Meinung

Die Glaubwürdigkeit der Nationalbank steht auf dem Spiel

Die Inflation in der Schweiz liegt deutlich über dem Ziel der Schweizerischen Nationalbank. Schuld daran sind vor allem die steigenden Energiekosten. Diese kann die SNB zwar nicht beeinflussen – trotzdem sollte sie die Zinsen im September erneut stark anheben.

Fabio Canetg
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Nationalbank-Präsident Thomas Jordan ist ein stoischer Mann. Sein Mantra verriet er in einem seiner raren Interviews 2018 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung: «Nie die Nerven verlieren, ruhig bleiben und sich immer wieder fragen: Was ist das Ziel?»

Das Ziel von Thomas Jordan ist eine Teuerungsrate zwischen null und zwei Prozent. Und dieses Ziel verpasst er momentan ziemlich klar: Die Preise für einen typischen Schweizer Warenkorb lagen zuletzt 3,4% höher als im Vorjahr. Damit war die Inflation so hoch wie zuletzt in den frühen Neunzigerjahren.

Um die Teuerung zu bremsen, hat die Nationalbank im Juni ihren Leitzins um 0,5 Prozentpunkte auf –0,25% erhöht. Trotzdem gebe es nun Anzeichen von Preissteigerungen auf noch breiterer Front, so Jordan am Zentralbanksymposium im amerikanischen Jackson Hole von Ende August. Es droht also eine noch höhere Inflation.

Die Nerven verliert Jordan deswegen aber nicht. Er weiss nämlich: Er und seine Kolleginnen im SNB-Direktorium trifft keine Schuld an der hohen Inflation. Ohne Pandemie und die immer wieder geschlossenen Häfen in China gäbe es kaum Lieferschwierigkeiten, etwa bei wichtigen Vorprodukten für Autos wie Halbleiter. Und ohne den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wären die Gaspreise nicht so drastisch gestiegen. Allein die Energiepreise sind für fast die Hälfte der Schweizer Inflation verantwortlich.

Jordan weiss aber auch: Er kann weder Halbleiter für die Industrie produzieren noch eine Energieknappheit im Winter verhindern. Deshalb kritisieren vornehmlich linke Ökonomen die Zentralbanken jetzt auch für ihren Aktivismus: Es bringe kaum etwas, die Zinsen stark zu erhöhen, weil das nichts an der Knappheit von Autos und Gas ändern – und deshalb auch deren Preis nicht runterbringen würde. Deutlich höhere Zinsen würden einzig die Wirtschaft bremsen, und das unnötigerweise.

Ökonomisch mag das stimmen, polit-ökonomisch greift diese Argumentation aber zu kurz. Jordan hat nämlich noch ein weiteres Ziel neben der Preisstabilität: die Glaubwürdigkeit der Nationalbank. Und diese Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel, wenn Jordan am 22. September nicht erneut kräftig an der Zinsschraube dreht.

Zeichen für die Zukunft setzen

Wenn die Zentralbanken nämlich der (möglicherweise richtigen) Argumentation der Linken folgten, dann würden wir in ein paar Jahren zurückblicken auf mehrere Monate mit deutlich zu hoher Inflation – und einer gleichzeitig nur bescheidenen Reaktion der Zentralbanken. Niemand würde das verstehen.

Die Nationalbank könnte auch mit ausgeklügelten statistischen Verfahren nie zweifelsfrei beweisen, dass die Preise auch mit stärkeren Zinserhöhungen weiter gestiegen wären. Man würde ihr vorwerfen, die Zinsen im Sinne der Linken zu wenig erhöht zu haben. Und bei einer nächsten Inflation würden sich die Haushalte und Firmen zu Recht fragen: Wird die Nationalbank auch dieses Mal nur zaghaft reagieren?

Das wäre problematisch, weil die Nationalbank davon lebt, dass wir alle glauben, dass sie die Inflation unter Kontrolle hat. Dieser Glaube macht, dass wir nicht jedes Jahr übermässige Lohnerhöhungen fordern. Dieser Glaube macht auch, dass sich Firmen mit Preiserhöhungen zurückhalten, weil sie wissen: Auch ihre Konkurrenten werden das tun. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. In den USA liegt die Teuerung zurzeit bei 8,5%; in der Eurozone bei 8,9%. Im Vergleich dazu ist die Schweizer Teuerung tief – auch deshalb, weil wir der SNB vertrauen.

Die Nationalbank kann ihre Glaubwürdigkeit über diese Inflationsperiode hinaus retten. Allerdings nur dann, wenn Jordan und Co. jetzt entschieden auf die zu hohe Teuerung reagieren. Die Nationalbank sollte die Zinsen deshalb um mindestens 0,75 Prozentpunkte anheben – die Steilvorlage dazu hat sie ohnehin bereits von der Europäischen Zentralbank erhalten. Nur so wird die SNB später nicht dem Vorwurf ausgeliefert sein, sie hätte zu wenig getan gegen die steigenden Preise.

Zur Person

Fabio Canetg hat an der Universität Bern und an der Toulouse School of Economics zum Thema Geld­politik doktoriert. Heute ist er Dozent MAS an der Universität Bern. Als Journalist arbeitet er für die SRF Arena und den SRF Club, das Republik Magazin und swissinfo.ch. Er moderiert den Geldpolitik-Podcast «Geldcast» von swissinfo.ch.
Fabio Canetg hat an der Universität Bern und an der Toulouse School of Economics zum Thema Geld­politik doktoriert. Heute ist er Dozent MAS an der Universität Bern. Als Journalist arbeitet er für die SRF Arena und den SRF Club, das Republik Magazin und swissinfo.ch. Er moderiert den Geldpolitik-Podcast «Geldcast» von swissinfo.ch.