Meinung

I Beg to Differ

Wer überdurchschnittliche Renditen erzielen will, darf sich nicht konventionell verhalten und gleich denken wie der Konsens an den Märkten. Mit anderen Worten: Man muss etwas anders machen als die breite Masse.

Howard Marks
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In meinen Memos an die Kunden von Oaktree Capital habe ich schon oft erwähnt, dass meine Karriere in der Investmentbranche 1969 begann, als der Boom der «Nifty Fifty»-Aktien in voller Blüte stand. Mein erster Arbeitgeber, die First National City Bank, und viele andere «Money- Center-Banken» (die seinerzeit führenden Vermögensverwalter) waren von diesen Unternehmen mit ihren robusten Geschäftsmodellen und makellosen Perspektiven begeistert. An der Börse war die Einstellung zu diesen Aktien durchwegs positiv, und Portfoliomanager hatten mit Blick auf die Zahlen ein überaus gutes Gefühl. So hiess es damals zum Beispiel häufig: «Man kann nicht gefeuert werden, wenn man IBM kauft» – zu dieser Zeit war das das Wachstumsunternehmen schlechthin.

Ausführlich habe ich ebenso über das Schicksal dieser Aktien geschrieben. In den Jahren 1973 bis 1974 lösten das Ölembargo der OPEC und die daraus resultierende Rezession einen Einbruch des S&P 500 um insgesamt 47% aus. Noch viel schlechter erging es vielen «Nifty Fifty»-Titeln, von denen man geglaubt hatte, dass für sie «kein Preis zu hoch» sei: Bei vielen sank das Kurs-Gewinn-Verhältnis von Spitzenwerten um 60 bis 90 auf ein Tief im einstelligen Bereich. Vormals begeisterte Anleger verloren nahezu ihr gesamtes Geld mit Aktien von Unternehmen, von denen «jeder wusste», dass sie hervorragend waren. Für mich war das die erste Gelegenheit, um beobachten zu können, was mit Vermögenswerten passieren kann, die auf dem – wie ich es bezeichne – «Siegerpodest der Popularität» stehen.

1978 wurde ich gebeten, in die Bondabteilung der Bank zu wechseln, um Fonds für Wandelanleihen und wenig später hochverzinsliche Anleihen aufzulegen. Nun investierte ich in Wertpapiere, die von den meisten Treuhändern als «nicht investierbar» erachtet wurden. Praktisch niemand kannte sie, niemand interessierte sich für sie, und niemand hielt sie für ein lohnenswertes Investment ... und ich verdiente mit ihnen kontinuierlich und sicher Geld. Ich erkannte schnell, dass meine solide Performance zu einem grossen Teil auf genau dieser Tatsache basierte: Ich investierte in Wertpapiere, die praktisch niemand kannte, für die sich niemand interessierte oder die niemand für lohnenswert hielt.

Dies verdeutlichte mir die wichtigste Lektion zur Hypothese effizienter Märkte, die ich an der University of Chicago Business School gelernt hatte: Wenn man überdurchschnittliche Anlageergebnisse erzielen will, muss man in Dinge investieren, auf die sich andere nicht bereits gestürzt haben und die deshalb nicht anspruchsvoll bewertet sind. Mit anderen Worten: Man muss etwas anders machen.

Der ausschlaggebende Unterschied

Im Jahr 2006 verfasste ich ein Memo mit dem Titel «Dare to Be Great». Darin ging es vor allem darum, sich hohe Ziele zu stecken. Auch enthielt es eine Tirade gegen Konformität und Bürokratie beim Investmentprozess sowie die Behauptung, dass der Weg zu überdurchschnittlichen Renditen zwangsläufig über Unkonventionalität führt. Der Kernpunkt dieses Memos, auf den mich die Leute bis heute ansprechen, ist ein simples Schema mit einer Doppelmatrix:

Das Schema hatte ich folgendermassen erklärt:

Natürlich ist es nicht einfach und ganz so offensichtlich, aber ich denke, es stellt die generelle Situation treffend dar. Wenn Sie und Ihre Führungskräfte sich konventionell verhalten, dann werden Sie wahrscheinlich konventionelle Ergebnisse erzielen - gute oder schlechte. Nur wenn Ihr Verhalten unkonventionell ist, wird Ihre Performance voraussichtlich unkonventionell sein; und nur wenn sie überdurchschnittlich gute Entscheide treffen, wird Ihre Performance voraussichtlich über dem Durchschnitt liegen.

