Meinung

Something of Value

Eine kategorische Trennung zwischen Value und Growth erweist Anlegern in der sich schnell verändernden Welt von heute keinen guten Dienst. Wichtiger ist, wie sich der Wert eines Unternehmens zu seinem Marktpreis verhält, einschliesslich der Aussichten.

Howard Marks
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Ich habe schon früher geschrieben, dass mir Fragen ein gutes Gefühl dafür geben, was die Leute wirklich beschäftigt. Eine Frage, die mir in letzter Zeit häufig gestellt wird, betrifft die Aussichten für Value-Anlagen.

Wachstumswerte haben in den letzten dreizehn Jahren deutlich besser abgeschnitten als Value-Titel. Das ist ein lange Zeit - so lange, dass die Leute mich fragen, ob das ein Dauerzustand sein wird. Diskussionen mit meinem Sohn Andrew führten mich zum Schluss, dass eine kategorische Trennung zwischen Value und Growth Anlegern in der sich schnell verändernden Welt von heute keinen guten Dienst erweist.

Nicht nur ist es so, dass die traditionellen Grundpfeiler des klassischen Value-Investing – leicht verfügbare quantitative Kennzahlen für eine günstige Bewertung – für sich allein genommen wahrscheinlich keinen nachhaltigen Vorteil mehr bringen. Die Welt ist auch komplexer geworden. Es gibt viel mehr dynamische Entwicklungen, die eine Entkopplung der kurzfristigen Kennzahlen von der Bewertung bewirken können, sowohl zum Positiven als auch zum Negativen.

Früher konnte Warren Buffett Unternehmen finden, bei denen klar war, dass sie über lange Zeit dominieren würden. Er konnte eine relativ einfache Analyse durchführen, um ihren Wert zu beurteilen. So konnte er sich zum Beispiel ein Unternehmen wie die «Washington Post» ansehen, die im Wesentlichen die Monopolzeitung in einer Grossstadt war, und auf der Grundlage vernünftiger, konsistenter Annahmen bezüglich einiger weniger Variablen wie Auflage oder Abonnements- und Anzeigenpreise investieren. Es war klar, dass die Zeitung dank ihrem starken «Burggraben» dominant bleiben wird und die Vergangenheit der Zukunft damit sehr ähnlich sein wird.

Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Lage heute wie folgt:

  • Weil die Märkte global sind und das Internet sowie Software das Gewinnpotenzial enorm gesteigert haben, können Technologiefirmen viel wertvoller werden, als wir uns früher vorstellen konnten.
  • Innovation und die Adaption von Technologie spielen sich in einem viel höheren Tempo ab als je zuvor.
  • Noch nie war es einfacher, ein Unternehmen zu gründen, und noch nie stand mehr Kapital zur Finanzierung von Unternehmertum zur Verfügung.
  • Es gab auch noch nie so viele hochqualifizierte Leute, die ein Unternehmen gründen und aufbauen.
  • Da viele dieser Unternehmen Produkte verkaufen, die am Computer programmiert werden, sind ihre Kosten und ihr Kapitalbedarf extrem niedrig, und ihre Rentabilität - vor allem bei wachsenden Einnahmen - ist ungewöhnlich hoch. Daher waren die Gewinner noch nie so profitabel, mit sehr hohen Gewinnmargen und minimalem Kapitalbedarf.
  • Weil die Reibungsverluste und die Grenzkosten der Expansion über das Internet so gering sind, können Unternehmen viel schneller wachsen als je zuvor.
  • Dies wiederum führt dazu, dass die tatsächliche potenzielle Wirtschaftlichkeit von Gewinnern verschleiert wird und die Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern ohne grossen Analyseaufwand schwierig ist.
  • Da es in der digitalen Welt viel einfacher ist, neue Produkte zu entwickeln und zu skalieren - oft braucht es nicht viel mehr als Ingenieure und Programmierzeilen -, war es für Unternehmen noch nie so einfach, völlig neue Wachstumswege zu erschliessen und ihre Startbahn zu verlängern. Amazons Cloudsparte AWS oder die Cash App von Square sind zwei bemerkenswerte Beispiele.
  • Die Burggräben, die die heutigen Gewinner schützen, waren noch nie so stark, und wie Brian Arthur in seinem bemerkenswerten Werk «Increasing Returns and the New World of Business» vor fast 25 Jahren aufzeigte, werden die Gewinner oft stärker und effektiver, wenn sie grösser werden. In der Vergangenheit hingegen wurden sie häufig aufgebläht und ineffizient.
  • Umgekehrt bedeutet der Ansturm von Startups mit leicht verfügbarem Kapital und minimalen Barrieren für Wachstum, dass noch nie so viele traditionelle Unternehmen in ihrer Existenz bedroht waren.
  • Gleichzeitig ist es aber auch wichtig zu erkennen, dass die führenden Tech-Firmen Bedrohungen durch die Wettbewerbsbehörden ausgesetzt sind, die glauben, dass diese Unternehmen eine übermässige Marktmacht entwickelt haben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Unternehmen in der heutigen Welt sowohl verletzlicher als auch dominanter sind und viel grössere Möglichkeiten haben, ihr Schicksal dramatisch zu ändern, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn.

