Meinung

«Too Big To Fail» bedeutet ganz einfach: «Too Big»

Banken und Märkte sind systemisch instabil. Sie sind dem Verhalten der involvierten Akteure ausgesetzt, das grundsätzlich nicht modellierbar ist. Wir haben es in diesem Bereich nicht mit Risiko zu tun, sondern mit reiner Unsicherheit.

Erwin W. Heri
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Es wird Zeit, dass wir, d.h. die Sparer und Anleger, aber auch die Gesellschaft und die Politik, sich Rechenschaft geben, dass Geld-, Finanz- und Anlagemärkte fundamental und systemisch instabil sind.

Das ist nicht eine hyperventilierende Reaktion auf das, was Mitte März mit der Credit Suisse passiert ist. Das ist seit langem bekannt, in der Wissenschaft oft thematisiert und illustriert, wurde aber in der Geld- und Finanzindustrie sowie in der Politik ebenso oft negiert oder auf die Seite geschoben; im Sinne von: «We cross the bridge when we get there».

In der Bank- und der Volkswirtschaftslehre werden die wirtschaftlichen Prozesse gerne mit statisch/mathematischen Modellen beschrieben. Das ist gut so, denn das gibt einem die Möglichkeit, die zugrundliegenden Prozesse und Verhaltensnormen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu simulieren. Dabei muss man Annahmen treffen, die natürlich oft wenig mit der Realität zu tun haben, aber für «normale» Analysen in «normalen» Zeiten interessante Einsichten liefern.

Wenn aber das Gefühl entsteht, man könne solche Modelle unbesehen auf alle möglichen Szenarien anwenden, ohne die Dynamik des Verhaltens der involvierten Akteure zu berücksichtigen, dann kann einiges schieflaufen.

Es ist eben gerade das nicht-modellierbare Verhalten der Akteure, das die Analytiker oft in die Irre führt. Viele der hier wirkenden Prozesse sind in den letzten Jahren unter dem Titel der Behavioral Economics beleuchtet worden. So die Bedeutung des bekannten Herdentriebs zur Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge oder das Faktum, dass gerade an den Finanzmärkten individuell rationales Verhalten im Kollektiv zu nicht mehr kontrollierbaren Exzessen führen kann.

Nehmen wir zwei konkrete Beispiele: Eine einfache Bank, z.B. eine Spar- und Leihkasse, und eine Investment Bank.

Die Spar- und Leihkasse

Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass auch eine Spar- und Leihkasse (S&L), so harmlos sie im Einzelfall daherkommt, ein grundsätzlich systemisch instabiles Geschäftsmodell ist. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Das ist keine Absage an das Spar- und Leihkassen-Modell. S&L sind ausserordentlich wichtig für die Entwicklung einer arbeitsteiligen Wirtschaft.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Geschäftsmodell grundsätzlich und fundamental instabil ist. Auf der Passivseite der Bilanz finden sich Gelder, die in der Regel kurzfristigen Charakter haben, aber zur Finanzierung langfristiger Kredite verwendet werden.[1] Das ist an sich kein Problem, da viele der Einleger ihre Gelder nicht kurzfristig benötigen – deswegen bringen sie sie ja auf die Bank.

Dadurch entsteht eine Art «Bodensatz», der im Prinzip wiederum langfristigen Charakter hat und entsprechend auch langfristig ausgelehnt werden kann. Im Prinzip, d.h. so lange die Akteure sich entsprechend verhalten, sprich: Vertrauen in die Bank haben. Der Rest ist Geschichte ... nun, nicht ganz.

Die Zusammenhänge sind offensichtlich. Und sie haben dazu geführt, dass Banken in einem umfangreichen Netz von Regeln und Restriktionen eingebunden sind, die alle möglichen Vorschriften und Regulatorien beinhalten, die regelmässig kontrolliert werden. Immerhin hat all das aber nicht verhindert, dass beispielsweise in der Savings & Loan-Krise in den 80er-Jahren in den USA über 1000 Banken ihre Bilanz haben deponieren müssen. Dass in der Schweiz Anfang der 90er- Jahre die Spar- und Leihkasse Thun untergegangen ist und einzelne Kantonalbanken übernommen werden mussten, und schliesslich im Jahr 2023 die Credit Suisse in die Arme der UBS geschupft werden musste.

Die Symptome waren überall die gleichen: Das nicht voraussehbare Verhalten der involvierten Akteure. Wenn ein Grossteil der kurzfristigen Spargelder unserer Bank – was immer auch die Gründe sein mögen – von individuell völlig rational handelnden Kunden abgezogen werden («rette sich wer kann»), entsteht eine Dynamik, welche die Bankbilanz sprengt.