Die Konsensmeinung der Marktteilnehmer reflektiert sich in den Marktpreisen. Wenn man als Investor folglich über keine besseren Erkenntnisse verfügt als der Durchschnitt der Personen, die den Konsens bilden, dann sollte man auch bloss eine durchschnittliche risikobereinigte Performance erwarten.

Seit ich dieses Memo verfasst habe, ist viel Zeit verstrichen. Die Investmentwelt ist wesentlich anspruchsvoller geworden, aber die Aussage der Doppelmatrix und die dazugehörige Erklärung bleibt unverändert. Apropos simpel: Im betreffenden Memo hatte ich die Essenz auf einen einzigen Satz reduziert: «Hier die aktuellen News: Man kann nicht gleich vorgehen wie alle anderen und erwarten, dass man besser abschneidet.»

Am besten lässt sich das Konzept verstehen, wenn es in einem streng logischen und beinahe mathematischen Prozess durchgedacht wird (wie üblich stark vereinfacht, um das Prinzip besser zu veranschaulichen):

  • Eine bestimmte (aber nicht feststellbare) Anzahl Dollars wird in einem gegebenen Zeitraum von allen Anlegern gemeinsam mit einer einzelnen Aktie, in einem gewissen Markt oder in allen Märkten zusammen verdient werden. Dieser Betrag hängt davon ab, (a) wie sich die Unternehmen oder Vermögenswerte in fundamentaler Hinsicht entwickeln (z. B. in welchem Umfang die Gewinne wachsen oder sinken) und (b) wie die Leute diese Fundamentaldaten interpretieren und welchen Preis sie den Vermögenswerte beimessen.
  • Im Schnitt werden alle Anleger durchschnittlich abschneiden.
  • Wenn Sie mit dem Durchschnitt zufrieden sind, können Sie schlicht in eine breite Palette der betreffenden Vermögenswerte investieren. Dies, indem Sie einen Teil jedes Vermögenswerts im Verhältnis zu seinem Anteil im entsprechenden Anlageuniversum oder Index kaufen. Wenn Sie sich auf diese Weise wie der Durchschnitt verhalten, ist Ihnen eine durchschnittliche Performance garantiert. (Diese Idee steckt natürlich hinter Indexfonds.)
  • Wenn Sie überdurchschnittlich abschneiden wollen, müssen Sie vom konventionellen Verhalten abweichen. Sie müssen einige Wertpapiere, Anlageklassen oder Märkte übergewichten und andere untergewichten. Das heisst: Sie müssen etwas anders machen.
  • Die Herausforderung besteht darin, dass (a) die Preise aus dem kollektiven Denken aller Marktteilnehmer resultieren und (b) es für jeden Einzelnen schwer ist, beständig zu eruieren, wann der Konsens falsch liegt und ein Vermögenswert zu hoch oder zu niedrig bewertet ist.
  • Dennoch gehen «aktive Anleger» gezielte Wetten ein, um besser als der Durchschnitt abzuschneiden.

    ● Investor A ist der Meinung, dass Aktien insgesamt zu billig sind, und verkauft Anleihen, um Aktien in seinem Portfolio überzugewichten. Investor B hält Aktien für zu teuer und geht zu einer Untergewichtung über, indem er einen Teil seiner Aktien an Anleger A verkauft und den Erlös in Anleihen investiert.

