Meinung

Peak China

Kriselnde Binnenwirtschaft, Absetzbewegungen westlicher Länder, ebenso einzelner Unternehmen, sowie Xis unverhülltes und damit kontraproduktives Streben, sein Reich als global wichtigste Supermacht zu etablieren. Das wirft die grundlegende Frage auf: Hat sich Chinas vermeintlich unumkehrbarer Aufstieg schon ins Gegenteil verkehrt?

Daniel Woker
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Grosse westliche Finanzinstitute setzen weiterhin auf chinesisches Wachstum wie zuvor. Sie werden sich dabei die Finger verbrennen: Die chinesische Binnenwirtschaft stagniert, da der grosse Nachholboom – die Erwartung ist, dass der chinesische Durchschnittsbürger nach der durch die Pandemie erzwungenen Pause wieder mehr konsumiert – ausbleibt.

Der vermeintliche Überhang der privaten Ersparnisse ist in China um einen Faktor drei kleiner als in den USA, wo bekanntlich der Nach-Pandemie-Boom zur Überhitzung der Konjunktur und damit zu vorübergehend gefährlich hoher Inflation geführt hat.

Ruchir Sharma, Vorsitzender von Rockefeller International, wo die Mittel für die zu den weltgrössten Stiftungen zählende Rockefeller Foundation generiert werden, sieht das bisherige Wachstumsmodell Chinas als gescheitert: «Stimulus and debt was always unsustainable and now has run out of steam».

Als Beispiel mag der sich in einer tiefen Krise befindende chinesische Immobilienmarkt gelten: Dessen explosionsartiges Wachstum mit entsprechend gewaltigem Überhang an Leerwohnungen wurde durch Landverkäufe von Lokalbehörden genährt, die dadurch ihre Budgets finanzierten, währenddem die Käufer von finanziellen Konjunkturanreizen der Zentralregierung profitieren. Diese bleiben nun aus, womit das Kartenhaus einknickt.

Wirtschaftliche Absetzbewegungen

Wirtschaftliche Schlagzeilen verkünden aktuell, dass auf den anfänglichen US-amerikanischen Ruf nach de-coupling – die Unterbrechung von Wirtschaftsverbindungen mit China – angesichts des Gewichts der Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und dem Westen nun die Forderung folgt nach de-risking – Abbau strategischer Abhängigkeit von China und betriebswirtschaftliche Verteilung des bislang auf China zentrierten Geschäftsrisikos auf andere Länder und Regionen.

Im Papier Europäische wirtschaftliche Sicherheitsstrategie der EU-Kommission an die Adresse der Mitgliedsländer wird der erste Teil von de-risking konkretisiert. Direktinvestitionen in Europa sollen stärker überwacht und umgekehrt europäische sicherheitsrelevante Investitionen in China verboten werden. Zudem sollen für dual use-Güter – zivile und militärische Nutzung möglich – umfassende Exportkontrollen eingeführt werden. Damit wird eine Parallele deutlich zum Kalten Krieg, als solche Kontrollen mit der UdSSR und dem Ostblock bestanden.

Auf der Ebene einzelner Unternehmen mehren sich Beispiele von Absetzbewegungen. Im prominenten Fall des Reifenherstellers Pirelli hat die italienische Regierung in der Folge von Klagen aus der Gründerfamilie des Weltkonzerns die Rechte des grössten Anteilseigners von Pirelli, Sinochem, so beschnitten, dass de facto die Familie wieder die volle Kontrolle übernimmt.

Sogar die deutsche Autoindustrie, die mit den oben zitierten westlichen Finanzinstitutionen zu den wichtigsten Befürwortern völlig freien Wirtschaftsverkehrs mit China gehört, kommt unter Druck. Volkswagen, BMW und Mercedes sind von der wichtigen Nichtregierungsorganisation «Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte», mit Sitz in Berlin, bezichtigt worden, Zwangsarbeit in der west-chinesischen Provinz Xinjiang zu dulden. Diese Klage muss nun auf der Basis des deutschen Lieferkettengesetzes von der nationalen Wettbewerbsbehörde geprüft werden. Volkswagen hat bereits angekündigt, dass im Werk in Xinjiang keine Autos mehr gefertigt würden.

