin berichtet in ihrer Kolumne «The Long View» in der «Financial Times» vom 18. Februar, dass die monatlich von der Bank of America veröffentliche Umfrage unter Fondsverwaltern die konjunkturellen Aussichten ähnlich negativ beurteilt wie im März 2020, kurz bevor die Zentralbanken die Geldschleusen zur Dämpfung der Auswirkungen der Pandemie öffneten.
In seiner immer lesenswerten Kolumne in der «NZZ am Sonntag» schrieb Prof. Tobias Straumann in der Ausgabe vom 26. Februar, dass «die Lage weit weniger rosig» sei, «als die Anleger glauben». Das zeige sich, «sobald wir über den Tellerrand der Finanzmärkte hinausschauen».
In besagter Kolumne von Katie Martin zitiert die Autorin zwei professionelle Akteure, die in der Welt der Kapitalanlagen für ihre über viele Jahre belegte Urteilskraft bekannt sind.
Einer ist Dario Perkins von TS Lombard, der andere Patrick Spencer vom amerikanischen Anlagehaus Robert W. Baird & Co. Inc.
Nach Perkins wird die Rezessionsgefahr überschätzt, und Patrick Spencer, der seit Oktober des letzten Jahres im Lager der Bullen auffällt, sagt, den am meisten verhassten Bullenmarkt aller Zeiten zu erleben. Er wird in der Tat mit «the most hated bull market of all times» zitiert.
Das ist alles sehr interessant, für Anlegende in Zeiten wie diesen, in denen kaum alle denkbaren kursrelevanten Faktoren quantifizierbar sind und sich zusätzlich widersprechen, jedoch wenig hilfreich. Ganz im Gegensatz dazu «Messis Lektion für Anleger» von Albert Steck in der «NZZ am Sonntag» vom 26. Februar.
Der lesenswerte Beitrag wird mit einer Grafik unterlegt, die zeigt, welchen Schaden durch das Verhalten angerichtet wird, der als «Fehler Nummer 1» im Beitrag erwähnt wird, und der lautet: «Ein grosser Anteil der Anleger ist stark risikoavers».
Auf die Tücken des Investorenlebens, die sich aus dem von Kahneman und Tversky erarbeiteten Befund ergibt, dass wir Menschen Risiko und Chancen systematisch asymmetrisch bewerten, habe ich schon in vielen Beiträgen hingewiesen. Die dadurch ausgelösten Fehlentscheide an den Aktienmärkten sind wohl für riesige verpasste Gewinne verantwortlich, weil wie jetzt die Risiken so hoch bewertet werden, dass man die Chancen nicht sieht. Zum Beispiel jene, die zu einer prominenten Wortschöpfung geführt haben: «Reshoring». «The Market» hat zu diesem Thema mehrere interessante Beiträge veröffentlicht, darunter am 14. Februar 2023.
Wir alle wissen zu wenig, um beurteilen zu können, welche Gefahr für unser Vermögen droht, wenn beispielsweise das eintritt, was Professor Straumann über den Tellerrand hinaus erblickt, nämlich eine Pleite Pakistans. Wir wissen nicht nur nicht, wie der Markt mit einer allfälligen Pleite umgehen würde, sondern auch nicht, ob sie kommt oder nicht. Auch das Fachwissen von Dario Perkins und Patrick Spencer gilt nur, wenn die bei Ökonomen übliche «ceteris paribus»-Bedingung eintritt.
Hier kommt genau das ins Spiel, was Friedrich von Hayek als nicht überwindbare Wissenslücken bezeichnet hat. Sie scheinen sehr schwer zu verinnerlichen zu sein. Wir verwenden sehr viel Zeit darauf, Antworten auf Fragen zu finden, auf die es in einem komplexen System keine Antwort gibt. Wir müssen unsere Ansprüche zurückschrauben auf ein Niveau, das uns ermöglicht, mit Disziplin und beschränktem Wissen das Richtige zu tun, ohne wissen zu können, warum es das Richtige ist, wie Friedrich von Hayek es formulierte.