Auf der positiven Seite haben erfolgreiche Unternehmen viel mehr Potenzial für langanhaltendes hohes Wachstum sowie für eine überlegene Rentabilität. Das schafft einen riesigen Goldtopf am Ende des Regenbogens und rechtfertigt scheinbar Bewertungen, die im historischen Vergleich unangenehm hoch sind.

Auf der negativen Seite schafft das aber auch eine immense Versuchung für Investoren, hohe Bewertungen für Unternehmen zuzulassen, die es nicht verdienen. Und Unternehmen mit aktuellen Cashflows und scheinbarer Stabilität können sich in Luft auflösen, sobald eine Gruppe von Stanford-Informatikstudenten eine Finanzierung für eine neue Idee erhält, mit der ihnen der Durchbruch gelingt.

Wenn ich diese neue Welt betrachte, denke ich, dass Investoren, die auf Basis von Fundamentaldaten anlegen, bereit sein müssen, Unternehmen gründlich zu analysieren – auch solche mit starker Abhängigkeit von immateriellen Vermögenswerten und Wachstum in ferner Zukunft. Das mit dem Ziel, echte Erkenntnisse zu gewinnen. Ein solches Vorgehen steht jedoch bis zu einem gewissen Grad im Gegensatz zur Mentalität des Value-Investors.

Ein Teil dieser Mentalität ist das Beharren auf beobachtbaren Werten in der Gegenwart sowie eine Abneigung gegen Dinge, die flüchtig oder unsicher erscheinen. Viele der lukrativsten Phasen für Value-Investoren kamen in Zeiten der Panik nach dem Platzen von Preisblasen. Diese Tatsache hat wahrscheinlich dazu geführt, dass Value-Investoren der Euphorie sehr skeptisch gegenüberstehen, insbesondere wenn es um Unternehmen geht, deren Vermögenswerte immateriell sind.

Skepsis ist für jeden Investor von Belang; es ist immer wichtig, pauschale Annahmen zu hinterfragen, Herdentrieb zu vermeiden und unabhängig zu denken. Skepsis gibt Anlegern Sicherheit und hilft ihnen, Investments zu vermeiden, die «zu schön sind, um wahr zu sein».

Ich denke aber auch, dass Skepsis zu einer vorschnellen Ablehnung führen kann. Es ist zwar wichtig, skeptisch zu bleiben. In dieser neuen Welt ist es jedoch auch sehr wichtig, neugierig zu sein, sich die Dinge genau anzuschauen und zu versuchen, sie wirklich von Grund auf zu verstehen, anstatt sie von vornherein abzulehnen. Ich befürchte, dass Value-Investing zu einer mechanischen Anwendung von Formeln führen kann, die auf Erfahrungen und Modellen der alten Welt beruhen.

In Zeiten grosser Veränderungen kann das massive Fehler zur Folge haben. John Templeton warnte vor den Gefahren des «This time is different». Er räumte aber auch ein, dass es in 20% der Fälle wirklich anders ist. Angesichts des zunehmenden Einflusses von Technologie im 21. Jahrhundert würde ich wetten, dass dieser Prozentsatz heute viel höher ist.

Im Hinblick auf wirklich dominante Unternehmen, die in der Lage sind, schnell, dauerhaft und hochprofitabel zu wachsen, ist es zudem erwähnenswert, dass es enorm schwer ist, sie auf der Basis kurzfristiger Kennzahlen zu bewerten. Die grundlegenden Gleichungen der Finanzwirtschaft sind nicht für ein dauerhaftes Wachstum im hohen zweistelligen Prozentbereich ausgelegt. Das macht die Bewertung von schnell wachsenden Unternehmen zu einer komplizierten Angelegenheit.

Wie John Malone bekanntlich sagte: «Wenn die langfristige Wachstumsrate die Kapitalkosten übersteigt, ist der Gegenwartswert unendlich.» Das gilt jedoch nur für wirklich besondere Unternehmen. Diese gibt es selten und sie sind sicherlich nicht so allgegenwärtig, wie es der Markt in Zeiten des Überschwangs unterstellt.