Ob de-coupling oder de-risking, der Effekt ist derselbe: Das Volumen westlicher Wirtschaftstätigkeit in und mit China nimmt ab.

«Xivilisation»

Im April dieses Jahres hat Xi als dritten Pfeiler seiner Vorstellung zur künftigen Weltordnung die Global Civilization Initiative enthüllt; dies in der Folge seiner Global Security Initiative und der Global Development Initiative.

Letztere bildet das ideologische Gerüst der Belt and Road Initiative, der neuen Seidenstrasse, die Beijing als neue Welthauptstadt mittels einer gewaltigen Kette von Infrastrukturprojekten mit Südostasien, Afrika und Europa verbinden soll. Zahlreiche Strassen, Häfen und Bahnlinien sind tatsächlich entstanden, viele davon haben allerdings – weil mit keineswegs günstigen chinesischen Krediten finanziert und ausschliesslich von chinesischen Arbeitskräften gebaut – in den Empfängerländern riesige Schulden und Bürger hinterlassen, die ob dieses neuen Kolonialismus aufgebracht sind.

Die Global Security Initiative meint tatsächlich ungestümes Wachstum chinesischer Aufrüstung und die Möglichkeiten zum Kauf chinesischer Rüstungsgüter für jene in der Dritten Welt, die sich nicht länger auf den teureren westlichen Märkten eindecken wollen.

Der ideologisch anspruchsvollste Pfeiler der «Xivilisation» – das offizielle Sprachrohr Beijing’s im Ausland, die Global Times benutzt diesen Begriff ohne ironischen Unterton tatsächlichist zweifellos die Civilization Initiative.

Vordergründig kommt sie daher als anti-kolonialistisches Zurück zu den jeweiligen lokalen Traditionen und damit der Verneinung «westlicher» Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie. Sie entfaltet so eine gewisse Attraktivität insbesondere für die zahlreichen Autokraten und ihre einheimische Klientel in der Dritten Welt, welchen so die ideologische Grundlage offeriert wird, lästige Kritiken aus dem Westen, aber auch berechtigte Begehren ihrer eigenen Bürger zurückzuweisen.

Angesichts der langen Reihe von Bewerbern, die der Organisationsstruktur der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) beitreten wollen – sie umfasst politische Gremien, Wirtschaftsvereinbarungen und eine eigene Bank –, scheint Xis Unterfangen, einen mächtigen, antiwestlichen Gegenpol zu bilden, auf den ersten Blick erfolgreich.

Bei näherem Zusehen wird aber klar, dass BRICS ein reines Zweckbündnis ist, in dem jeder seine eigenen Ziele verfolgt und keineswegs gewillt ist, nach der chinesischen Pfeife zu tanzen. Indien ist gar auf einen strategischen Kurs eingeschwenkt, wie sich anlässlich des kürzlichen Staatsbesuches von Premierminister Narendra Modi in Washington gezeigt hat, der an der Seite der amerikanischen Front, namentlich mit Japan, Korea und Australien, im Indo-Pazifik einen dezidiert antichinesischen Weg verfolgt.

Die Reaktion

Es sind denn auch die wichtigsten direkten Nachbarn Chinas im Indo-Pazifik, die schnell und dezidiert gegen Beijing Stellung nehmen. Und so zum Ausdruck bringen, dass sie die gegenwärtige Pax Americana im Pazifik einer vom chinesischen Drachen dominierten Region vorziehen.

Der Quadtrilateral Dialogue (QUAD) zwischen den USA, Japan, Indien und Australien sind die entsprechende sicherheitspolitische Ausprägung davon; Korea ist lediglich wegen seinem von China bestimmten strategischen Mühlstein am Hals, dem «Bruderland» im Norden, der QUAD (noch) nicht beigetreten.

De facto nimmt Seoul aber bereits an entsprechenden, sicherheitspolitisch relevanten Tätigkeiten teil, so etwa an den Militärmanövern. Interessant in diesem Zusammenhang sind die neuesten Handelszahlen, wonach koreanische Exporte in die USA jene nach China kürzlich überholt haben.