Wie wir aus der Geschichte der Bankkrisen wissen, kann das unglaublich schnell gehen. Da nützen Statements von VR-Präsidenten, Regulierern oder wem auch immer, nichts mehr.

Es ist «Matthäi am Letzten». Die Frage ist nur noch, wie man die Geschichte vernünftig abwickelt – wenn man denn kann. Das heisst, wenn unsere Spar- und Leihkasse nicht eine Grösse hat, die man ohne dramatische nationale und/oder internationale volks- und finanzwirtschaftliche Konsequenzen gar nicht mehr abwickeln kann. Sprich: Wenn unsere S&L nicht «too big to fail» ist.

Nun sollten zur Wahrscheinlichkeit solcher Bank-Runs keine Illusionen haben. Die Geschichte der Finanzkrisen der letzten 200 Jahre zeigt: Solange wir einforderbare Eigentumsrechte an unseren Vermögenswerten haben und wir individuell rationales Verhalten im Geldbereich zulassen, wird es Bank-Runs geben. Wie gut die Bilanz einer einzelnen Bank in einem bestimmten Moment auch immer aussehen mag. Das S&L-Modell ist systemisch instabil.

Die Konsequenz liegt auf der Hand: Wenn eine Bank «too big to fail» ist, dann ist sie «too big».

Das Investment Banking

Der grösste Teil des Geschäftsmodells einer Investmentbank ist ebenfalls systemisch und grundsätzlich instabil. Dabei muss man aufpassen bei der Definition des Investment Bankings, weil es sehr viele Facetten hat. Der Beratungsteil für Finanzierungen, Fusionen und Akquisitionen, Börsengänge etc. schliessen wir hier bei unseren Überlegungen aus.

Aber alles, was mit dem Handel von Wertpapieren, Währungen, Commodities, Derivaten, Derivaten von Derivaten, etc. zu tun hat und im Zweifelsfall auf der Bilanz der Bank sitzt, kann grundsätzlich toxisch werden. Fakt ist nämlich, dass es auf dieser Welt keinen Markt gibt – ich wiederhole: keinen – der nicht völlig austrocknen, sprich, völlig illiquid werden kann.

Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass man bei statistischen Analysen dieser Märkte immer wieder ziemlich harmlos von «Fat Tails» – Ausreissern bei den Renditeverteilungen – spricht, diese einfach zur Kenntnis nimmt und sich bei «anderer Gelegenheit» damit beschäftigen will.

Nur sind diese Ausreisser eben oft Ausdruck der oben genannten Illiquiditäten. Und sie sind im Prinzip das einzig Relevante, wenn man sich über Risiken und deren Management Gedanken machen will.

Auch ist es nicht damit getan, dass man beim Bauen von Risiko-Management-Modellen oder bei der Modellierung von Finanzmarktprozessen von der Normalverteilung abgeht und statistisch/mathematische Modelle baut, die den Ausreissern Rechnung tragen. Wie komplex auch immer sie daherkommen.

Man muss das Faktum akzeptieren, dass ein Markt kein physikalisches Konstrukt mit deterministischen Strukturen oder einer vernünftigen Stochastik ist. Ein Markt ist ein soziales System, das sich selten im Gleichgewicht befindet und nicht zuletzt durch Feedbacks charakterisiert ist. Für das Management der dadurch entstehenden Risiken bestimmen aber vor allem die Ungleichgewichte und das Chaos die relevanten Fragen und nicht die «Normalität».

Mit dieser Aussage befinden wir uns wieder am gleichen Ort wie eingangs bei unserer Spar- und Leihkasse: Die Instabilitäten an diesen Märkten sind systemisch. Sie sind dem Verhalten der involvierten Akteure geschuldet, das grundsätzlich nicht modellierbar ist. Wir haben es mit anderen Worten nicht mit Risiko zu tun (das grundsätzlich modellierbar wäre), sondern mit reiner Unsicherheit. In dem Sinne sind alle Risiko-Management-Modelle, wie kompliziert auch immer sie im Einzelfall daherkommen, Schönwetter-Modelle, die im Zweifelsfall einem Praxistest nicht standhalten.

Die Geschichte ist voll von Beispielen: Begonnen in jüngerer Vergangenheit mit dem Aktien-Crash vom 19. Oktober 1987 über das LTCM-Debakel im September 1998 (mit Nobelpreisträgern aus dem Bereich der Finanztheorie, die für das Management der Risiken mit verantwortlich zeichneten), dem Flash Crash vom Mai 2010 bis hin zu den Short Squeezes und den GameStop-Spielereien im Frühjahr 2021. Die Aufzählung ist beispielhaft und natürlich unvollständig.