In Zeiten von extremem Optimismus an den Märkten – wie zum Beispiel bei der Nifty-Fifty- oder der Dotcom-Blase – ist wichtig, Folgendes anzumerken:

  • a) Jedes Unternehmen in dem betroffenen Bereich wird als langfristiger Gewinner erachtet.
  • b) Beim Kauf in Zeiten von grossem Optimismus und extremen Bewertungen liefern auch die besten Unternehmen nur mässige Renditen für Investoren.
  • c) Beim Crash, der den meisten Blasen folgt, können sowohl gute als auch schlechte Unternehmen zwischenzeitlich hohe Verluste einfahren.

Das erfordert eine scharfe Analyse, um zwischen guten und schlechten Unternehmen zu unterscheiden. Dazu kommen eine hohe Überzeugung und ein eiserner Durchhaltewillen.

Ich möchte klarstellen, dass ich damit kein Urteil über die heutigen Bewertungen von Wachstumsaktien impliziere. Ich habe eine Vielzahl von Ansichten gehört. Obwohl ich meine eigene Meinung dazu habe, möchte ich sie nicht zum Thema dieses Memos machen.

Im Sinne des Versuchs, diese neue Welt zu verstehen, wären Marktkommentatoren – mich eingeschlossen – gut damit bedient, die Fundamentaldaten zu verstehen, die der kleinen Anzahl von Unternehmen zugrunde liegen, die derzeit einen riesigen Prozentsatz des Marktes antreiben, anstatt Top-Down-Schlussfolgerungen auf rein historische Bewertungsvergleiche zu stützen.

Auch scheint es unklug, sich über das Niveau des Gesamtmarktes zu äussern, ohne die Tech-Unternehmen zu verstehen, die heute einen so grossen Anteil an Aktienindizes wie dem S&P 500 ausmachen. Wie mein Sohn Andrew mich immer wieder erinnert, kann man nur schwer überzeugend argumentieren, die Börse sei zu teuer, wenn man nicht erklären kann, warum die führenden Tech-Unternehmen überbewertet sind.

Die mit Abstand wichtigste Absicht dieses Memos ist, das Denken zu erkunden, das sich meiner Meinung nach für Value-Investoren in den kommenden Jahrzehnten als am erfolgreichsten erweisen wird; unabhängig davon, was der Markt in den kommenden Jahren tut.

Dazu sind zwei Punkte zu beachten:

  • a) Die potenzielle Bandbreite der Ergebnisse für viele der heutigen Unternehmen ist sehr gross.
  • b) Es gilt, Überlegungen mit enormen Auswirkungen auf den Wert vieler Unternehmen zu berücksichtigen, die sich nicht in leicht verfügbaren quantitativen Kennzahlen zeigen. Dazu gehören eine überlegene Technologie, Wettbewerbsvorteile, eine beständige Ertragskraft, die Bedeutung des Humankapitals im Gegensatz zur Kapitalausstattung sowie der potenzielle Optionswert künftiger Wachstumsmöglichkeiten.

Mit anderen Worten: Um die Angemessenheit des Marktpreises von Unternehmen zu bestimmen, ist heute ein tiefes Mikroverständnis erforderlich. Das macht es praktisch unmöglich, die Bewertung eines schnell wachsenden Unternehmens aus 1000 Metern Höhe oder durch die Anwendung traditioneller Bewertungskennzahlen zu beurteilen.

Manche der hohen Bewertungen sind heute wahrscheinlich durch die Zukunftsaussichten mehr als gerechtfertigt, während andere lächerlich sind – genauso wie einige niedrig bewertete Unternehmen vor dem unmittelbaren Untergang stehen können, während andere nur vorübergehend Probleme haben. Der Schlüssel ist wie immer zu verstehen, wie sich der heutige Marktpreis zum breit definierten inneren Wert des Unternehmens verhält, einschliesslich der Aussichten.

Zum Schluss fasse ich die wichtigsten Folgerungen zusammen:

