Die Schweiz ist weder in der Nato noch in der EU. In der «Zeitenwende» des Krieges in der Ukraine macht sich diese Absenz ausgeprägt negativ bemerkbar, auch mit wirtschaftlichen Folgen.
In der Rangliste vergleichbarer Länder der Leistungen für die von russischer Aggression gebeutelte und materiell zerstörte Ukraine rangiert die Schweiz ganz am Schluss. Ausser anständiger, aber keineswegs überbordender humanitärer Hilfe leistet die Schweiz keinen Beitrag zur Unterstützung der demokratischen Ukraine gegen das autokratische, sich immer mehr als Kriegsverbrecher gebärdende Russland von Putin.
Österreich, Mitglied der EU aber nicht der Nato, leistet einen grossen Beitrag via EU-Gelder; Norwegen, Mitglied der Nato aber nicht der EU, tut dasselbe via Unterstützung der Nato als Organisation, bei der Waffenlieferungen im Vordergrund stehen.
Das ist das Resultat einer schweizerischen Aussenpolitik, die sich weiterhin an einem überholten Verständnis von Neutralität und Souveränität orientiert und die europäische Aktualität des 21. Jahrhunderts ausblendet. Dort, wo die Schweiz mitmacht, so etwa dem Internationalen Währungsfonds, hält man vergebens Ausschau nach einer durchaus machbaren Vorreiterrolle Berns, ebenso bei der Verwendung eingefrorener russischer Vermögenswerte.
Dass die Nato mit ihrem gegenwärtigen Hauptpfeiler USA die Sicherheit Europas garantiert, ist offensichtlich. Angesichts der Bedrohung durch Putin werden nun auch die langjährigen Neutralen Finnland und Schweden Mitglied des Verteidigungsbündnisses. In Österreich ist eine entsprechende Diskussion im Gange, ebenso im blockfreien Irland, welches seine «Neutralität» primär aus Gegnerschaft zu London gewählt hat.
In der Schweiz machen sich bürgerliche Spitzenpolitiker stark für «engere Beziehungen zur Nato, aber ohne Aufgabe der Neutralität». Das klingt schön, ist aber nicht machbar: Die Schweiz ist bereits Mitglied des losen Verbandes «Partnerschaft für den Frieden» rund um die Nato. Eine weitere Annäherung - im sicherheitspolitischen Jargon wäre das etwa eine enhanced opportunity partnership – würde gemeinsame Manöver und Truppenentsendung bedeuten. Das wäre ein grosser Sprung für die offizielle schweizerische Sicherheitspolitik.
Die EU steht erst am Anfang einer eigenen sicherheitspolitischen Identität. In der Folge der grundlegenden Wende der aussenpolitischen Priorität der USA in Richtung des Grossraumes Indo-Pazifik, mit China als Hauptgegner, sowie der Unsicherheit, ob ein nächster republikanischer Präsident in Washington nicht wieder auf die durch Trump vorgegebene Linie der Geringschätzung der Nato eingeschwenkt, könnte allerdings die eigenständige Verteidigung Europas bald zur absoluten Notwendigkeit werden. Ein entsprechender Anschluss der Schweiz, im Rahmen der ohnehin unumgänglichen Neuregelung der Beziehungen zur EU, wäre hier auch innenpolitisch problemloser.
Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie stark sich auch die EU angesichts der nackten Aggression von Putins Russland nicht allein als Wirtschaftsblock, sondern auch als Wertegemeinschaft versteht.
Schweizerische Neutralität, als Abseitsstehen von Konflikten wie im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktiziert, hat im Europa des 21. Jahrhundert ihre Bedeutung verloren. Sie wird ausserhalb der Schweiz nicht nur als unnötig, sondern geradezu als feindlich verstanden. So etwa das vermeintlich neutralitätsrechtlich notwendige Verbot für Deutschland, ursprünglich in der Schweiz gefertigte Munition an die Ukraine zu liefern. In Klammern sei hier hinzugefügt, dass die zweite angebliche Hürde, das entsprechende Exportgesetz, eine Ausnahmeklausel enthält, die eine Weitergabe ohne weiteres möglich gemacht hätte.
Es mag sich dabei nicht um ein Jahrhundertgeschäft handeln, die negative Perzeption ausserhalb der Schweiz ist aber eindeutig. Wir haben damit einen guten Nachbarn und Hauptpartner, den wir mit Blick auf die Neuregelung der schweizerischen Europapolitik dringend benötigen, grundlos, aber nachdrücklich verärgert.
Wie der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen kürzlich gegenüber den Medien der TX-Gruppe deutlich sagte, wird dies auch wirtschaftliche Folgen haben. Wer wird noch Rüstungsgüter in der Schweiz kaufen wollen, wenn diese wegen helvetischen Einspruchs im Ernstfall nicht eingesetzt werden können? Ähnliches könnte einem Käufer schweizerischer «Dual use»-Güter, die sowohl militärischen als auch zivilen Gebrauch ermöglichen, widerfahren – ein Industriebereich, in dem die Schweiz besonders kompetitiv ist.