    ● Investor X hält eine bestimmte Aktie für zu billig und übergewichtet sie, indem er sie von Investor Y kauft, der sie wiederum für zu teuer hält und deshalb untergewichten will
  • Entscheidend ist dabei, sich bewusst zu sein, dass in jedem der oben genannten Fälle ein Investor richtig liegt und der andere falsch. Kehren wir deshalb zum ersten Punkt dieser Aufzählung zurück: Da der Gesamtbetrag feststeht, den alle Anleger gemeinsam verdienen können, stellen alle aktiven Wetten zusammengenommen ein Nullsummenspiel dar (oder ein Negativsummenspiel nach Abzug von Kommissionen und anderen Kosten). Derjenige Anleger, der richtig liegt, erzielt eine überdurchschnittliche Rendite. Derjenige, der falsch liegt, verzeichnet per Definition eine unterdurchschnittliche Performance.
  • Als Konsequenz davon birgt jede aktive Wette, die auf eine überdurchschnittliche Rendite abzielt, das Risiko einer unterdurchschnittlichen Rendite. Es gibt keine Möglichkeit, eine aktive Wette so abzuschliessen, dass man gewinnt, wenn sie funktioniert, aber keinen Verlust davonträgt, wenn sie fehlschlägt. Innovationen in der Finanzbranche werden oft so beschrieben, als würden sie eine Version eines solchen unmöglichen Schnäppchens offerieren, dem Hype werden sie aber nicht gerecht.
  • Das Fazit der obigen Ausführungen liegt auf der Hand: Sie können nicht darauf hoffen, überdurchschnittliche Renditen zu erzielen, wenn Sie keine aktiven Wetten abschliessen. Wenn Ihre aktiven Wetten aber fehlschlagen, dann wird Ihre Rendite unter dem Durchschnitt liegen.

Investieren hat aus meiner Sicht viele Ähnlichkeiten zu Golf: Die Spielbedingungen und die Performance der Teilnehmer können sich von Tag zu Tag ändern, ebenso wie die Anordnung der Löcher. An manchen Tagen ist eine bestimmte Herangehensweise an den Platz angemessen, an anderen Tagen hingegen ist eine unterschiedliche Taktik gefragt. Um zu gewinnen, müssen Sie entweder einen besseren Ansatz als andere wählen und/oder ihn besser umsetzen.

Das Gleiche gilt für Investoren. Es ist ganz simpel: Wenn Sie hoffen, sich in Bezug auf Ihre Performance zu unterscheiden, müssen Sie sich von der Masse abheben. Setzt man sich aber von der Masse ab, resultiert nur dann ein positiver Unterschied, wenn die Wahl von Strategie und Taktik korrekt ist und/oder man in der Lage ist, sie besser umzusetzen.

Second-Level Thinking: Denken auf zweiter Ebene

Als der Verlag der Columbia Business School 2009 erwog, mein Buch «The Most Important Thing» zu veröffentlichen, wurde ich um ein Kapitel als Textprobe gebeten. Wie so oft setzte ich mich hin und stellte ein Konzept zusammen, über das ich zuvor noch nicht geschrieben oder es mit einem Namen bezeichnet hatte. Diese Skizze wurde zum ersten Kapitel im Buch, wobei es sich mit einem der wichtigsten Themen befasst: Second-Level Thinking: Denken auf zweiter Ebene. Es ist zweifellos das Konzept des Buches, nach dem ich am häufigsten gefragt werde.

Die Idee des Second-Level Thinking baut auf dem auf, über das ich in «Dare to Be Great» geschrieben habe. Zunächst bekräftigte ich darin meine Ansicht, dass Erfolg beim Investieren bedeutet, besser zu sein als andere. Alle aktiven Investoren (und natürlich auch die Vermögensverwalter, die einen Lebensunterhalt verdienen wollen) streben überdurchschnittliche Renditen an.

Diese allgemeine Prämisse macht es aber auch schwierig, den Markt zu schlagen. Millionen von Menschen konkurrieren beim Anlegen um den Gewinn jedes einzelnen Dollars. Wer wird ihn erhalten? Derjenige, der einen Schritt voraus ist. In manchen Bereichen bedeutet ein Vorsprung mehr Schulbildung, mehr Zeit im Fitnessstudio oder in der Bibliothek, bessere Ernährung, mehr Schweiss, längere Ausdauer oder besseres Equipment. Beim Investieren hingegen, wo solche Faktoren weniger zählen, ist mehr scharfsinniges Denken gefragt; und zwar auf der zweiten Ebene, wie ich es bezeichne.

Der Grundgedanke hinter dem Second-Level Thinking lässt sich einfach zusammenfassen: Um besser abzuschneiden, muss Ihr Denken anders und besser sein.

