Eine Revolution im Denken über Reservewährungen ist im Gange. Die Sanktionen gegen Russland haben den Dollar wie nie zuvor zur Waffe gemacht. Die Abkehr vom Paradigma der einheitlichen Reservewährung beschleunigt sich.
An der Währungsfront finden tektonische Verschiebungen statt. Zukünftige Historiker könnten das Ende der Vorherrschaft des Dollars als Reservewährung auf den Februar 2022 datieren, als die G-7-Länder 300 Milliarden an russischen Dollar- und Euroreserven beschlagnahmten. Damit wurde ein wichtiger Präzedenzfall geschaffen. Das Signal ist, dass jedes Land, das einen grossen Teil seiner Reserven in Dollar oder Euro hält, potenziell Gefahr läuft, dass diese im Falle eines Konflikts beschlagnahmt werden.
Eine gute Voraussicht erfordert die Fähigkeit, die Dinge aus einem nicht-westlichen Blickwinkel zu betrachten. Für viele Länder beschleunigt die aktuelle Situation die Notwendigkeit einer Diversifizierung weg vom Dollar, aber auch vom Euro, der der nächste Kandidat für die wichtigste Reservewährung war. Laut einer UBS-Umfrage unter dreissig führenden Zentralbanken, die zwischen April und Juni 2022 durchgeführt wurde, setzen die Zentralbanken vermehrt auf den chinesischen Renminbi, um ihre Devisenbestände zu diversifizieren.
Heute haben 85% der Verwalter von Zentralbankreserven in den Renminbi investiert oder sind daran interessiert, während es vor einem Jahr noch 81% waren. «Wir sehen eine allmähliche Erosion des Dollars», sagte Massimiliano Castelli, Leiter Strategie für globale Staatsanleihen bei UBS, gegenüber der «Financial Times». «Das Bild, das sich ergibt, ist das eines multipolaren Währungssystems», meint Castelli. Zentralbanker glauben, dass eine Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt – weg von einem US-zentrierten System – dem Renminbi zugutekommen würde. Die Idee einer starken Währung war früher eine westliche Idee. Jetzt wird sie zu einer östlichen Idee. Angesichts der langfristigen Abwertung des Dollars, des Euro und des Pfunds ist der Renminbi die einzige Währung einer Supermacht, die im Laufe der Zeit auf-, statt abwertet.
Aber wir bewegen uns nicht auf ein auf den Renminbi ausgerichtetes System zu. Der springende Punkt ist, dass die Nationen eine Multipolarität anstreben, um nicht zur Geisel eines bestimmten Währungssystems zu werden. Mit anderen Worten, man will vermeiden, dass eine Reservewährung als Waffe eingesetzt wird, wie im Falle des Dollars, der zur Sanktionierung von Feinden verwendet wird. Das Gleiche gilt für den Euro. Er hat zwar nie die Vormachtstellung des Dollars erreicht, aber die Diversifizierung weg vom Euro ist bereits im Gange.
Generell verliert die Vorstellung, dass Länder ihre Devisenreserven in einer einzigen Währung halten können, zunehmend an Bedeutung. Darin spiegeln sich die gegenwärtigen Machtverschiebungen. Jedes vernünftige Land muss seine Reserven in den Währungen der grossen antagonistischen Mächte halten, um die Risiken auszugleichen. Rohstoffimporteure wie China sind sich auch der Notwendigkeit bewusst, Rohstoffe in ihrer eigenen Währung oder in einem Korb verschiedener wichtiger Währungen zu handeln, aber nicht mehr in einer einzigen Referenzwährung.
Ein weiterer Grund für die Diversifizierung der Reserven ist natürlich die Inflation. Ein wesentliches Merkmal einer Reservewährung ist, dass sie ein stabiles Wertaufbewahrungsmittel ist. Das ist jetzt nur noch Theorie. Der Dollar und der Euro haben aufgrund der massiven Geldschöpfung gegenüber Gold an Wert verloren. Heute braucht es rund zehnmal so viele Dollars wie noch vor fünfzig Jahren, um eine Unze Gold zu kaufen.
Es ist logisch, dass die Länder Schutz in Gold suchen. Doch mit dem russischen Krieg in der Ukraine wird der Goldmarkt zur Geisel der Geopolitik. Russland hat Gold verkauft, weil es seine überschüssigen Reserven aufgrund von Sanktionen nicht veräussern konnte. Aber die USA und andere G-7-Länder verbieten Russland nun auch, sein frisch raffiniertes Gold zu verkaufen. Der Markt ist zweigeteilt: Einige Länder spielen das Spiel der Sanktionen nicht mit und handeln Gold mit Russland, während andere dies verbieten. In dieser Situation könnten viele Länder zum Schluss kommen, dass dieses Verbot eines Tages auch sie treffen könnte. Sie könnten zur Absicherung in der Zukunft Gold anhäufen.
Letztlich könnten die Länder, die die Lehren aus dem russischen Fall ziehen, ihre Reservepolitik im Lichte der sanktionsgetriebenen Geopolitik und dem in diesem Zusammenhang beobachteten Einsatz des Dollars als Waffe neu definieren. Sie könnten befürchten, dass sie in einer Welt mit einer dominierenden Reservewährung wie dem Dollar daran gehindert werden könnten, Dollar zu verkaufen, um Gold zu kaufen, oder dass sie gezwungen sein könnten, ihre Dollaranleihen ausschliesslich in andere Dollarwerte wie Bargeld oder Aktien umzutauschen.
Einer, der vor einem Jahr vor diesem Risiko gewarnt hat, war Ray Dalio, CIO von Bridgewater Associates. Er sagte: «Wenn die Geschichte ein Leitfaden ist, werden politische Entscheidungsträger, denen das Geld ausgeht, Kapitalbewegungen aus Schuldtiteln in Wertaufbewahrungsmittel nicht goutieren und könnten sehr wohl Verbote für Kapitalbewegungen in andere Vermögenswerte und an andere Orte verhängen».
Ebenso könnte die Vorstellung, dass ein Land seine Goldreserven sicher in einem anderen «verbündeten» Land aufbewahren kann, schnell verschwinden. Goldreserven wären sehr einfach zu beschlagnahmen. In Zeiten hoher Dollar- und Euro-Inflation wird Gold zu einer Bedrohung für die Attraktivität abwertender Währungen, und viele Länder werden sich den Zugang zu Gold sichern wollen, da sie eine langfristige Abwertung ihrer Dollar-, Euro-, Pfund- oder Yen-Papierreserven befürchten. Um diese Risiken richtig abwägen zu können, ist eine realistische Einschätzung der geopolitischen Risiken und der künftigen Stellung des Westens in der Welt erforderlich.