Meinung

Virtual first

Die virtuelle Realität wird immer besser. Dereinst werden wir erst virtuell testen, bevor wir real entscheiden.

Karin Frick
Drucken

Freiwillig oder notgedrungen: Wir verbringen immer mehr Zeit zu Hause am Bildschirm und damit auch in virtuellen Realitäten. Die zum Glück immer besser werden.

Die Coronakrise, die uns zur Selbstisolation zwingt, wird diese Entwicklung beschleunigen. Videokonferenzen und Online-Shopping sind zunehmend normal, aber sie sind immer noch zweidimensional. Die dritte Dimension der digitalen Realität funktioniert bisher erst in Nischen und nur mit aufwändiger Apparatur. Das könnte sich bald ändern, denn wir werden auch nach dem Ende der Coronakrise vermehrt auf Distanz zusammenkommen und -arbeiten. Einerseits weil es sicherer ist und das Reisen vermutlich noch längere Zeit eingeschränkt bleibt. Andererseits weil es billiger ist.

Arbeiten in virtuellen Räumen ist in einzelnen Branchen schon heute Realität – zum Beispiel im Industrie-Design bei der Entwicklung von Hubschraubern. Gemäss dem amerikanischen Helikopterhersteller Bell dauerte die Konstruktion eines Hubschraubers bisher fünf bis sieben Jahre. Innerhalb dieses Zeitraums wurden in der Regel mehrere Iterationen zwischen Entwurfszeichnungen, Pilottests und Fokusgruppen gemacht. Dank Einsatz von VR-Technologie habe die Entwicklung des neuen Bell FCX-001 nun auf sechs Monate verkürzt werden können.

Telekonferenzen werden zum Computerspiel

Auch Immobilienmakler brauchen nicht zwingend Büros. Bei ExpReality etwa, einer Cloud-basierten, börsenkotierten Immobiliengesellschaft, arbeiten mehr als 27’000 Makler in einem virtuellen Campus zusammen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Videokonferenzen, wo die Teilnehmer sich nur mit Bild und Ton zuschalten, verfügen alle Mitarbeiter von ExpReality über ihren persönlichen Avatar, also einen digitalen Stellvertreter.

Mit ihm können sie sich auf dem virtuellen Firmengelände bewegen und an Meetings teilnehmen. Mit dem Avatar wird die Telekonferenz quasi zum Computerspiel, man ist beweglicher, kann vorne stehen oder in der hintersten Reihe sitzen, verfügt über zusätzliche intuitive Ausdrucksmöglichkeiten und kann etwas direkt an einem virtuellen Objekt demonstrieren (zum Beispiel Möbel verschieben). Auch Bewerbungsgespräche und Weiterbildungen finden in den virtuellen Räumen der Immobilienfirma statt – die ihr Geld ironischerweise immer noch mit dem Handel von realen Immobilien verdient.

Noch stehen wir am Anfang, doch eine neue Generation von Virtual-Reality-Meeting-Plattformen wie zum Beispiel Spatial, Engage, VirBELA, Arthur oder Run the World lässt ahnen, was in Zukunft möglich sein wird. Zurzeit dienen solche virtuellen Sitzungszimmer hauptsächlich als billiger und bequemer Ersatz für physische Zusammenkünfte wie Business-Meetings, Konferenzen und Unterricht. Und sollte einem zwischendurch die Decke auf den Kopf fallen, kann man auch schnell mal verreisen mit VR-Apps wie National Geographic Explore oder World Traveler VR.

Fliegen wie ein Vogel

Längerfristig wird uns nicht nur der Ersatz von Büros, Konferenz- und Schulungsräumen oder Städtereisen in virtuelle Welten verpflanzen, sondern die Erweiterung des Möglichkeitsraums. Denn in den virtuellen Welten können wir Dinge ausprobieren, die wir in der realen Welt nicht tun könnten, etwa wie ein Vogel fliegen. Oder die wir nicht tun würden, weil sie gefährlich oder verboten sind.