Vergegenwärtigen Sie sich dabei, dass Ihr Ziel beim Investieren nicht darin besteht, durchschnittliche Renditen zu erzielen; Sie wollen besser abschneiden als der Durchschnitt. Daher muss Ihre Denkweise besser sein als die der anderen - sowohl was die Denkkraft betrifft als auch das Niveau. Da andere Anleger möglicherweise klug sind, gut informiert und technologisch hochgradig ausgerüstet, müssen Sie einen Vorteil finden, den Ihre Konkurrenten nicht haben. Sie müssen an etwas denken, woran die anderen nicht gedacht haben, Aspekte erkennen, die andere übersehen, oder Erkenntnisse einbringen, über die andere nicht verfügen. Sie müssen anders reagieren und sich anders verhalten. Kurz gesagt: Richtig zu liegen mag eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg beim Anlegen sein, es reicht aber nicht aus. Sie müssen öfter richtig liegen als andere; und das bedeutet per definitionem, dass Ihr Denken anders sein muss.

Nachdem ich diese Argumentation damals in meinem Memo dargelegt hatte, unterschied ich zwischen den Leuten, die auf der zweiten Ebene denken, und denen, die auf der ersten Ebene arbeiten:

Das Denken auf der ersten Ebene ist einfach und oberflächlich, und so gut wie jeder kann es (immer ein schlechtes Zeichen, wenn man versucht, besser abzuschneiden). Alles, was man zum Denken auf der ersten Ebene braucht, ist eine Meinung über die Zukunft, zum Beispiel: «Die Aussichten für ein Unternehmen sind günstig, was bedeutet, dass der Aktienkurs steigen wird.»

Second-Level Thinking ist tiefgründig, komplex und vielschichtig. Wer auf der zweiten Ebene denkt, berücksichtigt enorm viele Faktoren:

  • Wie gross ist die Streubreite der wahrscheinlichen künftigen Ereignisse?
  • Welches Ereignis wird meiner Meinung nach eintreten?
  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich richtig liege?
  • Was denkt der Konsens?
  • Inwiefern weicht meine Erwartung von der generellen Ansicht ab?
  • Wie verhält sich der aktuelle Preis des Vermögenswerts zum Konsensdenken über die Zukunft und zu meiner Einschätzung?
  • Ist die Psychologie des Marktkonsens, die sich im Preis reflektiert, zu optimistisch oder zu pessimistisch?
  • Was passiert mit dem Preis des Vermögenswerts, wenn sich der Konsens als richtig erweist, und was, wenn ich Recht habe?

Es ist klar, dass zwischen dem Denken der ersten und der zweiten Stufe ein massiver Unterschied beim Aufwand besteht. Auch ist die Zahl der Menschen, die zum Second-Level Thinking fähig sind, winzig im Vergleich zur Zahl derjenigen, die nur auf der ersten Stufe denken können.

Wer auf der ersten Ebene denkt, sucht nach einfachen Formeln und simplen Antworten. Wer demgegenüber auf der zweiten Ebene denkt, weiss, dass Erfolg beim Investieren das Gegenteil von einfach ist.

Apropos Komplexität: Dieses Thema erinnert mich an einen wichtigen Gedanken, der in den Diskussionen mit meinem Sohn Andrew während der Pandemie aufkam (ich habe darüber im Memo «Something of Value» geschrieben, veröffentlicht im Januar 2021). In einem ausführlichen Teil des Memos geht es darum, wie effizient die meisten Märkte in den letzten Jahrzehnten geworden sind, wozu Andrew einen ausgezeichneten Punkt macht: «Leicht verfügbare quantitative Informationen in Bezug auf das gegenwärtige Geschehen können nicht als Grundlage für eine überlegenen Performance dienen.» Schliesslich hat jeder Zugang zu solchen Informationen – genau das bezweckt die Verordnung Reg FD (für faire Offenlegung) der US-Börsenaufsicht SEC bei kotierten Wertpapieren – und heutzutage sollten alle Anleger wissen, wie man solche Daten sortiert und nach bestimmten Faktoren durchkämmt.

Wie also können Anleger, die eine überdurchschnittliche Performance anstreben, darauf hoffen, ihr Ziel zu erreichen? In einem Podcast, in dem Andrew und ich uns zu «Something of Value» unterhielten, sagten wir, dass es dazu mehr als braucht als leicht verfügbare quantitative Informationen in Bezug auf die Gegenwart. Überlegenheit muss stattdessen aus der Fähigkeit resultieren,

  • die Signifikanz der öffentlich zugänglichen Daten besser zu verstehen,
  • die qualitativen Aspekte eines Unternehmens besser einzuschätzen und/oder
  • die Zukunft besser voraussehen zu können.