Es ist kein Zufall, dass die Richterskala zur Amplitudenmessung von Erdbeben nach oben offen ist.[2] Man sollte endlich begreifen, dass die an den Finanzmärkten wirkenden Kräfte ebenfalls nach einer nach oben offenen Risikoskala rufen. Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass diese «nach oben offene Risikoskala» bereits für traditionelle Anlagen wie Aktien oder Obligationen gilt (mit deren Risiko man meint, noch einigermassen umgehen zu können), was passiert dann, wenn man die Bilanz mit Derivaten davon oder Derivaten von Derivaten «versüsst».

Oder man stelle sich vor, dass man den Handel dieser Geschichten irgendwelchen Algorithmen überlässt, die dann auch wieder völlig losgelöst von fundamentalen Grundsätzen im Zeug herumirren. Wir brauchen das hier nicht weiter zu spinnen. Denn eines ist völlig klar: Der Wertschriften- und Handelsbereich im Investment Banking ist systemisch instabil und im Zweifelsfall toxisch.

Zweifellos lässt sich damit richtig Geld verdienen. Aber dann bitte auf eigene Rechnung und eigenes Risiko. So, wie das jahrzehntelang der Fall war, als Investmentbanken mehrheitlich als private Partnerschaften organisiert waren.

Und eines ist auch klar: Wenn eine Investmentbank bzw. ein öffentliches Institut, das in diesem Bereich tätig ist, «too big to fail» wird, dann ist sie «too big». Die objektiven Risiken (Richterskala!) sind schlicht und ergreifend zu unbekannt, um sie der Gesellschaft zuzumuten. Wie klein auch immer die entsprechenden Teile des Unternehmens sind und wie konservativ auch immer sie sich im Einzelfall gebärden.

Die Universalbank

Und das Universalbankenmodell, das wir seit Jahrzehnten in der Schweiz pflegen? Tönt harmlos. Reduzieren sich nicht die Risiken, weil ja in beide Geldmodelle diversifiziert wird und Diversifikation die Risiken reduziert?

Ganz im Gegenteil: Die Risikopotenziale multiplizieren sich. Der Untergang der Credit Suisse zeigt dies beispielhaft: Irgendeinmal haben die Risiken des Investment Banking den «Bodensatz» der Spargelder im Spar- und Leihbereich in Bewegung versetzt. Der Rest ist Geschichte.

Deswegen auch hier – und hier erst recht: Wenn eine Universalbank «too big to fail» ist, dann ist sie «too big». Ein Untergang (Credit Suisse) und eine Nahtod-Erfahrung (UBS) in den letzten 15 Jahren sollten als Erfahrung reichen.


[1] Der geneigte Leser möge bitte die einfache Bilanzstruktur der hier beschriebenen Bank verzeihen. Mir ist klar, dass es Risikomanagement-Möglichkeiten gibt, um das Problem abzufedern. Aber nicht, um es loszuwerden. Die Beschreibung hat nur illustrativen Charakter.

[2] Die Aussage ist nicht ganz präzis: die Skala geht eigentlich von 1-10. Allerdings handelt es sich um eine logarithmische Skala, d.h. dass jeder Punkt auf der Skala eine Verzehnfachung des letzten Punktes bedeutet.

Erwin W. Heri

Erwin W. Heri ist Professor für Finanztheorie an der Universität Basel und am Swiss Finance Institute in Zürich. Neben seinen universitären Mandaten war er früher als Chief Investment Officer beim früheren Schweizerischen Bankverein (UBS), als Generaldirektor und Group CFO bei der Winterthur Versicherungsgruppe und als Chief Investment Officer bei Credit Suisse Financial Services tätig. Während rund zehn Jahren leitete er danach die Privatbankengruppe Valartis Group. Er ist Autor einer Reihe von Büchern aus dem Finanz- und Anlagebereich. Heri ist Gründer von Fintool, einer videobasierten Internetplattform für Finanzausbildung.
Erwin W. Heri ist Professor für Finanztheorie an der Universität Basel und am Swiss Finance Institute in Zürich. Neben seinen universitären Mandaten war er früher als Chief Investment Officer beim früheren Schweizerischen Bankverein (UBS), als Generaldirektor und Group CFO bei der Winterthur Versicherungsgruppe und als Chief Investment Officer bei Credit Suisse Financial Services tätig. Während rund zehn Jahren leitete er danach die Privatbankengruppe Valartis Group. Er ist Autor einer Reihe von Büchern aus dem Finanz- und Anlagebereich. Heri ist Gründer von Fintool, einer videobasierten Internetplattform für Finanzausbildung.