  • Value-Anlagen sind nicht zwingend Unternehmen mit niedrigen Bewertungskennzahlen. Die Tatsache, dass ein Unternehmen schnell wächst, sein Erfolg von immateriellen Werten wie Technologie abhängt und/oder ein hohes Kurs-Gewinn-Verhältnis aufweist, heisst nicht, dass man nicht auf der Basis des inneren Wertes in das Unternehmen investieren kann.
  • Viele Quellen des potenziellen Wertes lassen sich nicht auf eine Zahl reduzieren. Wie Albert Einstein gesagt haben soll: «Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.» Die Tatsache, dass etwas nicht mit Präzision vorhergesagt werden kann, bedeutet nicht, dass es nicht real ist.
  • Da quantitative Informationen über die Gegenwart leicht verfügbar sind, ist der Erfolg im hart umkämpften Feld des Investierens vorab das Ergebnis überlegener Urteile über qualitative Faktoren und zukünftige Ereignisse.
  • Die Tatsache, dass von einem Unternehmen ein schnelles Wachstum erwartet wird, bedeutet nicht, dass dieses unvorhersehbar ist. Die Tatsache, dass ein anderes Unternehmen eine Geschichte stetigen Wachstums hat, bedeutet nicht, dass es nicht in Schwierigkeiten geraten kann.
  • Wenn ein Wertpapier hohe Bewertungskennzahlen aufweist, bedeutet das nicht, dass es überbewertet ist. Die Tatsache, dass ein anderes Wertpapier eine niedrige Bewertungskennzahl aufweist, bedeutet aber auch nicht, dass es ein Schnäppchen ist.
  • Nicht alle Unternehmen, von denen erwartet wird, dass sie schnell wachsen, werden dies auch tun. Aber es ist sehr schwer, diejenigen Unternehmen richtig einzuschätzen und zu bewerten, die schnell wachsen.
  • Wenn Sie ein Unternehmen mit der sprichwörtlichen Lizenz zum Gelddrucken finden, sollten Sie dessen Aktien nicht verkaufen, nur weil der Kurs gestiegen ist. Sie werden in Ihrem Leben nicht viele solcher Gewinner finden, und Sie sollten das Beste aus denjenigen herausholen, die Sie finden.

Ich habe einmal einen bekannten Value-Investor gefragt, wie er die Aktien schnell wachsender Unternehmen wie Amazon im Portfolio halten konnte – nicht heute, da sie anerkannte Gewinner sind, sondern vor zwei Jahrzehnten. Seine Antwort war einfach: «Sie sahen für mich wie Value aus.» Ich denke, die Antwort lautet daher: «Wert ist da, wo man ihn findet.»

Meine Gespräche mit Andrew während der letzten zehn Monate der Pandemie waren eine Entdeckungsreise und haben zu diesem Memo geführt. Ich denke, wir haben in Bezug auf die Frage von Value- und Growth-Anlagen wichtige Erkenntnisse gewonnen, und in diesem Prozess habe ich viel über mich selbst gelernt.

Ich möchte nicht behaupten, dass alles, was ich hier geschrieben habe, auf alle Value- oder Growth-Investoren zutrifft. Es wird sehr viel verallgemeinert, und wir wissen, wie unvollkommen Verallgemeinerungen sein können. Ich behaupte auch nicht, dass alles in diesem Memo richtig ist. Es ist nur der aktuelle Stand meines Denkens. Ich bestehe nicht darauf, dass meine Version die einzig mögliche ist. Ich erwarte, dass sie sich weiterentwickelt, wenn sich die Welt verändert und ich Neues lerne.

Ich hoffe, Sie finden dieses Memo interessant und hilfreich, und ich wünsche Ihnen alles Gute für das Jahr 2021.

Bei diesem Gastbeitrag handelt es ich um einen Auszug aus dem jüngsten Memo von Howard Marks . Die Originalfassung in Englisch ist unter diesem Link abrufbar. Zudem kann sie hier als Podcast angehört werden.

Howard Marks

Howard Marks ist Co-Chairman von Oaktree Capital Management. Seit der Gründung von Oaktree 1995 ist er dafür verantwortlich, dass sich die US-Investmentgesellschaft nach den Kernprinzipien ihrer Anlagephilosophie richtet. Er pflegt einen engen Kontakt zu Kunden hinsichtlich Anlageprodukten sowie Strategien. Zudem bringt er seine Erfahrung ein, wenn es um fundamentale Entscheide zu Investitionen und der Unternehmensausrichtung geht. Howard Marks ist in der internationalen Finanzbranche für seine «Memos» an Oaktree-Kunden bekannt. Warren Buffett hat dazu einmal gesagt: «Wenn ich ein Memo von ihm in meiner Mailbox sehe, ist es das Erste, was ich öffne und lese. Ich lerne dabei immer etwas.»
Howard Marks ist Co-Chairman von Oaktree Capital Management. Seit der Gründung von Oaktree 1995 ist er dafür verantwortlich, dass sich die US-Investmentgesellschaft nach den Kernprinzipien ihrer Anlagephilosophie richtet. Er pflegt einen engen Kontakt zu Kunden hinsichtlich Anlageprodukten sowie Strategien. Zudem bringt er seine Erfahrung ein, wenn es um fundamentale Entscheide zu Investitionen und der Unternehmensausrichtung geht. Howard Marks ist in der internationalen Finanzbranche für seine «Memos» an Oaktree-Kunden bekannt. Warren Buffett hat dazu einmal gesagt: «Wenn ich ein Memo von ihm in meiner Mailbox sehe, ist es das Erste, was ich öffne und lese. Ich lerne dabei immer etwas.»