Selbstredend lässt sich keiner dieser Aspekte mit Sicherheit bestimmen, empirisch messen oder in absolut sichere Formeln verarbeiten. Anders als bei den gegenwärtigen quantitativen Informationen gibt es keine Quelle, an die man sich für einfache Antworten wenden kann. Alles ist eine Frage des Urteilsvermögens oder der Erfahrung. Menschen, die zum Second-Level Thinking fähig sind und somit über ein besseres Urteilsvermögen verfügen, werden aller Voraussicht nach überlegene Renditen erzielen. Diejenigen, die weniger einsichtig sind, werden wahrscheinlich eine schlechtere Performance erzielen.

Das alles bringt mich zurück auf eine Aussage von Charlie Munger, die er mir gegenüber etwa zu jener Zeit machte, als «The Most Important Thing» veröffentlicht wurde: «Die Idee ist nicht, dass es einfach ist. Jeder, der es einfach findet, ist dumm.» Wer glaubt, dass eine Formel für garantiert erfolgreiches Investieren existiert (und dass man sie sich aneignen kann), versteht überhaupt nicht, wie komplex, dynamisch und kompetitiv der Investmentprozess ist. Die Belohnung für überlegenes Investieren kann eine Menge Geld umfassen. In der hart umkämpften Arena des Investierens kann es nicht einfach sein, dass man derjenige ist, der die zusätzlichen Dollars einsteckt.

Eine Möglichkeit, sich von der Masse abzuheben

Abschliessend möchte ich Ihnen ein aktuelles Erlebnis schildern. Mitte Juni hielten wir in London unsere halbjährliche Oaktree-Konferenz, die auf eine ähnliche Veranstaltung in Los Angeles folgte. Das Thema, das mir bei beiden Konferenzen zugewiesen wurde, war das Marktumfeld. Während der Vorbereitung auf meine Präsentation in London stand ich vor einem Dilemma, denn zwischen den beiden Veranstaltungen hatte sich derart viel verändert: Am 19. Mai handelte der S&P 500 auf etwa 3’900, am 21. Juni bei etwa 3’750, also annähernd 4% tiefer als vor einem Monat. Hier mein Problem: Sollte ich meine Folien aktualisieren, die etwas veraltet waren, oder sollte ich die Folien meiner Präsentation in L.A. wiederverwenden, um dem Publikum in beiden Fällen eine einheitliche Botschaft zu vermitteln?

Ich entschied mich, die Folien aus L.A. als Ausgangspunkt für eine Diskussion darüber zu verwenden, wie sehr sich die Dinge in dieser kurzen Zeit verändert hatten. Der Hauptteil meiner Präsentation in London bestand aus einer «Stream-of-Consciousness»-Diskussion über die aktuellen Themen. Ich berichtete den Anwesenden, dass ich genau darauf achte, welche Fragen mir zu einem bestimmten Zeitpunkt am häufigsten gestellt werden. Der Grund dafür ist, dass mir diese Fragen verraten, was die Leute bewegt. Die Fragen, die mir dieser Tage gestellt werden, drehen sich überwiegend um:

  • Die Aussichten zur Inflation,
  • wie stark das Federal Reserve die Zinsen anheben wird, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen, und
  • ob dies zu einer sanften Landung der Wirtschaft oder zu einer Rezession führen wird (und in letzterem Fall, wie gravierend der Abschwung ausfallen wird).

Im Nachgang meiner Präsentation war ich mit meinen Ausführungen nicht ganz zufrieden. Beim Mittagessen überdachte ich sie deshalb noch einmal. Als es dann Zeit war, mit dem Programm fortzufahren, ging ich erneut für zwei Minuten aufs Podium. Dabei sagte ich Folgendes:

Die ganze Diskussion über Inflation, Zinsen und Rezession fällt unter die gleiche Kategorie: die kurze Frist. Und dennoch:

  • Auf kurze Sicht können wir nicht viel über die Zukunft wissen (oder besser gesagt: Wir können nicht verlässlich mehr wissen als der Konsens).
  • Wenn wir eine Meinung über die kurzfristige Zukunft haben, können (oder sollten) wir ihr nicht viel Vertrauen zumessen.
  • Wenn wir zu einer bestimmten Schlussfolgerung kommen, können wir nicht viel dagegen tun – die meisten Anleger können und wollen ihre Portfolios nicht auf der Grundlage solcher Einschätzung in grösserem Stil umschichten.
  • Wir sollten uns wirklich nicht um kurzfristige Entwicklungen kümmern - schliesslich sind wir Investoren und keine Trader.