In Südostasien, wo sich die ASEAN (Association of South-East Asian Nations) seit Jahren im fence-sitting zwischen der von den USA garantierten Sicherheit einerseits und der Verlockung des chinesischen Riesenmarktes andererseits übt, ist ebenfalls eine zumindest sicherheitspolitische Hinwendung zum Westen – und damit Abwendung von Beijing zu beobachten. Sprechendes Beispiel sind die Philippinen, wo die Regierung von Ferdinand Marcos Jr. zum traditionellen Militärbündnis mit Washington zurückgekehrt ist.

Xi ist heute wohl in der typischen Blase der Autokraten gefangen, in der die Höflinge jedem auch noch so abwegigen Einfall des Herrschers applaudieren und nur Neuigkeiten durchlassen, die ihm genehm sind. Realistisch denkende Mitglieder der chinesischen Führungsriege müssten aber zum Schluss kommen, dass sich der gegenwärtige Kurs absoluter Unterwerfung gegenüber dem Diktat von Xi als gefährlich erweisen könnte.

Denn Autokraten und Diktatoren haben tönerne Füsse, wie uns die Aktualität in Russland einmal mehr vor Augen führt.

Daniel Woker

Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Australien, Singapur und Kuwait. Davor war er erster Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), mit dem Titel eines Botschafters. Frühere diplomatische Posten umfassten Paris (Ministre Conseiller), Stockholm (stv. Missionschef) sowie Wirtschaftsrat an der Uno-Mission in New York. Heute arbeitet er als Spezialist für Geopolitik und Strategie, mit regelmässiger Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen über den Grossraum Asien-Pazifik, speziell die ASEAN und Australien, über die arabische Halbinsel und die Entwicklung der EU. Zusammen mit dem früheren Schweizer Diplomaten Philippe Welti hat Woker das Unternehmen Share-an-Ambassador gegründet, das sich auf geopolitische Due Diligence spezialisiert.
Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Australien, Singapur und Kuwait. Davor war er erster Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), mit dem Titel eines Botschafters. Frühere diplomatische Posten umfassten Paris (Ministre Conseiller), Stockholm (stv. Missionschef) sowie Wirtschaftsrat an der Uno-Mission in New York. Heute arbeitet er als Spezialist für Geopolitik und Strategie, mit regelmässiger Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen über den Grossraum Asien-Pazifik, speziell die ASEAN und Australien, über die arabische Halbinsel und die Entwicklung der EU. Zusammen mit dem früheren Schweizer Diplomaten Philippe Welti hat Woker das Unternehmen Share-an-Ambassador gegründet, das sich auf geopolitische Due Diligence spezialisiert.

Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität

Die beiden früheren Schweizer Botschafter Daniel Woker und Philippe Welti – beide auch freie Autoren im Team von The Market – haben in Zusammenarbeit mit The Market ein neues Smartbook verfasst: Geopolitik, die Beschäftigung mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, steht am Beginn jedes Auslandsgeschäfts. Die beiden Autoren, die in ihrer diplomatischen Arbeit unter anderem in Iran, Indien, Singapur und Australien stationiert waren, geben einen kenntnisreichen Überblick über die politischen, strategischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Weltregionen. Das Smartbook «Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität» kann im NZZ-Shop zu einem Preis von 33 Franken (inkl. Versandkosten) bestellt werden.
Die beiden früheren Schweizer Botschafter Daniel Woker und Philippe Welti – beide auch freie Autoren im Team von The Market – haben in Zusammenarbeit mit The Market ein neues Smartbook verfasst: Geopolitik, die Beschäftigung mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, steht am Beginn jedes Auslandsgeschäfts. Die beiden Autoren, die in ihrer diplomatischen Arbeit unter anderem in Iran, Indien, Singapur und Australien stationiert waren, geben einen kenntnisreichen Überblick über die politischen, strategischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Weltregionen. Das Smartbook «Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität» kann im NZZ-Shop zu einem Preis von 33 Franken (inkl. Versandkosten) bestellt werden.