Der Vorsitzende der US-Notenbank sieht die Geldpolitik als Instrument zur Schaffung von Arbeitsplätzen und damit zur Bewältigung der Pandemie. Das ist gefährlich.
Was war das wichtigste Ereignis des Jahres 2001? Die Vermutung liegt nahe, dass neun von zehn Menschen im Alter über dreissig in Europa und Amerika diese Frage mit «9/11» beantworten würden. Die Bilder der Terroranschläge haben sich ins Gedächtnis gebrannt. Die meisten Leute wissen noch genau, wo sie waren und wie sie sich fühlten, als am 11. September 2001, einem Dienstag, in New York die Türme des World Trade Center einstürzten. Die wenigsten hingegen dürften sich daran erinnern, wo sie am 11. Dezember 2001 waren. Und doch dürfte sich an diesem Tag, ebenfalls einem Dienstag, das folgenschwerere Ereignis zugetragen haben. An «12/11» nämlich wurde die Volksrepublik China in die Welthandelsorganisation WTO aufgenommen. Es war der Höhepunkt der Globalisierung.
Mit diesem Schritt beschleunigte sich der Aufstieg Chinas zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt. Mit dem Eintritt
Chinas in die WTO erlangten Trends, die in den Neunzigerjahren begonnen hatten, deutlich mehr Kraft. China forcierte sein exportorientiertes Wachstumsmodell, der Outsourcing-Boom intensivierte sich. Unzählige westliche Unternehmen verlagerten ihre Produktion in die Volksrepublik. Mehreren hundert Millionen Menschen in Asien gelang dank dieser Entwicklung der Sprung aus der Armut in die Mittelschicht.
Gleichzeitig wurde damit in den unteren und den mittleren Einkommensschichten des Westens, vor allem in den USA und Grossbritannien, eine verhängnisvolle Saat gesät. Arbeitsplätze gingen verloren, Einkommen stagnierten. Angst, Verzweiflung und Wut wurden geboren. Diese Entwicklung blieb zwar zunächst noch verborgen und kaum beachtet. Erst nach der Finanzkrise, mit der Gründung der «Tea Party»-Bewegung in der Republikanischen Partei und schliesslich 2016 mit der Wahl von Donald Trump,
reifte die Einsicht, dass das System der global hyperintegrierten Wirtschaft nicht nur Sieger produziert. Der Paradigmenwechsel von 2001 wurde zum Bumerang.
Zwei Jahrzehnte später steht die Wirtschaftswelt wieder mitten in einem Paradigmenwechsel. Ohne Zweifel ist, erstens, die Pandemie die Bestätigung für den Start des asiatischen Jahrhunderts. Die entwickelten Staaten Ost- und Südostasiens – egal, ob liberale Demokratie wie Japan, Korea und Taiwan, Einparteidiktatur wie China oder Technokratie wie Singapur – sind deutlich besser mit der Krise fertiggeworden als Westeuropa und die USA. Entsprechend
rascher kehren sie nun zu Wachstum und Prosperität zurück.
Die Parteiführung in Peking webt den Umgang mit der Pandemie gezielt ins Narrativ des Niedergangs des Westens ein. Man kann es fast nicht verübeln, denn der Westen hat sein Bestes beigetragen, um diesem Narrativ zu entsprechen: In den USA hat sich der
Populist Trump als krisenuntauglich erwiesen, und in Europa hat das politische Führungspersonal in der Aufgabe, sich mit Vernunft und Weitsicht zu beweisen, kläglich versagt.
Die Gewichtsverlagerung nach Asien ist der sichtbare Paradigmenwechsel der Pandemiejahre 2020 und 2021. Doch es ereignete sich noch ein zweiter, weniger sichtbarer Paradigmenwechsel, möglicherweise einer mit weitreichenderer Bedeutung.
Das Datum dieses Ereignisses ist der 27. August 2020. An diesem Tag stellte Jerome Powell, Vorsitzender der US-Notenbank (Fed), am Forum von Jackson Hole die Resultate der Strategieüberprüfung des Fed vor. Für Schlagzeilen sorgte die Ankündigung, das Fed werde fortan ein symmetrisches Inflationsziel von durchschnittlich 2% über einen längeren Zeitraum verfolgen. Wichtiger – und verborgener in der Rede Powells – war jedoch die Aussage, das Fed setze sich zum Ziel, Jobs für die unteren Einkommensschichten der USA («low- and moderate-income communities») zu schaffen.