Aus meiner Sicht ist der letzte Punkt am wichtigsten. Die Frage ist, ob Sie mir zustimmen oder nicht.

Wenn ich zum Beispiel gefragt werde, ob wir auf eine Rezession zusteuern, lautet meine übliche Antwort: Immer dann, wenn wir uns nicht in einer Rezession befinden, steuern wir auf eine zu. Entscheidend ist letztlich nur, wann es zum Abschwung kommt. Ich glaube, dass die Wirtschaft immer von Zyklen geprägt sein wird. Das bedeutet, dass Rezessionen und wirtschaftliche Aufschwünge immer vor uns liegen werden. Bedeutet die Tatsache, dass eine Rezession bevorsteht, dass wir unsere Investments trimmen oder die Zusammensetzung unseres Portfolios ändern sollten? Nein, das glaube ich nicht.

Seit 1920 gab es 17 Rezessionen in den USA sowie eine Weltwirtschaftskrise, einen Weltkrieg und mehrere kleinere Kriege, verschiedene Perioden mit Sorgen vor globalen Katastrophen und zuletzt eine Pandemie. Und dennoch: Wie ich diesen Januar in meinem Memo «Selling Out» erwähnt habe, ist der S&P 500 in diesem Jahrhundert durchschnittlich um jeweils 10,5% pro Jahr avanciert. Hätten Anleger ihre Performance verbessern können, wenn sie an der Börse ein- und ausgestiegen wären, um diese heiklen Phasen zu vermeiden? Oder hätte ein solches Vorgehen ihre Performance geschmälert? Im damaligen Memo hatte ich Bill Miller zitiert und bin seither von seiner Aussage fasziniert, dass der entscheidende Faktor für echten Vermögensaufbau «die Zeit, und nicht das Timing» ist. Für die meisten Anleger wäre es demnach besser, kurzfristige Bedenken zu ignorieren, wenn sie die Vorteile des langfristigen Zinseszinseffekts nutzen wollen.

Zwei der sechs Grundpfeiler der Anlagephilosophie von Oaktree besagen, (a) dass wir unsere Anlageentscheide nicht auf makroökonomische Prognosen stützen und (b) dass wir den Markt nicht timen. Ich habe den Teilnehmern der Konferenz in London gesagt, dass unser Hauptziel darin besteht, Schuldpapiere zu kaufen oder Kredite zu vergeben, die dann auch tatsächlich zurückgezahlt werden. Ebenso erwerben wir Beteiligungen an Unternehmen, die sich solid entwickeln und profitabel wirtschaften werden. Nichts davon hat etwas mit kurzfristigem Denken zu tun.

Wenn wir es für angebracht halten, verlagern wir von Zeit zu Zeit unsere Balance zwischen aggressivem und defensivem Vorgehen. Diese Adjustierungen nehmen wir primär vor, indem wir das Volumen unserer geschlossenen Fonds, das Tempo unserer Investitionen und die Höhe des akzeptablen Risikos ändern. Diese Entscheide treffen wir aber auf Grundlage aktueller Marktbedingungen, nicht auf Basis von Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Ereignisse.

Jeder bei Oaktree hat seine persönliche Meinung zu den oben genannten kurzfristigen Entwicklungen. Nur wetten wir aber nicht darauf, dass sie richtig sind. Während unserer jüngsten Meetings mit Kunden in London haben Oaktree-Mitbegründer Bruce Karsh und ich viel Zeit damit verbracht, über die Signifikanz der kurzfristigen Bedenken zu diskutieren. In einer Notiz an mich fasste er seine Meinung wie folgt zusammen:

… Werden sich die Dinge genauso schlecht wie erwartet entwickeln, oder schlechter oder besser? Unwägbar ... und ebenso ungewiss ist, wie viel eingepreist ist, d. h. was der Markt wirklich erwartet. Man könnte meinen, dass eine Rezession eingepreist ist, aber viele Analysten sagen, dass sei nicht der Fall. Diese Sachen sind schwierig...!!!