Der wichtigste Entscheid dreht sich immer um die Allokation: Welche Quote eines Vermögens soll in welche Anlageklasse geleitet werden? Das ist der entscheidende strategische Fixpunkt. Alles andere ist Taktik. Und diese liegt in der Wahl der methodischen Anpassung an den Marktprozess. Mittel der Wahl in meiner Erfahrung, und auch unterlegt durch die wissenschaftliche Forschung, sind relative Stärke, Kursmomentum und die Veränderungsrate der Volatilität.
Dabei muss man vor allem darauf achten, die grössten Verlierer zu meiden. Auch in der Phase, in der die Aktienindizes grosso modo um rund 20% gestiegen sind, sind je nach Markt 30 bis 40% der Konstituenten um 10 bis 20% gefallen, und weitere 2 bis 5% haben noch deutlich höhere Verluste erlitten. Als langfristiger Investor muss man vermeiden, im Rückblick festzustellen, deutlich schlechter abgeschnitten zu haben als eine mit Bedacht gewählte Messlatte. Genau das trifft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein, wenn der Rückgriff auf gesamtwirtschaftliche oder unternehmensspezifische Daten die Wahrnehmung des tatsächlichen Marktprozesses verbarrikadiert.
Den «unerschütterlichen Optimismus», den Professor Straumann und viele andere sehen, vermag ich nicht zu erkennen. Dafür ist der Markt viel zu selektiv unterwegs. Die stark diversifizierten Indizes verdecken diesen Aspekt. Trotz Zunahme der Marktbreite sind die Anlegenden sehr kritisch im Umgang mit Unternehmensmeldungen und Daten. Unternehmen, deren Aktien lange Zeit relativ schwach waren und erst neuerdings relative Stärke aufgebaut haben, sind mit ausgezeichneten Resultaten und positiven Ausblicken aufgefallen.
Das zeigt, dass die Anlegenden ihre Hausaufgaben mehrheitlich gemacht haben. Es sind deren Handlungen, die zu Kursanstiegen geführt haben, und nicht die im Nachhinein bekannt gewordenen Unternehmensdaten. Euphorische Märkte haben keine Zeit für Hausaufgaben. Aber die von den Unternehmen erzielten Ergebnisse haben den Befund der fundamentalen Analysten bestätigt. Das ist nicht in jeder Marktphase so. Aber das ist das vorherrschende Regime an den Aktienmärkten seit nunmehr rund einem Jahr.
Um es nochmals klar auszudrücken: Die Handlungsursache liegt mit Schwergewicht auf den Unternehmensleistungen und nicht auf den Makrodaten. Auch das ist nicht immer so, aber Merkmal der jetzigen Marktverfassung.
An dieser Stelle möchte ich auf eine Darstellung zurückkommen, die ich bereits am 17. März 2022 gezeigt habe:
Es handelt sich um einen Quartalschart des MSCI Welt mit 20-Quartals-Bollinger-Band. Gelb markiert hatte ich damals die Perspektive, die sich für den Markt aus den vorliegenden Daten ergab. Das ist nach wie vor meine Vorstellung der weiteren Marktentwicklung. In wenigen Worten ausgedrückt ist es eine Phase, in der es immer wieder zu Überreaktionen in beide Richtungen kommen wird, mit dem Ergebnis einer über viele Quartale sich erstreckenden Seitwärtsbewegung insbesondere in den breit gefassten Indizes.
Wenn derart breit gefasste Indizes wie der MSCI Welt ein solches Muster entwickeln wie in der gelben Markierung, gibt es auf tieferer Ebene Auf- und Abwärtstrends, insbesondere bei einzelnen Industrien in den Sektoren und natürlich bei einzelnen Aktien. Das eröffnet einigen taktischen Spielraum, doch eines muss immer bedacht werden: Man taktiert in kleinen Schritten. Mut ist nicht die Eigenschaft, die erfolgreiche Börsianer auszeichnet. Die entscheidende Eigenschaft ist Demut.