Meinung

Künstliche Intelligenz: Déjà-vu?

Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Das zeigt sich derzeit bei der wachsenden Euphorie um das Thema künstliche Intelligenz.

Sandro Rosa
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Sorgten vor etwas mehr als zwanzig Jahren Technologie- und Internetkonzerne wie Sun Microsystems, Microsoft, Cisco, Intel und Dell für leuchtende Augen unter den Investoren, sind es heute Unternehmen, die zu den Pionieren der künstlichen Intelligenz (KI) zählen – Google, Meta, Microsoft, Marvell Technology oder Nvidia. Glaubt man den begeisterten Stimmen, steht der Weltwirtschaft ein gewaltiger Innovations- und Produktivitätsschub bevor.

So meinte Alphabet-CEO Sundar Pichai kürzlich in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS, KI sei die «tiefgreifendste Technologie, an der die Menschheit je gearbeitet hat – tiefgreifender als Elektrizität oder Feuer oder alles, was wir in der Vergangenheit gemacht haben». Ins gleiche Horn stiess Sam Altman, der Chef von OpenAI, die ChatGPT entwickelt hat. Er meinte, dass sich die Menschheit «auf einer exponentiellen Kurve bewegt», die zu enormem Reichtum führe.

Erste Ideen im 19. Jahrhundert

Künstliche Intelligenz ist freilich nichts Neues – der Ausdruck kam schon in den Fünfzigerjahren auf. Erste Ideen gehen auf Lady Ada Lovelace und Charles Babbage zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. So sagte Lovelace eine Maschine voraus, die «komplizierte und wissenschaftliche Musikstücke von beliebiger Komplexität und beliebigem Umfang komponieren» werde. Inspiriert wurde sie von der von Charles Babbage 1834 entworfenen Analytical Engine. Auf der theoretischen Ebene nahm Lovelace diverse Konzepte der modernen Programmierung vorweg.

Die Umsetzung in die Praxis begann allerdings erst ein Jahrhundert später mit Alan Turing, der 1936 zeigte, dass sich alle Rechenoperationen auf Kombinationen von Nullen und Einsen zurückführen lassen. Er war am Design des ersten modernen Computers beteiligt, der 1948 in Manchester gebaut wurde. Heute ist KI omnipräsent: in Computerspielen, Drohnen, Navigationssystemen, in der Suchmaschine von Google oder der virtuellen Assistentin Siri von Apple.

Aber erst die Einführung von ChatGPT Ende des vergangenen Jahres hat das Thema quasi über Nacht einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerufen. Die Website hat innerhalb von zwei Monaten die Marke von 100 Mio. aktiven Nutzern überschritten. Die Fähigkeit sogenannter Large Language Models, auf natürliche Weise mit Menschen zu kommunizieren, hat ihre Popularität befeuert und gezeigt, wie mächtig die Technologie inzwischen geworden ist. Ein wachsender Teil der Öffentlichkeit realisiert nun, dass KI über das Potenzial verfügt, die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Menschen zu steigern und zu erweitern.

So gelang es beispielsweise Forschern des Massachusetts Institute of Technology unter Einsatz von KI, ein neuartiges Antibiotikum zu kreieren, das in der Lage ist, bislang resistente Bakterienstämme abzutöten. Ebenfalls eindrücklich war ein Bild, das vor kurzem Aufsehen erregte: Es zeigte Papst Franziskus im Stil eines Rappers in eine Daunenjacke gehüllt. Das Foto war nicht echt, es wurde mit Midjourney erstellt, einem Programm, das KI nutzt, um lebensnahe Bilder zu generieren.

Wachstum, Arbeitslosigkeit – oder das Ende der Menschheit?

Die sogenannte generative KI vermag nicht nur aus vergangenen Daten zu extrapolieren, sondern schafft es, Neues zu kreieren – seien es Texte, Bilder oder Musik. «Zum ersten Mal in der Geschichte wird die menschliche Intelligenz in direktem Wettbewerb mit der algorithmengesteuerten Rechenleistung stehen», sagt Chen Zhao, Chefstratege der kanadischen Research-Boutique Alpine Macro.

Wird KI zu einer nie dagewesenen Steigerung des Wachstums führen? Wird sie den Menschen mehr Freizeit ermöglichen – und/oder die Mittelschicht in die Armut stürzen, weil ihre Jobs obsolet werden? Die Gefahr ist real, dass vor allem Bürojobs durch den vermehrten Einsatz von KI gefährdet sind. Gemäss dem neuesten Challenger Report wurde in den USA im Mai beim Abbau von rund 4000 Stellen erstmals KI als Grund angegeben.

Wie einschneidend die Auswirkungen sein werden, dürfte wesentlich davon abhängen, wie rasch der technologische Umbruch voranschreitet. Werden die Stellen nicht über Nacht verschwinden, wird sich der Arbeitsmarkt entsprechend anpassen, und neue Berufsbilder dürften entstehen. Hoffnung macht die Studie einer Gruppe von Ökonomen um David Autor, die zum Schluss kommt, dass rund 60% der Arbeitsplätze im Jahr 2018 in Berufszweigen zu finden waren, die es 1940 noch nicht gab. Die negativen Effekte der KI könnten indes weitreichender sein.