Ein angeblich grosses Problem im Rahmen der notwendigen Neuregelung des schweizerischen Europapolitik – die EU gibt klar zu verstehen, dass eine simple Neuauflage der bilateralen Verträge keine Alternative ist – stellt der Europäische Gerichtshof EuGH dar. Das Argument der angeblich «fremden Richter» ist in zweifacher Hinsicht falsch. Einmal schon, weil die Anwendung von EU-Recht – wie sie die Schweiz seit Jahren praktiziert – auch eine einheitliche Rechtsanwendung bedingt. Diese kann in letzter Instanz nur durch den EuGH erfolgen. Alles andere würde den Austritt der Schweiz aus dem europäischen Binnenmarkt bedeuten - wohl für eine Mehrheit in der Schweiz ein sowohl politisches wie auch wirtschaftliches Schreckensszenario.
Ein zweites, fundamentales Argument, warum die Schweiz den EuGH akzeptieren muss, liegt bei einem zeitgemässen Verständnis von staatlicher Souveränität. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert gilt heute geteilte Souveränität als das Ziel staatlicher Kompetenz: volle Teilnahme dort, wo für den eigenen Staat grundlegende Entscheide gefällt werden, was im EU-Europa auch ausserhalb nationaler Grenzen geschieht, nämlich in «Brüssel». «Fremde Richter» gibt es im EU-Europa keine mehr; deren Beschwörung durch schweizerischen Nationalismus – komme er von rechts oder links – ist eine weitere Anrufung eines Popanz’, welcher längst nicht mehr existiert.
Solange also wie der EuGH als angebliches Hindernis im innerschweizerischen Europadiskurs weiterlebt, solange wird es auch keine Einigung mit der EU geben. Was sich für die schweizerische Wirtschaft, ebenso wie unseren bisherigen Spitzenplatz in Wissenschaft, Forschung und Ausbildung, verheerend auswirkt.
Um vom eingangs erwähnten Platz als Schlusslicht der europäischen Unterstützung für die Ukraine wegzukommen, muss primär und rasch die finanzielle Unterstützung der Schweiz für die Ukraine erhöht werden. Geeignete Instrumente dafür bestehen: die Bretton-Woods-Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IMF), sowie die ursprünglich 1991 für die Osthilfe gegründete BERD (Bank for European Reconstruction and Development) mit Sitz in London. In all diesen Organisationen ist die Schweiz Mitglied und unterhält eigene Büros.
Speziell effektiv, und erst noch ohne Folgen für das Bundesbudget der Schweiz, wäre eine Vorreiterrolle im IMF möglich, etwa in der Weitergabe von virtuellen Währungsreserven in der Form von Sonderziehungsrechten, wo die Schweiz über einen beachtlichen Währungspuffer verfügt, der angesichts der Stärke des Frankens kaum je gebraucht werden wird. Dort und in den anderen genannten Strukturen ist angesichts der ausserordentlichen internationalen Krise des Ukrainekrieges vermehrte Aktivität der Schweiz gefragt. Dies würde international sehr begrüsst als Beweis, dass wir uns trotz Absenzen als Mitglied der Wirtschafts- und Werteeinheit Europa ebenfalls verantwortlich fühlen für das Schicksal der Ukraine.
Die Beteiligung der Privatwirtschaft am Wiederaufbau der Ukraine – wofür derzeit rund 1000 Mrd. € als nötig betrachtet werden – wird sich daran messen, wie viele offizielle Mittel von einem Geberland dafür zur Verfügung gestellt worden sind. Je weniger das ist, je geringer wird die Beteiligung sein. Zeit also, um auch auf der Basis gesamtwirtschaftlicher Überlegungen die in Finanzdepartement und Nationalbank – gemeinsam zuständig für die internationalen Finanzierungsorganisationen – naturgemäss vorhandenen Bedenken abzuschütteln und einen mutigen Schritt zu tun, um der Ukraine wirklich zu helfen.
Gleiches gilt für russische Vermögenswerte, privater und staatlicher Natur, die in der Schweiz eingefroren (von Personen und Institutionen, die unter Sanktionen fallen) oder gemeldet (russisch, aber ohne namentlichen Bezug zu sanktionierten Personen/Organisationen) sind. Erstere müssten wegen Mitschuld an der Aggression konfisziert und für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt werden. Dies angesichts der ausserordentlichen Umstände trotz gewisser rechtlicher Hürden und einem voraussehbaren Aufschrei von Teilen der schweizerischen Finanzindustrie.
Was sie zweite Kategorie von Vermögenswerten anbelangt, so liegt ein interessanter Vorschlag der EU-Kommission vor: Der laufende Ertrag darauf kommt ebenfalls dem Wiederaufbau zugute, die Werte selbst, allenfalls mit geringfügigen Zins, würden ihren Eigentümern zurückerstattet, sobald ein allseits akzeptierter Friedensplan für die Ukraine vorliegt.