Meinung

Ökonomische Desinformation: Wie man die Fehler in den Zahlen erkennt

Inflation, Arbeitslosigkeit, Jahresberichte, Kaufkraft: Wirtschaftsinformationen sind heute voller Unzulänglichkeiten und Marketing. Ein Leitfaden bietet Werkzeuge, um die relevanten Informationen zu erhalten.

Myret Zaki
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Sind Wirtschaftsinformationen in den Industrieländern objektiv und vollständig? Können wir offiziellen Zahlen, Jahresberichten und Finanzmitteilungen vertrauen? Die Antwort ist kein klares «Ja», sondern eher ein qualifiziertes «Nein», wie ich in meinem neuesten Buch «Wirtschaftliche Desinformation» (soeben auf Französisch bei Editions Favre erschienen) darlege. Hier sind einige Erkenntnisse daraus.

Erstens: Wirtschaftsdaten wie das BIP, die Inflation oder die Arbeitslosigkeit sind ein wichtiger Indikator für die Macht und die Leistung von Ländern, aber auch von Unternehmen. Sie bilden die Grundlage für Anlageempfehlungen. Das führt dazu, dass die Wahl der statistischen Methoden zu Gunsten der schmeichelhaftesten Kennzahl ausfällt. Aufgehübschte Daten («Window Dressing») und PR-Methoden sind in die Wirtschaftsinformation eingedrungen, was dazu führt, dass Marketing zunehmend mit einer sachlichen Berichterstattung konkurriert.

Die Arbeitslosigkeit lässt die Entmutigten aussen vor

Die Schweiz rühmt sich z.B. der Vollbeschäftigung, die Arbeitslosenquote liegt laut Staatssekretariat für Wirtschaft mit 2,5% per Ende Februar auf einem Tiefststand. Bei dieser Zahl bleiben jedoch viele Dinge unberücksichtigt, wie etwa die Zunahme der befristeten Arbeitsverträge, die strukturelle Arbeitslosigkeit älterer Menschen, die Unterbeschäftigung (sie notiert auf einem 18-Jahreshoch) und vor allem die entmutigten Arbeitssuchenden, die nicht mehr bei einer regionalen Arbeitsvermittlung gemeldet sind. Auch ein Blick nach Europa und in die USA zeigt, dass die Arbeitslosenzahlen in allen grossen Volkswirtschaften von denselben Problemen der Unterschätzung betroffen sind.

Die Inflation ist vielleicht die gesellschaftlich sensibelste Zahl. Auf ihrer Grundlage werden Löhne und Gehälter angepasst. Wenn die Methodik die tatsächliche Preissteigerung unterschätzt, kann diese einzige Zahl Quelle sozialer Instabilität sein. In der Schweiz, den EU-Ländern und den USA liefert der Konsumentenpreisindex keine Indikation für die Lebenshaltungskosten. Er behauptet lediglich, ein Preisindex zu sein.

Die Grundannahmen sind, dass die Konsumenten bei steigenden Preisen ihre Gewohnheiten anpassen und günstigere Alternativen kaufen (Substitutionsmethode) und dass sie bei technologischem Fortschritt qualitativ bessere Güter erhalten oder die Preise sinken (hedonistische Methode). Das Buch stellt beide Prämissen infrage und erörtert, wie wenig sie den Verlust an Wahlmöglichkeiten und Lebensqualität sowie die erzwungenen Ausgaben für ein Überangebot an technischen Optionen berücksichtigen. Ich erörtere auch ausführlich das spezifisch schweizerische Problem der in die Höhe schiessenden Versicherungsprämien, die vom schweizerischen Konsumentenpreisindex ausgeblendet werden, und welche Probleme sich daraus ergeben, insbesondere für Haushalte mit niedrigem Einkommen.

Geschönte Geschäftsberichte

Auch Unternehmensberichte sind vor Beschönigungen nicht gefeit. Sie sind nicht nur der Ort der getreuen Berichterstattung, sondern werden auch als Verkaufsargument für Investoren aufbereitet. Ein Geschäftsbericht eines typischen Blue-Chip-Unternehmens kann bis zu 500 Seiten umfassen, in separaten, herunterladbaren Abschnitten erscheinen und einen Eindruck von überwältigender Vollständigkeit und Transparenz vermitteln.

Dennoch kann die Qualität der Informationen mangelhaft und der Bericht gespickt mit Rechts- und Marketingsprache sein. Sehr technische Haftungsausschlüsse können viel Platz beanspruchen und wesentliche Informationen überdecken. Abschnitte über Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG), die durch ein ausgeklügeltes grafisches Design aufgewertet werden, wirken zwar optisch ansprechend. Nicht selten können solche Schönfärbereien aber durch unabhängige Berichte von Nichtregierungsorganisationen widerlegt werden, die zeigen, dass die ESG-Bewertung des Unternehmens nicht annähernd so rosig ist wie dargestellt.

Irreführende Hypothekarzinsen

Ein weiteres Beispiel sind die extrem günstigen Zinsen in der Schweiz. Seit einigen Jahren sind zehnjährige Hypotheken zu Zinsen von rund 1% erhältlich. Man könnte meinen, dass der Kauf von Immobilien noch nie so einfach war. Doch der Zinssatz ist weitgehend irreführend. Die finanziellen Bedingungen sind härter als je zuvor. Um eine 1%-Hypothek zu erhalten, muss ein Kunde in der Lage sein, einen theoretischen Zinssatz von 5% zu tragen. Um eine Immobilie im Wert von 1 Mio. Fr. mit Eigenkapital von 200’000 Fr. zu erwerben, muss man laut der Bank Raiffeisen ein Bruttoeinkommen von 176’000 Fr. pro Jahr erzielen.