Die Bemerkungen von Bruce zeigen eine weitere Schwäche auf, wenn man den Fokus kurzfristig ausrichtet. Selbst wenn wir zu wissen glauben, was uns in Bezug auf Inflation, Rezession und Zinsen bevorsteht, gibt es absolut keine Möglichkeit zu wissen, wie die Marktpreise mit diesen Erwartungen übereinstimmen. Diese Tatsache ist wichtiger, als den meisten Menschen bewusst ist. Wenn Sie sich eine Meinung zu den aktuellen Themen gebildet haben oder Zugang zur Ansicht von Experten haben, die Sie schätzen, dann sollten Sie jeden Vermögenswert betrachten und sich fragen, ob er auf Basis dieser Einschätzungen teuer, günstig oder fair bewertet ist. Denn darauf kommt es an, wenn Sie zu vernünftigen Preisen investieren wollen.

Die Möglichkeit - oder sogar die Tatsache -, dass ein negatives Ereignis bevorsteht, ist an sich noch kein Grund, das Risiko zu verringern; Anleger sollten dies nur dann tun, wenn das Ereignis bevorsteht und sich nicht angemessen in den Preisen der Vermögenswerte reflektiert. Wie Bruce sagt, hat man normalerweise jedoch keine Chance, das zu wissen.

Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn dachten wir, dass wir für fünf oder sechs Jahre in eine Aktie investieren würden. Eine Anlage, die weniger als ein Jahr lang gehalten wurde, galt als kurzfristiges Engagement. Eine der grössten Veränderungen, die ich seither erlebt habe, ist die unglaubliche Verkürzung des Zeithorizonts. Portfoliomanager wissen über ihre Performance in Echtzeit Bescheid, und viele Kunden sind darauf fixiert, wie ihr Vermögensverwalter im letzten Quartal abgeschnitten hat.

Keine Strategie - auch wenn sich noch so brillant ist - wird sich in jedem Quartal oder jedem Jahr als erfolgreich erweisen. Eine Strategie wird mehr oder weniger effektiv, wenn sich das Umfeld ändert und ihre Popularität zu- oder abnimmt. Hoch disziplinierte Portfoliomanager, die sich strikt an einen bestimmten Ansatz halten, erzielen in der Regel die schlechtesten Ergebnisse, wenn dieser Ansatz nicht mehr gefragt ist. Unabhängig von der Angemessenheit einer Strategie und der Qualität der Anlageentscheide werden jedes Portfolio und jeder Portfoliomanager gute und schlechte Quartale bzw. Jahre erleben. Sie haben aber keine dauerhaften Auswirkungen und sagen nichts über die Fähigkeiten des Portfoliomanagers aus. Oft sind diese schlechten Ergebnisse auf unvorhergesehene und unvorhersehbare Entwicklungen zurückzuführen.

Was bedeutet es also, wenn jemand oder etwas eine Zeit lang schlecht abschneidet? Niemand sollte aufgrund von kurzfristigen Resultaten einen Portfoliomanager entlassen oder die Anlagestrategie ändern. Anstatt bei einer Underperformance Kapital zu entziehen, sollten Kunden im Zeichen des Contrarian-Denkens erwägen, ihre Allokation zu erhöhen (was aber nur wenige tun). Ich finde dieses Prinzip unglaublich einfach: Wenn man lange genug an einer Bushaltestelle wartet, erwischt man garantiert einen Bus. Wenn man aber von Haltestelle zu Haltestelle rennt, erwischt man möglicherweise nie einen Bus.

Ich glaube, die meisten Anleger haben den falschen Fokus. Die Performance in einem Quartal oder in einem Jahr ist bestenfalls bedeutungslos und schlimmstenfalls eine schädigende Ablenkung. Dennoch verbringen die meisten Anlageausschüsse die erste Stunde jeder Sitzung damit, die Performance im letzten Quartal und im bisherigen Jahresverlauf zu diskutieren. Wenn sich alle anderen auf das konzentrieren, was unwichtig ist, und das ignorieren, was wichtig ist, können sich Anleger somit erfolgreich von der Masse absetzen, indem sie kurzfristige Bedenken ausblenden und sich auf den langfristigen Einsatz von Kapital konzentrieren.