Seit 1977 befolgt das Fed offiziell ein duales Mandat, nämlich die Sicherstellung maximaler Beschäftigung und stabiler Preise. An diesem Mandat hat sich offiziell nichts geändert, aber aus mehreren Reden von Powell lässt sich schliessen, dass das Fed eine Priorisierung vorgenommen und den Arbeitsmarkt als primäres Ziel definiert hat. Diese Priorisierung ist von enormer Bedeutung, denn im Grunde spricht die mächtigste Zentralbank der Welt damit zum ersten Mal explizit an, dass im sozialen Gefüge der USA ein Problem schlummert. Gewisse Bevölkerungsschichten haben nicht vom System der vergangenen rund drei Jahrzehnte profitiert. Sie waren die Verlierer der Globalisierung.
In gewisser Weise schlägt die US-Notenbank damit den Bogen zurück zu 2001, zu dem Jahr, das den Höhepunkt der Globalisierungseuphorie darstellte. Powell gesteht ein, dass die Gefahr zu gross geworden ist, die von der Angst, der Perspektivlosigkeit und der Wut der Verliererschichten im eigenen Land ausgeht. Es ist das Eingeständnis, dass keine westliche Demokratie es sich leisten kann, diesen Zorn zu ignorieren und die Abgehängten mit dem Argument zu vertrösten, die Flut einer global voll integrierten Wirtschaft werde alle Boote heben. Die Frage ist bloss: Schlägt Powell den richtigen Weg ein?
Die Antwort ist Nein. Schritt für Schritt sind die Zentralbanken in den vergangenen Jahren in die Rolle der ewigen Krisenmanager geschlüpft. Sie haben damit zwar akute Brände gelöscht, aber ihre Aktionen überdeckten jeweils bloss tiefer liegende, strukturelle Probleme.
In den USA antwortete das Fed seit 1987, seit Alan Greenspan von Paul Volcker die Zügel übernommen hatte, auf jede Krise mit einer noch expansiveren Geldpolitik. Stets stand dahinter der Gedanke, den Kreditschöpfungszyklus rasch wieder anspringen und die Vermögenspreise steigen zu lassen.
Auf diese Weise blieb die korrosive Kraft der wachsenden Ungleichheit im Land lange verborgen, denn auch einkommensschwache Haushalte konnten sich mit wachsenden Kreditkarten- und Hypothekarschulden der Illusion von Wohlstand hingeben. Bis zum jeweils nächsten Knall. Die Ökonomen Atif Mian und Amir Sufi haben diese verhängnisvolle Entwicklung mit «House of Debt» ebenso überzeugend aufgearbeitet wie Raghuram Rajan mit «Fault Lines» – zwei der wichtigsten und zu wenig beachteten Bücher des vergangenen Jahrzehnts.
Das Fed spielte über drei Jahrzehnte eine entscheidende Rolle darin, die Bruchlinien in der amerikanischen Gesellschaft zu verbergen. Doch mit jeder Krise vertieften sich die Gräben weiter, jedes Mal wuchs der Zorn, und jedes Mal waren noch extremere geldpolitische Massnahmen nötig, um das System am Laufen zu halten. Das Phänomen beschränkt sich nicht auf die USA. Die Europäische Zentralbank steckt seit zehn Jahren im geldpolitischen Ausnahmezustand. Doch auch sie kann die strukturellen Konstruktionsfehler der Währungsunion nicht lösen. Sie kann nur die Bruchlinien verbergen.
Powell liegt richtig mit seiner Diagnose. Die zunehmende Perspektivlosigkeit in Teilen der Bevölkerung ist tatsächlich eine Zeitbombe, in den USA genauso wie in Europa. Wenn Menschen das Gefühl erhalten, es gehe ihnen morgen schlechter als gestern, ist das eine Gefahr für den Zusammenhalt in den westlichen, liberalen Demokratien. Es macht die Gesellschaft anfällig für die Heilsversprechen von Populisten.
Aber die Behandlungsmethode ist die falsche. Die Lösung struktureller Probleme ist Aufgabe der gewählten Politik, nicht der Zentralbanken. Die Regierung von Joe Biden steht vor der gewaltigen Herausforderung, die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft zuzuschütten und den abgehängten Bevölkerungsschichten echte Perspektiven zu geben. Diese Herausforderung stellt sich auch den Regierungen in Europa.
Indem Fed-Chef Powell jetzt unter dem Banner der Schaffung von Arbeitsplätzen willentlich eine weitere Blase aufbläht, dreht er bloss am Rad weiter, das seine Vorgänger seit Greenspan gedreht haben. Denn eines lehrt die Geschichte mit brutaler Konstanz: Jede Blase platzt. Im schlimmsten Fall wird die Powell-Blase vor 2024 platzen und noch tiefere Gräben aufreissen als die Finanzkrise von 2008. Dann steht der Weg ins Weisse Haus frei für die nächste Generation von Populisten – sei es von rechts aussen oder von links aussen.