Geopolitische Spannungen und die wachsende Staatsverschuldung bringen besonders die Volkswirtschaften in Europa in eine ungemütliche Lage. Die Achterbahnfahrt an den Aktienmärkten ist noch lange nicht vorbei.
Kapitalanleger mussten sich im Lauf der letzten beiden Generationen kaum je Gedanken machen zur politischen und geopolitischen Weltlage. Einzelne wichtige Ereignisse waren nach wenigen Tagen von den Märkten jeweils vergessen und spielten keine Rolle.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfreuten wir uns im Westen einer stabilen Lage in der bipolaren Weltordnung mit den beiden Grossmächten USA und Sowjetunion, die ihre jeweiligen Satelliten unter Kontrolle hielten. Mit dem Fall der Mauer öffnete sich die vormals kommunistische Welt, und die Globalisierung setzte vehement ein. Das Universum für die Unternehmen erweiterte sich entsprechend und eröffnete neue Geschäfts- und Wachstumsmöglichkeiten. Zudem war die Welt friedlich, ausser in für die Weltwirtschaft unbedeutenden Regionen.
Jetzt haben wir eine neue Situation. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die westliche Allianz gestärkt, aber gleichzeitig auch die Allianz um China mit Russland, Iran, den Golfstaaten und vielen zugewandten Orten gefestigt. Die Grafik zeigt in Blau alle Nationen, für welche die USA der wichtigere Handelspartner sind als China, und in Rot alle Nationen, die mehr Handel mit China als mit den USA treiben. Das Bild oben zeigt die Welt im Jahr 2000, das Bild unten im Jahr 2020.
Es ist offensichtlich, dass China im Lauf der letzten 20 Jahre zur einflussreichsten Handelsmacht geworden ist. Natürlich hat sich China nicht immer fair verhalten, aber keiner der vorangegangenen Aufsteiger agierte anders, auch die USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht, als sie die Aufsteiger waren. Die USA, die in den letzten Jahren laufend an Einfluss eingebüsst haben, wehren sich nun gegen den Aufsteiger China. Washington belegt den Emporkömmling mit Strafzöllen und seit kurzem mit Ausfuhrverboten, besonders im High-Tech-Bereich. Zudem hat Präsident Biden China offiziell zum Feind erklärt.
Die bisherige Weltmacht USA fühlt sich vom Aufsteiger China herausgefordert. Es ist die klassische Thukydides-Falle. Dieser Konflikt wird sich im Lauf der Zeit weiter verstärken, nicht zuletzt, weil die USA den Herausforderer in die Schranken weisen wollen.
Es geht um Macht und Einfluss. China versteht nicht, was die Amerikaner in Asien verloren haben, so wie Russland nicht versteht, was die USA vor seiner Haustür in der Ukraine zu suchen haben. Und das potenzielle Zusammenwachsen Europas mit Russland und Asien ist Washington ein Dorn im Auge.
Heute ist Deutschland der grösste ausländische Investor in China; Deutschland betreibt inzwischen mehr Handel mit China als mit den USA. Der Krieg in der Ukraine gab den USA die Macht, Europa zu zwingen, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist der Handel mit Russland gekappt und das wirtschaftliche Zusammenwachsen auf dem Eurasischen Kontinent verhindert, oder zumindest lange aufgeschoben. Was Deutschland machen wird, wenn sich der Konflikt zwischen den USA und China verschärft, ist allerdings fraglich. Wer jahrelang als Schosshündchen der USA in deren Seitenwagen mitfährt, hat schlechte Karten und wird zum grossen Verlierer. Die pazifistische Politik Europas rächt sich nun, der Preis dafür ist hoch.
Die Golfstaaten haben sich derweil von den USA abgewandt. Saudi-Arabien und andere Golfstaaten verkaufen ihr Öl nach China gegen Renminbi. Damit ist der Petrodollar Geschichte – ein historisches Ereignis, denn die Abmachung zwischen Washington und Riad von 1944 war, dass die USA das saudische Regime schützen und die Saudis ihr Öl nur gegen Dollar verkaufen. Das ist wohl nur der Anfang einer Entwicklung, welche die wirtschaftlichen und politischen Einflussfaktoren Washingtons schmälern wird.