Ein Zitat aus dem Buch «Pioneering Portfolio Management» von David Swensen, dem ehemaligen Chief Investment Officer der Yale University, fasst ausgezeichnet zusammen, wie institutionelle Investoren wunschgemäss eine überdurchschnittliche Performance erzielen können. (Das Konzept ist auch für Privatanleger relevant):

Geeignete Investmentprozesse tragen wesentlich zum Anlageerfolg bei und ermöglichen es Investoren, langfristig rentable Contrarian-Poistionen zu halten. Indem sich der Druck verringert, kurzfristige Ergebnisse zu erzielen, gewinnen befreite Portfoliomanager die Flexibilität, Portfolios zu erstellen, die so positioniert sind, dass sie Chancen nutzen können, die von kurzfristig handelnden Akteuren geschaffen werden. Wenn Portfoliomanager ermutigt werden, potenziell peinliche, unvorteilhafte Investitionen zu tätigen, erhöhen Vermögensverwalter die Wahrscheinlichkeit eines Anlageerfolgs.

Oaktree ist mit seiner relativ grossen Gleichgültigkeit hinsichtlich makroökonomischer Prognosen - insbesondere in Bezug auf die kurze Frist - wahrscheinlich in einer extremen Minderheit. Die meisten Anleger machen sich Gedanken über die Erwartungen in Bezug auf kurzfristige Trends. Ich frage mich aber, viel sie tatsächlich gegen ihre Bedenken unternehmen, und ob das hilft.

Viele Anleger - und besonders institutionelle Investoren wie Pensionskassen, Stiftungen, Versicherungen und Staatsfonds, die alle verhältnismässig gut gegen das Risiko plötzlicher Rückforderungen gesichert sind - haben den Luxus, dass sie sich ausschliesslich auf die lange Frist konzentrieren können ..., wenn sie denn davon Gebrauch machen wollen. Daher empfehle ich Ihnen, sich von der breiten Masse der Anleger und deren wenig hilfreicher Obsession mit kurzfristigen Trends zu lösen und sich stattdessen uns anzuschliessen, indem wir uns auf die Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig sind.

Bei diesem Gastbeitrag handelt es sich um eine Übersetzung des jüngsten Memos von Howard Marks. Die englische Originalfassung sowie ein Podcast dazu sind unter diesem Link abrufbar.

Howard Marks

Howard Marks ist Co-Chairman von Oaktree Capital Management. Seit der Gründung von Oaktree 1995 ist er dafür verantwortlich, dass sich die US-Investmentgesellschaft nach den Kernprinzipien ihrer Anlagephilosophie richtet. Er pflegt einen engen Kontakt zu Kunden hinsichtlich Anlageprodukten sowie Strategien. Zudem bringt er seine Erfahrung ein, wenn es um fundamentale Entscheide zu Investitionen und der Unternehmensausrichtung geht. Howard Marks ist in der internationalen Finanzbranche für seine «Memos» an Oaktree-Kunden bekannt. Warren Buffett hat dazu einmal gesagt: «Wenn ich ein Memo von ihm in meiner Mailbox sehe, ist es das Erste, was ich öffne und lese. Ich lerne dabei immer etwas.»
Howard Marks ist Co-Chairman von Oaktree Capital Management. Seit der Gründung von Oaktree 1995 ist er dafür verantwortlich, dass sich die US-Investmentgesellschaft nach den Kernprinzipien ihrer Anlagephilosophie richtet. Er pflegt einen engen Kontakt zu Kunden hinsichtlich Anlageprodukten sowie Strategien. Zudem bringt er seine Erfahrung ein, wenn es um fundamentale Entscheide zu Investitionen und der Unternehmensausrichtung geht. Howard Marks ist in der internationalen Finanzbranche für seine «Memos» an Oaktree-Kunden bekannt. Warren Buffett hat dazu einmal gesagt: «Wenn ich ein Memo von ihm in meiner Mailbox sehe, ist es das Erste, was ich öffne und lese. Ich lerne dabei immer etwas.»