Kennen Sie den «Büroklammer- Maximierer», ein Gedankenexperiment des schwedischen Philosophen Nick Bostrom? Darin wird eine KI programmiert, um exakt eine Aufgabe zu erfüllen: Sie soll möglichst viele Büroklammern herstellen. Das klingt harmlos. Doch konsequent zu Ende gedacht, würde eine solche KI schliesslich alle Ressourcen der Erde zu diesem einen Zweck verbrauchen. Noch schlimmer: Fehlen ethische Leitplanken, wird die KI bald realisieren, dass die Menschen ein potenzielles Risiko darstellen, da sie dereinst entscheiden könnten, die KI zu stoppen. Dann würde aber das Ziel der maximalen Büroklammerproduktion nicht mehr erreicht. Ergo muss die Menschheit ausgelöscht werden.

Vor diesem Hintergrund veröffentlichte das Future of Life Institute am 22. März einen offenen Brief, in dem es zu einem sechsmonatigen Moratorium in der KI-Forschung aufrief, damit wir mehr Zeit haben, um verbindliche Regeln für die Weiterentwicklung aufzustellen. Zu den Unterzeichnern gehören auch Tesla-Chef Elon Musk und Apple-Mitgründer Steve Wozniak.

«Unter der Annahme, dass die Menschheit den Übergang zur superintelligenten KI überlebt, könnten die Auswirkungen auf das Wachstum vergleichbar sein mit denen, die zuerst während der landwirtschaftlichen und später während der industriellen Revolution auftraten. Beide brachten eine dreissig- bis hundertfache Steigerung des Wachstums im Vergleich zur vorherigen Epoche», bringt Peter Berezin von BCA Research die beiden Extreme auf den Punkt.

Was bedeutet es für Anleger?

Wir massen uns nicht an, die Konsequenzen der zunehmenden Ausbreitung von KI zu prognostizieren. Gerade wegen der enormen Spannbreite an Möglichkeiten sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Das ist ein fruchtbarer Boden für Euphorie.

Müssen Anleger nun also ebenfalls in Unternehmen im KI-Umfeld investieren, um vom erwarteten Wachstum zu profitieren? Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend, in die grossen US-Technologiekonzerne zu investieren, die zu den vermeintlichen Profiteuren des Trends gehören werden: Halbleiterkonzerne wie Nvidia, die die wichtigste Hardware liefern, aber auch Plattformunternehmen wie Alphabet, Amazon, Microsoft und Meta sowie in China Alibaba, Baidu und Tencent, die über umfangreiche Daten verfügen, mit denen sie die Algorithmen trainieren können.

Allerdings waren sich viele Investoren auch während der Technologieblase zur Jahrtausendwende sicher, wem die Zukunft gehören wird. Und dennoch existieren damalige «Gewinner » wie Worldcom oder Lucent Technologies heute nicht mehr. Wer weiss, ob der rasche technologische Wandel nicht viele bestehende Technologien überflüssig macht, wodurch die heutigen Googles zu den Yahoos von morgen werden?

Man sollte auch nicht vergessen, dass von den damaligen Superstar-Unternehmen nur Microsoft heute zu einem höheren Kurs als damals handelt – obwohl auch das Internet Gesellschaft und Arbeitswelt revolutioniert hat. Von den übrigen sind nicht wenige verschwunden (Nortel Networks), für ein Butterbrot übernommen worden (Sun Microsystems) oder verharren weit unter ihrem damaligen Höchst (Cisco Systems, Intel).

Rohstoffe und Immobilien als Gewinner

Wer in der Dotcom-Blase die Aktien von Sun Microsystems zu einem Kurs-Umsatz-Verhältnis von 10 gekauft hatte, holte sich eine blutige Nase. Der heutige Star des KI-Booms, Nvidia, handelt an der Börse zum 37-fachen Umsatz und zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von rund 200. Ob es für die Anleger besser ausgehen wird als vor 23 Jahren?

Paradoxerweise könnten gerade Sachwerte wie Rohstoffe und Immobilien zu den Gewinnern der KI-Revolution werden. Wenn nämlich die Produktivität – und damit der Wohlstand – dank KI tatsächlich rasant zunimmt, gewinnen Faktoren, deren Menge limitiert ist, an Wert. KI mag den Output von Programmierern potenzieren und die Geschwindigkeit, mit der Sachbearbeiter Anfragen bearbeiten, vervielfachen – Rohstoffe und Boden kann aber auch sie nicht mehren.

Der verstärkte Einsatz von KI dürfte tatsächlich zu effizienteren Prozessen und niedrigeren Kosten führen, was eine Ausweitung der Produktion erlauben dürfte, was wiederum deflationäre Kräfte wecken könnte. Doch wie frühere Innovationen zeigen, vergeht zwischen Einführung und Effizienzgewinnen immer eine gewisse Zeit. Es würde deshalb nicht überraschen, wenn die Früchte der künstlichen Intelligenz erst gegen Ende der Dekade geerntet werden können. Kein Grund also, dem KI-Trend blind nachzurennen.