Neben diesen geopolitischen Veränderungen zeichnen sich in den Staatsfinanzen des Westens erhebliche Verwerfungen ab. Stand die globale Verschuldung der Welt in Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) 1970 noch bei 110% und im Jahr 2000 bei 155%, so lag sie 2020 bereits bei 256%. Weitere zwei Jahre später liegt sie heute bei 360%. Die Beschleunigung ist offensichtlich. Die USA, vor 20 Jahren mit einer Staatsverschuldung von 6 Bio. $, stehen heute bereits bei 31,4 Bio., was mehr als 130% des BIP entspricht. Das ist bald in der Nähe von Italien mit 162%.
Deutschland steht mit 70% des BIP auf den ersten Blick noch gut da. Doch bei näherer Betrachtung wird einem schwindlig, denn die nicht ausgewiesenen Verbindlichkeiten (primär Verpflichtungen für die staatliche Rente der Bürger) belaufen sich auf 330%, was gesamthaft 400% ausmacht. Die Schweiz mit einer Verschuldung von lediglich 35% des BIP ist gesund und damit einer der wenigen Lichtblicke im Westen.
Deutschland, hier als Beispiel genannt, schrieb in den letzten Jahren jeweils ein Staatsdefizit von etwas über 100 Mrd. €. Dieses Jahr wird es wohl auf gut 400 Mrd. € steigen. Das ist doppelt so viel wie unmittelbar nach der Wiedervereinigung und entspricht rund 10% des BIP! Darin enthalten sind die Kosten der Energiesubvention.
Dies ist aber nur die erste Ratenzahlung für die grün-rote Energiewende der Merkel-Regierung (CDU). Weitere Ratenzahlungen werden für diese infantile Politik folgen. Zudem soll die Bundeswehr endlich etwas aufgerüstet werden mit 100 Mrd. €. Hier ein paar Euros, dort ein paar Euros und plötzlich sprechen wir über viel Geld.
Während in den vergangenen Jahren die Notenbanken diese steigenden Staatsschulden kauften – die EZB besitzt beispielsweise bereits 44% der italienischen Staatsanleihen –, so war dies in einem Umfeld von Tiefstzinsen problemlos möglich. Aber der langfristige Trend der Zinsen hat nach oben gedreht. Die Inflation wird nach einer temporären Reduktion in diesem Jahr – Grund dafür sind der Basiseffekt und tiefere Energiepreise – wieder steigen. Das bedeutet, auch die Zinsen werden wieder steigen. Das stellt die Tragbarkeit der Zinslast auf die Probe.
Wer soll in den kommenden Jahren noch Staatsanleihen kaufen? Private werden sie kaum mehr kaufen, und institutionelle Investoren werden nur noch im Rahmen der staatlich vorgeschriebenen Vorschriften ein Engagement eingehen. Es wird also abermals an den Notenbanken liegen, dass sie die massiv wachsende Neuverschuldung über die Notenpresse finanzieren. Im Moment halten sie sich zurück, aber sobald die Konjunktur weich wird oder die Märkte einbrechen, werden sie das System über die Notenpressen – vermeintlich – stützen.
Die Länder der «BRICS+» werden ihre Überschüsse derweil nicht mehr in westlichen Währungen anlegen, denn mit dem Einfrieren und der Konfiskation von russischen Geldern haben die westlichen Regierungen ihre Währungen als «nur noch für Freunde der USA» investierbar gemacht. Die anderen werden wohl ihre Reserven vermehrt in Rohstoffen anlegen und im eigenen Land lagern.
Wenn aber die Überschüsse in den Leistungsbilanzen der Rohstoff-Förderstaaten nicht mehr rezykliert werden – der Westen ist nun der Defizit-Block –, dann kann sich der Westen nur noch über die Notenpresse finanzieren, oder die Zinsen steigen derart hoch, dass die Konjunktur einbricht. Das Verständnis für diese volkswirtschaftlichen Zusammenhänge fehlt in praktisch allen westlichen Hauptstädten.
Anfang der Achtzigerjahre machte ich in diversen Vorträgen die Aussage, dass dies nun der Höchstpunkt der Zinsen für eine Generation sei und prägte den Slogan «Buy of a Generation» für Anleihen. Im Juni 2020 betitelte ich einen Report an meine Kunden mit «Sell of a Generation» für Anleihen.
