Meinung

Das Verhältnis zwischen Kanada und der EU: ein Vorbild für die Schweiz?

Die Schweiz und Kanada in ihrem Verhältnis zur EU zu vergleichen ist falsch; das Rahmenabkommen durch einen Vertrag nach dem Vorbild des Ceta neu zu verhandeln, wird nicht gelingen.

Daniel Woker
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Schweizerische EU-Skeptiker haben angesichts der Lähmung des Bundesrates die Idee lanciert, die Schweiz solle zum Start zurück und von der EU einen Vertrag verlangen, wie er seit 2016 die EU mit Kanada verbindet: das «Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen» – «Comprehensive Economic and Trade Agreement», kurz Ceta. Das wird nicht gelingen aus geografischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen.

Die ebenso lapidare wie offensichtliche Feststellung, dass die Schweiz Teil Kerneuropas ist, geht weit über die geographische Selbstverständlichkeit hinaus. Unsere Beziehungen zu den europäischen Nachbarländern sind historisch, ethnisch, kulturell und sprachlich nicht mit jenen zwischen Kanada und Europa zu vergleichen.

Kanada ist ein klassisches Einwanderungsland, das längst zum Schmelztiegel der Nationen geworden ist – und dies im Gegensatz zu seinem südlichen Nachbarn auf bemerkenswert ruhige Weise meistert.

Aber genau dieses Bewusstsein, einer neuen, vom Erbe der ‘alten Welt’ losgelösten Nation anzugehören, die neue Geschichte schreibt, unterscheidet Kanada grundsätzlich von der Schweiz. Sie sieht sich gerne als älteste Republik und vollkommene Demokratie und ist entsprechend stolz auf eine ungebrochene Erfolgsgeschichte seit 1291 – oder jedenfalls 1848, je nach historischem Verständnis.

Eine politisch kleine Finanzmacht

Im internationalen Kontext ist die Schweiz eine wirtschaftliche und finanzielle Mittelmacht, aber politisch klein. Dies weil sie sich weigert, in den grossen politischen Zukunftsfragen gemeinsame Sache mit Europa zu machen, wie dies vergleichbare Länder im eigenen Interesse tun: Österreich, Belgien, Schweden und Holland.

Kanada hingegen ist G-20 Mitglied, Pfeiler gegen Norden in der Nato und das nordamerikanische Gegengewicht zu den USA, wenn nicht auf wirtschaftlich und bevölkerungsmässig gleicher Ebene, so doch in der Grösse und damit im geopolitischen Vergleich. Das Interesse der EU, mit Kanada ein solides Wirtschafts- und Handelsabkommen, das Ceta, zu schliessen, beruhte ebenso auf politisch-strategischen Überlegungen als auf solchen wirtschaftlicher Natur.

Im völligen Gegensatz sieht die EU – leider, aber berechtigt – die Schweiz als politischen Nonvaleur. Wenn nicht sogar als Störfaktor, wenn wir zum x-ten Mal über ‘Europa’ abstimmen und die nationalistische Seite in der Schweiz dabei den Europafeinden in Osteuropa oder Grossbritannien Schützenhilfe leistet. Oder wenn die Schweiz politische Sanktionen mit Verspätung und Ausnahmen nachvollzieht.

Eine Mehrheit der Einwohner der Schweiz spricht sich in den mit monotoner Regelmässigkeit von der SVP erzwungenen Volksabstimmungen für eine enge Anbindung unseres Landes an die EU aus. Auch und gerade in wirtschaftlicher Hinsicht. Dass wir von unserer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt profitieren, kann ernsthaft nicht bestritten werden.

Kein Gehör für ‘kanadische Begehren’

Damit ist das Verhältnis des wirtschaftlichen Austauschs mit der EU im Vergleich zu Kanada gerade umgekehrt, als dies oben mit Blick auf die politischen Beziehungen galt: unser Handelsverkehr mit den EU-Ländern ist um einen Faktor zehn grösser als jener Kanadas. Und gerade darum wird Brüssel nicht eingehen auf ‘kanadische Begehren’ der Schweiz. Konzessionen aus politischen Gründen wird es keine geben. Zudem: Wirtschaftlich kann die EU leben ohne die Schweiz im Binnenmarkt. Umgekehrt trifft das nicht zu.

Gegenüber London hat die EU ein Nach-Brexit-Abkommen nach dem kanadischen Muster bereits mehrmals abgelehnt. Auch wenn hier politische und strategische Überlegungen ungleich schwerer wiegen als im Fall der Schweiz. Die wirtschaftliche Gefahr einer ungezügelten Offshore-Insel England ist zu hoch. So sehen es bekanntlich auch neu eine Mehrheit in Schottland und eine grosse Mehrheit auf der irischen Insel. Lieber Grossbritannien aufbrechen als nach einem vertragslosen Brexit zum ‘Supermonaco’ am Rande Europas zu werden.

Es wäre töricht zu glauben, die EU werde der Schweiz gewähren, was sie London nicht zugesteht. Das Rahmenabkommen soll, im gegenseitigen Interesse, die mannigfaltigen Beziehungen der Schweiz mit der EU, die sich zudem dynamisch weiter entwickeln, in eine solide Verpackung stellen.

Die Schweiz dabei mit Kanada zu vergleichen kann nur als Nabelschau helvetischer Gernegrosse bezeichnet werden. Aber auch andauernde Trödelei und Rosinenpickerei verbessern die schweizerische Ausgangslage nicht. Die Unterzeichnung ist überfällig.

Die EU wird bald wichtigere Herausforderungen, auch wirtschaftspolitischer Art zu meistern haben, als das Verhältnis zur Schweiz: die Neudefinition der gegenseitigen Interessen mit den USA unter Biden, gefolgt von einer gemeinsamen amerikanisch-europäischen Haltung gegenüber China.

Daniel Woker

Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Australien, Singapur und Kuwait. Davor war er erster Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), mit dem Titel eines Botschafters. Frühere diplomatische Posten umfassten Paris (Ministre Conseiller), Stockholm (stv. Missionschef) sowie Wirtschaftsrat an der Uno-Mission in New York. Heute arbeitet er als Spezialist für Geopolitik und Strategie, mit regelmässiger Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen über den Grossraum Asien-Pazifik, speziell die ASEAN und Australien, über die arabische Halbinsel und die Entwicklung der EU. Zusammen mit dem früheren Schweizer Diplomaten Philippe Welti hat Woker das Unternehmen Share-an-Ambassador gegründet, das sich auf geopolitische Due Diligence spezialisiert.
Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Australien, Singapur und Kuwait. Davor war er erster Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), mit dem Titel eines Botschafters. Frühere diplomatische Posten umfassten Paris (Ministre Conseiller), Stockholm (stv. Missionschef) sowie Wirtschaftsrat an der Uno-Mission in New York. Heute arbeitet er als Spezialist für Geopolitik und Strategie, mit regelmässiger Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen über den Grossraum Asien-Pazifik, speziell die ASEAN und Australien, über die arabische Halbinsel und die Entwicklung der EU. Zusammen mit dem früheren Schweizer Diplomaten Philippe Welti hat Woker das Unternehmen Share-an-Ambassador gegründet, das sich auf geopolitische Due Diligence spezialisiert.