Virtual Reality eröffnet ganz neue Erlebnisräume, indem die Welt hinter dem Bildschirm quasi begehbar wird und die Intensität der Erfahrung von der Realität kaum mehr unterscheidbar. Die Distanz zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten löst sich mehr und mehr auf, das Hirn wird ausgetrickst, und man wird Teil der Ereignisse in der virtuellen Welt.

Virtuelle Realitäten werden nach und nach die Computer-Interfaces, wie wir sie heute kennen, ersetzen. Statt mit zweidimensionalen Bildern und Symbolen werden wir mit dreidimensionalen Objekten interagieren. Diese simulieren die physische Welt, erschaffen aber gleichzeitig auch neue Realitäten, deren Grenze nur unsere Phantasie ist.

Ein singender Avatar

Je mehr Menschen die Virtuellen Realitäten nutzen, umso vielfältiger und komplexer werden sie und damit auch die digitalen Stellvertreter und Kunstfiguren, mit denen wir uns in diesen neuen Welten bewegen.

Die kanadische Popmusikerin Grimes zeigt, wohin die Entwicklung geht. Für ihr neues Album «Miss Anthropocene» hat sie eine digitale Version von sich selbst entworfen. Grimes hofft, dass sie als Kunstfigur viel mehr Möglichkeiten zum Experimentieren hat. Und dass sie ihre Identität frei von körperlichen Einschränkungen immer wieder radikal neu erfinden kann, ohne dabei verrückt zu werden.

In einem Interview mit dem britischen Magazin «The Face» meinte sie, dass es ihr der Avatar erlaube, aus dem Rampenlicht herauszutreten und in die Rolle zu schlüpfen, in der sie sich wohler fühle: CEO von Grimes™. Mit ihrem digitalen Selbst könne sie auch während der Schwangerschaft auftreten, als Musikerin und Model gleichzeitig auf mehreren Bühnen tanzen und auch einfacher von zu Hause aus arbeiten, wenn das Kind da sei.

Künftig wird zuerst virtuell getestet

Zwar hängen wir an der physischen Welt, brauchen physische Nähe, bevorzugen Nahrung, die vom Bauern aus der Region kommt und nicht aus dem Labor, und wir joggen lieber im Wald als auf dem Laufband. Das wird sich auch nicht ändern, die Sehnsucht nach Natur pur und «Rewilding» wird sogar wachsen.

Doch bevor wir in die physische Welt eintreten, unsere Ideen verwirklichen und Entscheide treffen, werden wir sie immer öfter zuerst einmal in der virtuellen Realität testen wollen. Also erst eine Telekonsultation, bevor wir zum Arzt gehen. Oder das neuste It-Piece zuerst im digitalen Mode-Shop von Carlings anprobieren und auf Instagram vorführen, bevor es produziert wird. Was in der virtuellen Welt nicht funktioniert, wird nicht realisiert.

Karin Frick

Karin Frick ist Mitglied der Geschäftsleitung des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI), wo sie auch das Forschungsteam leitet. Ihr Spezialgebiet sind Trends und Gegentrends in Wirtschaft, Gesellschaft und Konsum. Seit ihrem Wirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen befasst sie sich mit Zukunftsthemen, gesellschaftlichem Wandel, Innovation und Veränderungen von Menschen und Märkten. So war sie Chefredaktorin von «GDI Impuls» und Geschäftsführerin der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung (swissfuture).
Karin Frick ist Mitglied der Geschäftsleitung des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI), wo sie auch das Forschungsteam leitet. Ihr Spezialgebiet sind Trends und Gegentrends in Wirtschaft, Gesellschaft und Konsum. Seit ihrem Wirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen befasst sie sich mit Zukunftsthemen, gesellschaftlichem Wandel, Innovation und Veränderungen von Menschen und Märkten. So war sie Chefredaktorin von «GDI Impuls» und Geschäftsführerin der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung (swissfuture).