Wenn die Zinsen sich in den nächsten Jahren weiter nach oben schaukeln, dann werden wohl im Lauf der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts diverse Industriestaaten Bankrott gehen, so wie wir dies von Argentinien, Sri Lanka, Venezuela oder dem Libanon gewohnt sind. Nach der Schuldenorgie kommt der Bankrott nun zu den Industrieländern. Diese Entwicklung ist meines Erachtens nicht mehr aufzuhalten – es ist lediglich eine Frage der Zeit.
Aber kurzfristig kann diese Schuldenorgie paradoxerweise positive Konsequenzen für die Aktienmärkte haben. Wieso? Das US-Schatzamt hat ein Konto bei der US-Notenbank, und weil die Regierung demnächst die vom Kongress definierte Schuldenlimite erreicht hat, bezahlt sie ihre Rechnungen über dieses Konto. Dadurch werden direkt Depositen im Banken- und damit Liquidität im Finanzsystem geschaffen. Seit Juni 2022 wurde dieses Konto von fast 1000 Mrd. $ auf kürzlich nur noch 300 Mrd. $ abgebaut. Das hat die Erholung an den Aktienmärkten ausgelöst, denn diese Liquidität im Umfang von fast 700 Mrd. $ ist marktwirksam.
Steuereingänge haben in diesem Monat das Konto alimentiert und den Status auf rund 560 Mrd. $ angehoben. Es ist möglich, dass damit der Saldo genügt bis im August, da ab Mitte April Steuerzahlungen an die US-Regierung eingehen werden.
Sollte jedoch das kumulierte Defizit von Anfang Jahr bis März über 400 Mrd. $ liegen – und das ist nicht unrealistisch -, dann würde die US-Regierung vor Mitte April technisch zahlungsunfähig werden. Der politische Zirkus im Kongress wird dafür sorgen, dass die Schuldenlimite nicht vorher erhöht wird. Deshalb könnten die Anleiherenditen trotz sich abschwächender Konjunktur nochmals steigen.
Es ist zudem eine weitere wichtige Entwicklung im US-Geldsystem zu beobachten. In Geldmarktfonds (Money Market Funds, MMF) werden zurzeit über 5 Bio. $ parkiert. Andererseits gibt es nur etwas mehr als 3 Bio. $ Treasury Bills, also Staatsanleihen mit maximal zwölf Monaten Laufzeit. Deshalb sind diese Geldmarktfonds ausgewichen und haben beim Fed gegen 3 Bio. $ in der sogenannten Reverse Repo Facility geparkt. Dabei kauft ein Geldmarktfonds kurzfristige Staatspapiere vom Fed, das Fed kauft sie auf einen Zeitpunkt von ein paar Tagen oder Wochen als Termingeschäft wieder zurück und bezahlt einen Zins darauf. Die stark wachsenden MMF entziehen dem Bankensystem Depositen und schränken damit die Kreditgewährung der Banken ein. Derzeit schrumpfen die Depositen, was die Kreditgewährung der Banken hemmt und die Konjunktur schwächt. Gleichzeitig ziehen Anleger etwas Geld bei den MMF ab und zocken damit am Aktienmarkt. Das gibt den Eindruck einer stabilen Börse, obwohl die Konjunktur sich abkühlt.
Wann dieses Kartenhaus einbricht, ist unklar, aber spätestens, wenn die Unternehmensergebnisse enttäuschen, wird eine unbequeme Wahrheit an die Oberfläche kommen. Sollte dies mit einer Zahlungsunfähigkeit der US-Regierung zusammenfallen, dann würde die Stimmung wieder negativ und die Kurse fallen.
Zudem sieht es in der Ukraine schlecht für die USA/Nato aus, denn die Ukraine wird diesen Krieg nie gewinnen können und vermutlich verlieren. Ich rechne im Winter mit einer russischen Offensive, welche dies klar machen könnte. Schwache Unternehmensergebnisse kombiniert mit unerfreulichen geopolitischen Entwicklungen könnten zu einem Taucher der Aktienmärkte führen.
In einem solchen Fall würden die Notenbanken Angst kriegen und ihre Geldpolitik wieder lockern – was die Aktienkurse beflügeln würde. Die Achterbahnfahrt, die ich an den Märkten für dieses Jahrzehnt erwarte, wird weitergehen. Schnallen Sie sich an, das Auf und Ab ist noch lange nicht vorbei!