Die Preise für Wohnimmobilien sind innerhalb von zehn Jahren um rund 50% gestiegen. Für eine Wohnung im Wert von 800’000 Fr. musste ein Käufer im Jahr 2011 rund 140’000 Fr. verdienen. Heute kostet die gleiche Wohnung 1,2 Mio. Fr., und der Käufer müsste 200’000 Fr. verdienen, um die Tragbarkeitsregeln der Banken zu erfüllen. Das hat zur Folge, dass immer mehr Haushalte von Immobilienbesitz, der wichtigsten Sparquelle, ausgeschlossen werden und mehr für die Miete zahlen müssen, was sich negativ auf den allgemeinen Wohlstand auswirkt.

Eine typische Desinformation ist zudem die Behauptung, dass die Haushalte insgesamt reicher werden, wenn die Aktienmärkte steigen. In einer Pressemitteilung des Federal Reserve hiess es im Jahr 2020, dass dank des Aktienmarktes «das Vermögen der Privathaushalte im zweiten Quartal einen Rekordwert erreicht hat». Tatsächlich sind nur 10% der Amerikaner am Aktienmarkt engagiert. Sie besitzen 90% der Aktien. Die anderen 9o% der Bevölkerung profitieren wenig bis gar nicht von den Aktiengewinnen. Sie sind von den Löhnen abhängig, die einen massiven relativen Kaufkraftverlust erlitten haben. Auch in der Schweiz haben die Pensionskassen nicht viel vom Börsenanstieg profitiert: Nur 1 bis 2% der Performance gingen an das versicherte Kapital, der Rest an die Langlebigkeitsreserven.

Offshore-Lecks und unbekannte Quellen

Ein Kapitel befasst sich mit der Qualität der von Journalistenkonsortien verbreiteten Informationen über Steuerhinterziehung und Geldwäschereikonten, die aus Offshore-Ländern durchsickern. Wir hatten Offshore-Leaks, Swissleaks, Panama Papers, Pandora Papers und Swiss Secrets. Aber das Problem liegt in der Quelle: Wer gibt diese Tausenden von Gigabytes an Daten an die Zeitungen weiter? Wie kann man sich der Datenintegrität sicher sein?

Warum sind nur immer kleine Gerichtsbarkeiten wie die Schweiz (zweimal innerhalb von sieben Jahren), Panama, Malta, Könige aus dem Nahen Osten und russische Oligarchen im Visier, aber nie grosse Gerichtsbarkeiten wie London oder Delaware oder US-Kongressmitglieder, Generäle und Spione? Könnten die Quellen der Datenlecks staatliche Stellen sein, wie im Fall von HSBC (französische Regierung) und im Fall der Spionage bei der Credit Suisse (deutsche Regierung)?

Die einzige Schlussfolgerung, die gezogen werden kann, ist, dass ein Anleger, ein Sparer, ein Unternehmer, ein Analyst, der informiert sein und andere korrekt informieren will, unbedingt Informationen überprüfen, Quellen diversifizieren, Statistiken durch andere Indikatoren ergänzen, Methoden infrage stellen und niemals offizielle Informationen für die wissenschaftliche Wahrheit halten sollte.

(Quelle: Myret Zaki, Désinformation Economique, 2022, Editions Favre.)

Myret Zaki

Myret Zaki begann 1997 als Analystin in einer Genfer Privatbank, wo sie die Grundlagen der Unternehmensanalyse erlernte. 2001 wechselte sie zur Tageszeitung «Le Temps», wo sie neun Jahre lang den Finanzbereich leitete. Als die Finanzkrise 2008 ausbrach, schrieb sie das investigative Buch «UBS am Rande des Abgrunds», für das sie den Schweizer Journalistenpreis erhielt. 2010 wechselte sie zu «Bilan»; von 2014 bis 2019 war Zaki Chefredakteurin der Zeitschrift. Zwischen 2010 und 2016 schrieb sie drei weitere Bestseller über das Bankgeheimnis, das Ende des Dollar-Reserve-Status und den Aufstieg des Schattenbankensystems. Zaki hat einen Bachelor in Politikwissenschaft von der American University in Kairo und einen MBA von der Business School of Lausanne. Heute ist sie Leiterin der Fakultät für Kommunikation an der Hochschule für Journalismus und Medien in Lausanne.
Myret Zaki begann 1997 als Analystin in einer Genfer Privatbank, wo sie die Grundlagen der Unternehmensanalyse erlernte. 2001 wechselte sie zur Tageszeitung «Le Temps», wo sie neun Jahre lang den Finanzbereich leitete. Als die Finanzkrise 2008 ausbrach, schrieb sie das investigative Buch «UBS am Rande des Abgrunds», für das sie den Schweizer Journalistenpreis erhielt. 2010 wechselte sie zu «Bilan»; von 2014 bis 2019 war Zaki Chefredakteurin der Zeitschrift. Zwischen 2010 und 2016 schrieb sie drei weitere Bestseller über das Bankgeheimnis, das Ende des Dollar-Reserve-Status und den Aufstieg des Schattenbankensystems. Zaki hat einen Bachelor in Politikwissenschaft von der American University in Kairo und einen MBA von der Business School of Lausanne. Heute ist sie Leiterin der Fakultät für Kommunikation an der Hochschule für Journalismus und Medien in Lausanne.